Dokumente zum Zeitgeschehen

»Deutschsein kann erlernt werden«

Studie zur Identität der Bevölkerung des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung, 3.12.2014

Narrationen des Deutschseins

Patriotismus und emotionale Verbundenheit sind hoch. Die Bevölkerung in Deutschland hat ein positives Gefühl zu ihrem Land. Eine deutliche Mehrheit (85 Prozent) sagt: „Ich liebe Deutschland“. Ausgangspunkt dieses positiven Selbstbildes ist die Wiedervereinigung. Sie stellt für 49 Prozent der Bevölkerung das zentrale historische Ereignis dar, welches Deutschland heute am besten beschreibt. Ereignisse im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkrieg sind hingegen kaum mehr prägend für das Selbstbild (16 Prozent), und der Holocaust wird nur von 0,5 Prozent der Befragten genannt. Das widerspricht der jahrelang zementierten Wahrnehmung, Deutschland würde sich nur in einer negativen Identität wahrnehmen und könne dadurch nicht positiv mit seiner nationalen Identität umgehen. Der positive Bezug auf nationale Identität ist bei AnhängerInnen aller politischer Parteien zu finden, wobei die Zustimmungswerte bei WählerInnen der Grünen und der LINKEN etwas geringer ausfallen.

Kaum Unterschiede zwischen Deutschen mit und Deutschen ohne Migrationshintergrund bei der Verbundenheit. Auch bei den Deutschen mit Migrationshintergrund ist die Verbundenheit mit Deutschland hoch: 81 Prozent geben an, Deutschland zu lieben und 77 Prozent fühlen sich deutsch. Fast jedem zweiten Deutschen mit Migrationshintergrund (47 Prozent) ist es wichtig, als deutsch gesehen zu werden – genauso viel wie bei den Deutschen ohne Migrationshintergrund (47 Prozent). Wir sehen hier deutlich, dass sich die nationalen Identitätsbezüge wandeln und ausweiten – immer mehr Menschen nehmen für sich in Anspruch, deutsch zu sein, auch wenn ihre Namen anders klingen und ihre Vorfahren nicht immer hier lebten. Dies ist eine grundlegend neue Situation in Bezug auf die Definition nationaler Identität.

Kriterien des Deutschseins offen und exklusiv zugleich. Deutschsein kann heutzutage erlernt und erworben werden, im Vergleich dazu spielen angeborene Merkmale eine geringere Rolle: Wichtig ist vor Allem die Fähigkeit, deutsch sprechen zu können (97 Prozent) sowie der Besitz der deutschen Staatsangehörigkeit (79 Prozent). Trotzdem finden immerhin 37 Prozent der Bevölkerung weiterhin, dass deutsche Vorfahren wichtig sind, um Deutscher sein zu können. Und über 40 Prozent der Bevölkerung sind der Meinung, man müsse da- für akzentfrei deutsch sprechen. Dieses sehr enge Verständnis von ‚korrekter Sprache‘ als nationalem Kriterium offenbart eine fehlende Anerkennung der Realitäten einer Einwanderungsgesellschaft, in der die Dynamik der Veränderungen auch die Sprache vielfältiger werden lässt. Die Narrationen des Deutschseins bleiben an zentralen Punkten also immer noch exklusiv. Dies zeigt sich auch deutlich daran, dass 38 Prozent der Bevölkerung der Meinung sind, wer ein Kopftuch trage, könne nicht deutsch sein.

Exklusionen des Deutschseins – Muslime als Gegenüber und Gegenbild

Gleichwertigkeit und Zugehörigkeit werden in Frage gestellt. Exkludierende Vorstellungen finden ihren Ausdruck beispielhaft in Stereotypen gegenüber Muslimen als der größten religiösen Minderheit in Deutschland: Mehr als ein Viertel (27 Prozent) der Befragten denkt, dass Muslime aggressiver seien als sie selber, fast ein Drittel (30 Prozent) glaubt nicht, dass Muslime genauso bildungsorientiert seien wie ihre eigene Gruppe. Als eigene Gruppe wird auf Nachfrage auffallend oft (ca. 40 Prozent) „wir Deutschen“, „die deutsche Bevölkerung“, „die deutsche Gesellschaft“ oder ähnliches genannt. Muslimisch und deutsch wer- den dabei überwiegend als Gegenkategorien wahrgenommen und Musliminnen und Muslimen somit aus dem „deutschen Wir“ herausdefiniert. Es sind jedoch nicht immer dieselben Befragten, die ausgrenzend antworten, was dafür spricht, dass die Anzahl der Menschen, die zumindest einzelne negative Stereotype von Muslimen hat, noch deutlich größer ist. Zwar kann man hieraus kein konsistent islamfeindliches Weltbild ableiten, es verdeutlicht aber ein breites Spektrum an negativen Einstellungen gegenüber Musliminnen und Muslimen. Selbst wenn diese Einstellungen nicht notwendigerweise zu Handlungen führen müssen: Die Teile der Bevölkerung, die über solche Einstellungen verfügen, stellen einen Resonanzboden und wahrgenommenen gesellschaftlichen Rückhalt für die in letzter Zeit zunehmenden Anschläge auf Moscheen und Hassattacken auf muslimische EntscheidungsträgerInnen dar.

Abstrakte Anerkennung hoch – aber wenn es konkret wird, dann fehlt die Bereitschaft zur Gewährung von Anerkennung, Teilhabe und Partizipationsrechten. Die nicht-muslimische Bevölkerung hat eine ambivalente Haltung zu Muslimen als sichtbareren politischen Akteuren: Eine deutliche Mehrheit (67 Prozent) findet, dass es das gute Recht von Muslimen in Deutschland ist, Forderungen zu stellen und fast ebenso viele sagen, man sollte Muslimen mehr Anerkennung entgegenbringen. Ein Fünftel (20 Prozent) der Bevölkerung aber ist der Meinung, wenn Muslime Forderungen stellten, dann sei dies ein Zeichen von Unverschämtheit und 17 Prozent empfinden dies als Zeichen von Undankbarkeit. Die Ambivalenz findet ihren Ausdruck vor allem in den Haltungen zu politisch diskutierten Themen um strukturelle, kulturelle, sozial-räumliche und symbolische Anerkennung und Partizipation: So sind 69 Prozent der Bevölkerung für den islamischen Religionsunterricht. Gleichzeitig wollen aber 60 Prozent der Befragten die Beschneidung von Jungen verbieten. Beinahe die Hälfte aller Deutschen (49 Prozent) findet, dass Lehrerinnen das Tragen des Kopftuch nicht erlaubt sein sollte und 42 Prozent möchten den Bau von Moscheen einschränken.

Je relevanter die nationale Verbundenheit, desto deutlicher die Abwehr von Muslimen. Dort, wo die nationale Identität einen hohen Stellenwert einnimmt, ist die Bereitschaft, Muslimen kulturell-religiöse, sozialräumliche oder symbolische Rechte vorzuenthalten, signifikant höher. So möchten jene 46 Prozent, für die es besonders „wichtig ist, als Deutsche/r gesehen zu werden“ zu 68 Prozent die Beschneidung verbieten, zu 55 Prozent den Moscheebau und zu 56 Prozent das Kopftuch einschränken. Bei jenen, bei denen die Wahrnehmung als deutsch keine Rolle spielt (53 Prozent), sind es hingegen wesentlich geringere Werte: Gegen Beschneidung 54 Prozent, gegen Kopftuch 43 Prozent und gegen Moscheebau 35 Prozent. Der Ausschluss aus dem kollektiven deutschen Narrativ findet somit nicht nur auf einer diskursiv-emotionalen Ebene statt, sondern hat Auswirkungen auf die Anerkennung, die Teilhabe und die Partizipationsmöglichkeiten von religiösen Minderheiten – in dem Falle Musliminnen und Muslimen und Muslimen.

Postmigrantisches Deutschsein: Wissen noch gering – aber Alltagskontakt weitet sich aus

Das Wissen über Muslime wird von der Mehrheit der Bevölkerung als gering eingeschätzt. In postmigrantischen Gesellschaften kommt es zwischen unterschiedlichen Bevölkerungs- gruppen zu verstärktem gegenseitigem Wissen, Wahrnehmung und Interaktion. Trotz- dem schätzen noch immer 67 Prozent der nicht-muslimischen Befragten ihr eigenes Wissen über den Themenkomplex Islam und Muslime gering ein und 69 Prozent über- schätzen den Anteil der Muslime an der Gesamtbevölkerung, der bei ca. 5 Prozent liegt. 23 Prozent von ihnen überschätzen ihn sogar stark und gehen davon aus, dass Muslime einen Bevölkerungsanteil von 21 Prozent und mehr ausmachen. Das Wissen über Muslime wird aus Fernsehen (44 Prozent) und Zeitungen/Zeitschriften (39 Prozent) gezogen, zu einem etwa gleich hohen Anteil (43 Prozent) allerdings auch aus Gesprächen mit Muslimen.

Mehr Kontakträume und häufiger Kontakt zu Musliminnen und Muslimen führen zu weniger stereotypen Einstellungen. Kontakte zwischen muslimischer und nicht-muslimischer Bevölkerung sind Teil des Alltags. Mehr als ein Drittel der Nicht-Muslime haben oft oder sehr oft Kontakt zu Musliminnen und Muslimen im Bezugsraum Arbeit, ein Fünftel hat sehr viel Kontakt im Freundes- und Bekanntenkreis. Es zeigt sich, dass Personen, die in mindestens zwei Bezugsräumen (bspw. Arbeit und Freundes-/Bekanntenkreis) oft oder sehr oft Kontakt zu Musliminnen und Muslimen haben, weniger stereotyp antworten als Personen die weniger oder gar keinen Kontakt haben.

Migrationsnarrative betreffen immer mehr Menschen – nicht nur jene mit Migrationshintergrund. Migrationsnarrative sind über familiale Bezugspunkte zunehmend in der deutschen Bevölkerung präsent. 35 Prozent der Bevölkerung geben an, selbst oder in der Verwandtschaft einen Migrationshintergrund zu haben.

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Die vollständige Studie finden Sie hier.