Dokumente zum Zeitgeschehen

»Das israelische Militär hat Kriegsverbrechen begangen«

Zusammenfassung der Ergebnisse der außerordentlichen Sitzung des Russell-Tribunals zu Gaza, Oktober 2014

1. Als die Bilder der erschreckenden Realität von Tod, Zerstörung und Verzweiflung, der die Bürgerinnen und Bürger Gazas im Juli und August ausgesetzt waren, ausgestrahlt wurden, erfasste Menschen in aller Welt ein tief sitzendes Gefühl von Empörung, Zorn und Abscheu. Allzu lange schon und ohne, dass es irgendwie geahndet würde, werden von der israelischen Besatzungsmacht schwere Menschenrechtsverletzungen und Verbrechen am palästinensischen Volk begangen. Die Besatzung, die Blockade und die Belagerung, die man über das Territorium von Gaza verhängt hat, erfüllen an sich schon den Straftatbestand der kollektiven Bestrafung, aber der jüngste Konflikt bedeutet ganz klar eine Intensivierung dieser Politik, die Zivilbevölkerung kollektiv zu bestrafen und zu terrorisieren. Die Operation „Protective Edge“ war nicht nur der dritte größere militärische Angriff auf Gaza in sechs Jahren, sie war auch gekennzeichnet durch eine deutliche Steigerung, was das Ausmaß, die Schwere und die Dauer der Aggression betrifft. Es war Israels schwerster Angriff auf den Gazastreifen seit Beginn seiner Besatzung der palästinensischen Gebiete im Jahr 1967. In Anbetracht dieses zyklisch sich wiederholenden verheerenden Musters der Gewaltanwendung und angesichts der Wahrscheinlichkeit seiner Fortsetzung in der Zukunft, waren die Mitglieder des Tribunals überzeugt, dass es notwendig sei, den Menschen in Gaza eine Stimme zu geben und deutlich zu machen, dass jetzt unverzügliches Handeln dringend geboten ist. Das Russell-Tribunal zu Palästina hofft, als eine Stimme des Gewissens zu fungieren und Maßstäbe zur Beurteilung der Verantwortlichkeit für diese entsetzlichen und unmenschlichen Taten an die Hand zu geben.

2. Während des 50 Tage dauernden Konflikts wurden von den israelischen Streitkräften im Rahmen eines anhaltenden Bombardements aus der Luft und während der Bodenoffensive etwa 700 Tonnen Sprengstoff eingesetzt, das heißt ungefähr 2 Tonnen pro Quadratkilometer. Das Resultat dieser Aktionen: 2.188 Palästinenser getötet, davon mindestens 1.658 Zivilisten; 11.231 Zivilisten verletzt; Schäden an 18.000 Wohneinheiten (13% des in Gaza verfügbaren Wohnraums wurden vollständig oder teilweise zerstört); die interne Vertreibung von etwa 110.000 Zivilisten; die vollständige Zerstörung von acht medizinischen Einrichtungen und Beschädigung vieler anderer (so wurden von den 32 Krankenhäusern 17 beschädigt und sechs mussten ganz geschlossen werden); massive Zerstörung der Einrichtungen für die Wasserversorgung, so dass 450.000 Zivilisten vom Zugang zu kommunaler Wasserversorgung abgeschnitten waren; die Zerstörung des einzigen Kraftwerks in Gaza, wodurch der komplette Gazastreifen täglich für zirka 20 Stunden ohne Strom war, was erhebliche negative Folgen hatte für das Abwassermanagement, für die Versorgung mit Nahrungsmitteln und für die Möglichkeiten der medizinischen Einrichtungen zur Behandlung der Verwundeten und Binnenflüchtlinge; zahlreiche Angriffe auf von der UNO unterhaltene und kontrollierte Einrichtungen und deren Zerstörung, einschließlich dreier UNRWA-Schulen, die als vorübergehende Flüchtlingsunterkunft genutzt wurden; vollständige Zerstörung von 128 Gewerbebetrieben und ein Schaden an landwirtschaftlich genutztem Boden und Viehbestand in Höhe von schätzungsweise 550 Millionen US Dollar; Angriffe auf kulturelles und religiöses Eigentum; außerdem hat der Konflikt dazu geführt, dass etwa 373.000 Kinder direkte professionelle psychologische Hilfe benötigen. Der Angriff war dermaßen ausgedehnt und systematisch, dass nach Schätzung der Palästinensischen Autonomiebehörde [1] 7,8 Milliarden US Dollar erforderlich sein werden, um den an der privaten und öffentlichen Infrastruktur angerichteten Schaden zu beheben. 

3. Das Russell-Tribunal zu Palästina [englisch: Russell Tribunal on Palestine/ RToP] ist ein internationales von Bürgerinnen und Bürgern gebildetes Tribunal des Gewissens, das als Antwort auf die Forderungen der Zivilgesellschaft (Nichtregierungsorganisationen, Gewerkschaften, Wohltätigkeitsorganisationen, Glaubensgemeinschaften) gegründet wurde, um auf die öffentliche Meinung erzieherisch Einfluss zu nehmen und Druck auf die Entscheidungsträger auszuüben. Das RToP ist durchdrungen vom selben Geist wie das von dem bedeutenden Gelehrten und Philosophen Bertrand Russell ins Leben gerufene Tribunal zu Vietnam (1966-1967) und bekennt sich zu denselben strikten Verfahrensregeln. Das Tribunal agiert als Gericht des Volkes. Sein Bezugsrahmen ist das Völkerrecht (einschließlich der internationalen Menschenrechtsnormen, des humanitären Völkerrechts und des Völkerstrafrechts).

4. Im Anschluss an die israelischen Militäroperationen im Gazastreifen im Juli/August 2014 wurde entschieden, umgehend das RToP zu einer außerordentlichen Sitzung einzuberufen, um zu untersuchen, ob und inwieweit die in Gaza begangenen Taten gegen das Völkerrecht verstoßen haben. Im Verlauf dieser außerordentlichen Sitzung hörte das RToP sechzehn einzelne Zeugen und erhielt so Augenzeugenberichte und Einschätzungen von Experten zu einer Reihe von Tatbeständen mit direktem Bezug zu den Ereignissen in Gaza im Sommer 2014. Die Jurymitglieder des Tribunals wurden durch das von den Zeugen vorgelegte peinigende Beweismaterial zutiefst bewegt und erschüttert. Im Anschluss an die Anhörungen und die Beratungen der Jury am 24. September 2014, werden im Folgenden die Ergebnisse der außerordentlichen Sitzung des Russell-Tribunals zu Palästina zusammengefasst.

I. Die Anwendung von Gewalt                                                                                                           

5. Israel ist die Besatzungsmacht des Gazastreifens. Als Besatzungsmacht kann Israel nicht das vom Völkerrecht zugestandene Recht auf Selbstverteidigung für sich geltend machen, wenn es in Gaza Gewalt anwendet. Israel reagierte mit der Gazainvasion nicht auf einen bewaffneten Angriff der Streitkräfte eines anderen Staates. Es handelte vielmehr als eine Besatzungsmacht, die Gewalt anwendet, um ihre Kontrolle über das besetzte Territorium und ihre Herrschaft über die besetzte Bevölkerung aufrechtzuerhalten. Nach dem Völkerrecht haben Völker, die unter kolonialer Herrschaft oder fremder Besatzung leben, ein Recht auf Widerstand gegen die Unterdrückung. Israels Handlungen sind die einer Besatzungsmacht, die Gewalt gebraucht, um ihre Besatzung aufrechtzuerhalten und Widerstand zu unterdrücken, und nicht die eines Staates, der auf Gewalt zum Zweck rechtmäßiger Selbstverteidigung zurückgreift.                                                       

Die anhaltende Besatzung palästinensischer Gebiete und die permanente Blockade des Gazastreifens sind dagegen selbst Akte von Aggression, wie sie von der Vollversammlung der Vereinten Nationen in Resolution 3314 von 1974 (Artikel 3 a und c) definiert wurden. Das Tribunal stellt fest, dass ein Aggressor gegenüber dem Widerstand gegen seine Aggression kein Recht auf Selbstverteidigung für sich in Anspruch nehmen kann. Die Operation „Protective Edge“ war Teil der Maßnahmen zur Durchsetzung der Besatzungsherrschaft und der fortgesetzten Belagerung des Gazastreifens. Diese Belagerung stellt eine kollektive Bestrafung dar und ist damit ein Verstoß gegen Artikel 33 der Vierten Genfer Konvention.

II. Kriegsverbrechen

6. Die Beweise, die durch die vor dem RToP erschienenen Zeugen vorgelegt wurden, erfassen nur einen winzigen Teil dessen, was während der Operation „Protective Edge“ vorgefallen ist. Aber in Verbindung mit der ausführlichen öffentlich zugänglichen Dokumentierung der israelischen Angriffe führen diese Zeugenaussagen unausweichlich zu dem Schluss, dass das israelische Militär während der Operationen Kriegsverbrechen begangen hat. Die israelischen Streitkräfte haben zwei grundlegende Prinzipien des humanitären Völkerrechts missachtet – zum einen die Notwendigkeit, genau zwischen zivilen und militärischen Zielen zu unterscheiden; und zum anderen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, d.h. dass der Einsatz militärischer Gewalt in einem angemessenen Verhältnis zum Ziel der Operation stehen muss. Durch das Ausmaß der Bombardierung von Gaza und des Granatbeschusses ziviler Areale samt Krankenhäusern, Schulen und Moscheen hat Israel gegen diesen Grundsatz verstoßen. Schätzungsweise 700 Tonnen Sprengstoff wurden durch das israelische Militär im Verlauf dieser Operation eingesetzt – im Unterschied zu den 50 Tonnen während der Operation „Cast Lead“ 2008-2009. Durch dieses Bombardement wurden Zivilisten in Gaza terrorisiert. Ihnen wurde außerdem das Recht verweigert, aus dem Kriegsgebiet zu fliehen, um Schutz und Unterstützung als Kriegsflüchtlinge zu suchen – ein Bruch des Artikels 13 (2) der UN-Deklaration der Menschenrechte, der jedem das Recht, sein Land zu verlassen, verbürgt.

7. Zeugenaussagen vor dem Tribunal legen nahe, dass die durch die israelischen Streitkräfte begangenen Kriegsverbrechen die folgenden Verbrechen einschließen (aber nicht auf sie beschränkt sind):

- vorsätzliches Töten (einschließlich willkürlicher Hinrichtungen durch Bodentruppen und Tötung von Zivilisten durch Scharfschützen rund um die vom israelischen Militär in Gaza besetzten Häuser);

- umfangreiche, durch keine militärischen Erfordernisse gerechtfertigte Zerstörung von Eigentum (einschließlich der Zerstörung lebensnotwendiger Einrichtungen, insbesondere des einzigen funktionierenden Kraftwerks in Gaza, und die offensichtlich systematisch unter Beschuss genommene Infrastruktur für Wasserversorgung und Abwasserentsorgung);

- vorsätzlich gegen die Zivilbevölkerung und zivile Einrichtungen gerichtete Angriffe (einschließlich eines großflächigen mutwilligen Artilleriebeschusses von dicht bevölkerten zivilen Arealen und deren Bombardierung aus der Luft );

- vorsätzlich durchgeführte Angriffe, obwohl man wusste, dass solche Attacken auch den Verlust von Leben und Gesundheit von Zivilisten mit sich bringen würden oder Schäden an zivilen Objekten oder großflächige, langfristige schwere Umweltschäden verursachen würden, die „eindeutig in keinem Verhältnis zu dem insgesamt erwarteten konkreten und unmittelbaren militärischen Vorteil stehen“[2], selbst wenn durch Hamas Raketen von zivilen Standorten abgefeuert wurden (es handelt sich also um die Anwendung unverhältnismäßiger Gewalt, eine Strategie, die vom israelischen Militär explizit so formuliert und praktiziert wird in Form seiner „Dahiya Doktrin“, nach der ganz bewusst unverhältnismäßige Gewalt eingesetzt werden soll, um die Zivilbevölkerung für Aktionen von Widerstandsgruppen oder politischen Führern kollektiv zu bestrafen).

- vorsätzlich gegen Gebäude, die der Religionsausübung oder der Erziehung dienen, gerichtete Angriffe (einschließlich wiederholter und bewusster Angriffe auf UN Schulen, die als Flüchtlingsunterkunft für Zivilisten dienten)

- vorsätzlich gegen Krankenhäuser, Sanitäts-Einheiten und -Personal gerichtete Angriffe (einschließlich des direkten Beschusses von Krankenhäusern, was zur Tötung und erzwungenen Verlegung verwundeter Zivilisten führte, sowie erkennbarer Muster des Angriffs auf deutlich gekennzeichnete Sanitätseinheiten und Ambulanzmitarbeiter in Ausübung ihrer Pflicht).

- Ausnutzung der Anwesenheit ziviler oder anderer geschützter Personen, um „Kampfhandlungen von gewissen Punkten, Gebieten oder Streitkräften fernzuhalten“[3] (d.h. die Verwendung palästinensischer Zivilisten als menschliche Schutzschilde);

- Verwendung von Waffen, Projektilen, Kriegsmaterial und Methoden der Kriegsführung, die von solcher Art sind, dass sie überflüssige Verletzungen oder unnötiges Leiden verursachen oder die unterschiedslos militärische und zivile Ziele treffen (einschließlich flechette-Granaten, DIME-Geschosse, thermobaric-Munition („Teppich“-Bomben) und Munition mit abgereichertem Uran/depleted uranium);

- die Anwendung von Gewalt unter Verletzung der „Gesetze und Gebräuche des Krieges“ [4], um Furcht und Schrecken unter der Zivilbevölkerung zu verbreiten (einschließlich des „Anklopfens auf dem Dach“, wobei kleine Bomben als Warnsignal und Ankündigung nachfolgender größerer Bombardements auf palästinensische Häuser abgeworfen wurden).

8. Von israelischen Verantwortlichen wurde in der Öffentlichkeit behauptet, der palästinensische Widerstand habe während der Operation „Protective Edge“ mit seinen Angriffen auf Zivilisten gezielt und habe Waffen verwendet, mit denen man nicht zwischen militärischen und zivilen Zielen unterscheiden kann. Die dem Tribunal zugänglichen Informationen besagen, dass 66 israelische Soldaten und 7 Zivilisten in Israel durch bewaffnete palästinensische Gruppen getötet, sowie 469 Soldaten und 837 Zivilisten verwundet wurden. Zu den palästinensischen Raketen gibt es allerdings auch gegensätzliche Informationen und unklare Statistiken aus offiziellen israelischen Quellen. Der israelische Militärzensor hat eine Nachrichtensperre (gag order) verfügt. Ohne die Kooperation der Verantwortlichen in Israel ist es außerordentlich schwierig festzustellen, wo die Raketen niedergingen. Die israelischen Verantwortlichen haben die Einladung, vor dem Tribunal zu erscheinen, um ihre Sache zu vertreten, ausgeschlagen. Dessen ungeachtet betont das RToP , dass jede bewaffnete Gruppierung, die ihre Feuerkraft auf eine Zivilbevölkerung richtet, damit prinzipiell gegen das Kriegsrecht verstößt. Wo auch immer durch derartige Angriffe der Tod von Zivilisten verursacht wird, haben die Verantwortlichen möglicherweise Kriegsverbrechen begangen. Die Verwendung von Waffen, mit denen man nicht zwischen einem zivilen und militärischen Ziel unterscheiden kann, ist an sich schon ein Verbrechen.

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Den vollständigen Bericht finden Sie hier (pdf).