Dokumente zum Zeitgeschehen

»Der Bildungserfolg bleibt weiterhin stark von der sozialen Herkunft abhängig«

Chancenspiegel 2014 zur Chancengerechtigkeit der deutschen Schulsysteme, 11.12.2014

Faire Chancen nur durch Transparenz und gemeinsame Verantwortung

In Deutschland sind vornehmlich die Bundesländer für die Schulpolitik und die Rahmenbedingungen, unter denen Schulen arbeiten, verantwortlich. Der vorliegende Chancenspiegel fragt nun zum dritten Mal, inwiefern Schüler in den unterschiedlichen Ländern faire Chancen haben, gut ins Schulsystem integriert zu werden, zwischen den Schulformen wechseln zu können, fachliche Kompetenzen zu entwickeln und gute Abschlüsse zu erhalten. Hier zeigen sich seit dem ersten Chancenspiegel im Schuljahr 2009/10 erfreuliche Entwicklungen: Mehr Schüler haben Zugang zum ganztägigen Lernen, weniger Schüler brechen die Schule ohne Abschluss ab und mehr Schüler erreichen die (Fach-)Hochschulreife. Weniger erfreulich ist dagegen, dass es beim Ganztagsschulausbau nur langsam vorangeht und dass der Anteil der Schüler, die wegen ihres besonderen Förderbedarfs keine Regelschulen besuchen, stagniert. Diese Exklusion hat gravierende Auswirkungen, denn in Förderschulen erreichen nur die wenigsten einen Hauptschulabschluss. Und auch auf der größten Chancen-Baustelle tut sich wenig: Der Bildungserfolg, hier gemessen in Kompetenzen von Neuntklässlern in Mathematik, bleibt weiterhin stark von der sozialen Herkunft abhängig. Es gelingt Schulen in Deutschland also immer noch zu wenig, die herkunftsbedingten Benachteiligungen ihrer Schüler auszugleichen.

Bildungspolitik ist also vor allem Ländersache – aber sind die Wege zu mehr Chancengerechtigkeit im Schulwesen das auch? Der Chancenspiegel 2014 betrachtet zum ersten Mal auch die regionale, d. h. die gebietskörperschaftliche, Ebene der Kreise und kreisfreien Städte in den jeweiligen Bundesländern. In den Gerechtigkeitsdimensionen zeigen sich dabei große Unterschiede zwischen den Regionen innerhalb eines Bundeslandes, die uns in ihrem Ausmaß durchaus überrascht haben. Gerechte Chancen sind also nicht nur Ländersache; vielmehr spielt auch das Lernangebot vor Ort eine große Rolle. Deshalb brauchen wir eine starke Beteiligung der Kommunen bei der Schulentwicklung, die ihren Ausdruck in einer systematischen Zusammenarbeit zwischen Land und Kommunen finden sollte. In einigen Bundesländern, z.B. in Nordrhein-Westfalen, gibt es mit regionalen Bildungsnetzwerken bereits gute Ansätze. Und auch der Bund ist hier gefragt: Nur mit finanziellem und konzeptionellem Engagement wird zum Beispiel der für bessere Bildungschancen benötigte schnellere Ausbau guter Ganztagsschulen und guter inklusiver Schulen vorankommen.

Erneut hatten wir mit der Datenlage zu kämpfen. Dies führte auch dazu, dass die regionalen Analysen auf die Gerechtigkeitsdimensionen »Durchlässigkeit« und »Zertifikatsvergabe« begrenzt wurden. Systematische Daten zur Kompetenzentwicklung liegen regional nicht vor. Auch auf Länderebene werden hier Daten nur mit großen Zeitabständen erhoben. Wenn fairere Chancen kein Lippenbekenntnis bleiben sollen, brauchen wir für die Zukunft dringend umfassendere, differenziertere und bessere Transparenz. Nur wenn die Situationen vor Ort sichtbar gemacht und durch vertiefende Analysen erklärt werden, können wir verstehen, wo genau die Herausforderungen liegen – auf regionaler, kommunaler und einzelschulischer Ebene. Nur darauf aufbauend können wirklich zielführende Maßnahmen entwickelt und umgesetzt werden. Wenn das gelingt, können wir sicherstellen, dass Kinder und Jugendliche in ihren Schulen die Unterstützung erhalten, die sie brauchen.

Unser Dank gilt auch in diesem Jahr Prof. Dr. Wilfried Bos, Prof. Dr. Nils Berkemeyer und ihren Teams an den Universitäten Dortmund und Jena für die Erarbeitung des Chancenspiegels 2014. Die Ergebnisse der Analysen auf der Ebene von Bundesländern und erstmalig auch von Regionen zeigen uns einmal mehr, wie wichtig es ist, die Debatte um faire Bildungschancen in den deutschen Schulsystemen öffentlich zu führen. Und auch dem wissenschaftlichen Beirat des Chancenspiegels, den Prof. Dr. Rolf Becker, Prof. Dr. Isabell van Ackeren, Prof. Dr. Thomas Rauschenbach, Prof. Dr. Knut Schwippert, Prof. Dr. Horst Weishaupt, Prof. Dr. Ludwig Wigger und Prof. Dr. Vera Husfeldt bilden, danken wir herzlich für sein Engagement zur Qualitätssicherung des Instruments.

Wir hoffen, dass auch der Chancenspiegel 2014 einen Beitrag dazu leistet, die Öffentlichkeit und die Verantwortlichen in Bund, Ländern und Kommunen weiter für die Notwendigkeit eines verstärkten Engagements für mehr Chancengerechtigkeit in den Schulen zu sensibilisieren. Die Verständigung der Länder über gemeinsame Standards und Entwicklungsperspektiven ist dabei genauso wichtig wie die Gestaltung eines fairen Bildungsangebots vor Ort. Wenn dies gegeben ist, können wir es schaffen, jedem Kind unabhängig von seiner sozialen Herkunft gute Chancen auf die bestmögliche Entwicklung zu bieten und Teilhabe an der Gesellschaft zu sichern.

Dr. Jörg Dräger

Mitglied des Vorstands der Bertelsmann Stiftung

Ulrich Kober

Director Programm »Integration und Bildung« der Bertelsmann Stiftung

I Der Chancenspiegel im Überblick

1. Integrationskraft, Durchlässigkeit, die Förderung von Kompetenzen und die Vergabe von Schulabschlüssen sind zentrale Dimensionen für die Chancengerechtigkeit und Leistungsfähigkeit von Schulsystemen

Für Kinder und Jugendliche sind Bildungschancen Lebenschancen. Der Erfolg der deutschen Schulsysteme muss deshalb daran gemessen werden, wie gut es gelingt, jedem Kind unabhängig von sozialen und kulturellen Lebensbedingungen faire Chancen zur bestmöglichen Entwicklung der eigenen Potenziale zu bieten. Anders formuliert: Gute Schule muss chancengerecht und leistungsstark sein.

Der Chancenspiegel versteht Chancengerechtigkeit als die faire Chance zur freien Teilhabe an der Gesellschaft, die auch gewährleistet wird durch eine gerechte Institution Schule, in der Schülerinnen und Schüler aufgrund ihrer sozialen und natürlichen Merkmale keine zusätzlichen Nachteile erfahren, sowie durch eine Förderung der Befähigung aller und durch eine wechselseitige Anerkennung der an Schule beteiligten Personen. Diesem gerechtigkeits- und schultheoretisch hergeleiteten Verständnis folgend, bestehen aus Sicht des Schülers immer dann faire Chancen, wenn er integriert wird, zwischen Schulformen wechseln, seine Kompetenzen entwickeln und seine Schulzeit mit einem bestmöglichen Abschluss beenden kann.

Im Mittelpunkt der Analysen stehen deshalb im Chancenspiegel die vier Gerechtigkeitsdimensionen »Integrationskraft«, »Durchlässigkeit«, »Kompetenzförderung« und »Zertifikatsvergabe«. Wie bereits in den Vorjahren nimmt der Chancenspiegel für jede dieser vier Dimensionen anhand von bildungsstatistischen Einzelindikatoren (Daten aus den amtlichen Statistiken von Bund und Ländern oder aus Studien der empirischen Bildungsforschung) eine Bestandsaufnahme zu jedem Bundesland vor. Über alle vier Dimensionen hinweg werden insgesamt zwölf Einzelindikatoren überprüft.

Die Ergebnisse der Bundesländer werden in jedem einzelnen Indikator in drei Gruppen gebündelt: Die sogenannte obere Gruppe weist die vier Bundesländer aus, die im jeweiligen Indikator zu den chancengerechteren Ländern im innerdeutschen Vergleich zählen, die mittlere Gruppe umfasst die acht Länder, die in Bezug auf den jeweiligen Indikator im Mittelfeld landen, und in der unteren Gruppe schließlich finden sich die vier Bundesländer, die vergleichsweise stärkere Entwicklungsbedarfe aufweisen. Die Ergebnisse dieser Bestandsaufnahme lassen sich zu 16 Chancenprofilen verdichten. Diese dokumentieren für jedes Bundesland, in welcher der vier Dimensionen es im innerdeutschen Vergleich seine relativen Stärken und Entwicklungsbedarfe hat.

Der Chancenspiegel erscheint nach 2012 und 2013 nun zum dritten Mal und bezieht sich in der aktuellen Ausgabe 2014 auf bildungsstatistische Daten aus dem Schuljahr 2012/13. Im Rückblick auf die bisherigen Chancenspiegel kann damit eine Entwicklung der Bundesländer über einen Zeitraum von vier Jahren (Schuljahr 2009/10 bis 2012/13) nachgezeichnet werden. Ein Schwerpunkt der Analysen liegt in diesem Jahr auf den regionalen Unterschieden von fairen Bildungschancen innerhalb der Bundesländer: Ergänzend zu den Analysen auf Bundeslandebene werden verfügbare bildungsstatistische Daten auf der Ebene von Kreisen und kreisfreien Städten in den beiden Dimensionen »Durchlässigkeit« und »Zertifikatsvergabe« in den Blick genommen. Für die Dimensionen »Integrationskraft« und »Kompetenzförderung« liegen uns keine verlässlichen Daten auf Ebene aller 402 Kreise und kreisfreien Städte vor, sodass diese in den Analysen zu regionalen Unterschieden innerhalb der Bundesländer nicht betrachtet werden können.

Der Logik des Chancenspiegels folgend werden auch hier (mit Ausnahme einiger weniger Fälle) alle Kreise und kreisfreien Städte je Bundesland zunächst auf Ebene der Einzelindikatoren in die drei bekannten Gruppen (obere 25%, mittlere 50% und untere 25%) zusammengefasst und die Ergebnisse in einem zweiten Schritt auf der Ebene der Dimensionen verdichtet. Die Stadtstaaten werden mit den Millionenstädten München und Köln sowie mit weiteren elf Großstädten über 350.000 Einwohnern verglichen, weil sie sich in ihren strukturellen Merkmalen deutlich von Flächenländern unterscheiden.

Mit dieser Analyse zeigt der Chancenspiegel, wie stark sich die Bildungschancen für Schülerinnen und Schüler aus dem gleichen Bundesland je nach Wohnort bzw. Region unterscheiden.

Die vorgelegte Broschüre gibt einen Überblick über die zentralen Ergebnisse zu den Chancenprofilen der Bundesländer insgesamt und zu den Einzelindikatoren. Hinzu kommt eine kurze Zusammenfassung der Analysen zu den regionalen Unterschieden innerhalb der Bundesländer in den beiden Dimensionen »Zertifikatsvergabe« und »Durchlässigkeit«. Alle ausführlichen Ergebnisse, vor allem auch zu unseren regionalen Analysen, finden sich in der Langfassung des Chancenspiegels, weitere vertiefende Informationen sind zudem im Internet unter www.chancen-spiegel.de zu finden.

2. Der Chancenspiegel zeigt, welche Chancen die Schulsysteme der Bundesländer im Vergleich bieten

Mithilfe der nachfolgend beschriebenen Chancenprofile lassen sich die vielfältigen Ergebnisse des Chancenspiegels verdichtet darstellen. Auf der Grundlage besonders relevanter und für alle Länder verfügbarer Indikatoren wird deutlich gemacht, in welchen Gerechtigkeitsdimensionen die einzelnen Bundesländer ihren Schülerinnen und Schülern im innerdeutschen Vergleich relativ faire Chancen bieten und in welchen Dimensionen Entwicklungsbedarfe erkennbar sind.

Die Dimension »Integrationskraft« fasst die Situation des jeweiligen Schulsystems in Bezug auf den Anteil von Schülern mit Förderbedarf (Förderquote), auf den Anteil der Schüler an einer Förderschule (Exklusionsquote) und auf die Chance auf ganztägiges Lernen (Schüler an Ganztagsschulen) zusammen. Die Dimension »Durchlässigkeit« betrachtet die Chance auf einen Gymnasialbesuch, das Risiko einer Klassenwiederholung und die Chance auf eine Berufsausbildung bei maximal Hauptschulabschluss. Der Indikator »Auf- und Abwärtswechsel der Schülerinnen und Schüler der Jahrgangsstufen 7 bis 9« findet im aktuellen Ländervergleich – anders als in den Vorjahren – keine Berücksichtigung.

Für die Analyse der Dimension »Kompetenzförderung« werden in diesem Jahr die Ergebnisse der Untersuchungen zu den Bildungsstandards Klassenstufe 9 in Mathematik herangezogen: Die Dimension umfasst die durchschnittliche Mathematikleistung, das jeweilige Abschneiden der leistungsstärksten und leistungsschwächsten Schülern sowie den Unterschied zwischen Schülern aus den oberen und den unteren Sozialschichten in gebündelter Form. In der Dimension »Zertifikatsvergabe« schließlich wird die Situation in den Bundesländern in Bezug auf das Risiko, die Schulzeit ohne Abschluss zu beenden, und hinsichtlich der Chance auf den Erwerb der Hochschulreife dargestellt.

Insgesamt zeigt auch der diesjährige Vergleich der Chancenprofile die nach wie vor sehr unterschiedlichen Chancenlagen in den Bundesländern. Wie bereits in den Vorjahren gibt es kein Land, das über alle Dimensionen hinweg einen Platz in der oberen Ländergruppe einnimmt – das Gleiche gilt für die untere Ländergruppe. Anders formuliert: Jedes der 16 Bundesländer weist im Vergleich mit den anderen Schulsystemen relative Stärken und Schwächen auf.

Im innerdeutschen Vergleich besonders faire Chancen in den Dimensionen »Durchlässigkeit« und »Kompetenzförderung« bieten die beiden ostdeutschen Länder Thüringen und Mecklenburg-Vorpommern – sie befinden sich damit neben dem Stadtstaat Hamburg als einzige Flächenländer in zwei Gerechtigkeitsdimensionen in der oberen Gruppe. Thüringen belegt zudem in den beiden anderen Dimensionen einen Platz in der mittleren Gruppe. Mecklenburg-Vorpommern hingegen erreicht (ebenso wie Bayern, Berlin, Bremen, Nordrhein-Westfalen und Sachsen-Anhalt) in je zwei Dimensionen nur einen Platz in der unteren Ländergruppe. In Mecklenburg-Vorpommern zeigen sich damit relative Entwicklungsbedarfe bei der Fähigkeit seines Schulsystems, alle Schüler zu integrieren und höherwertige Zertifikate zu vergeben. Berlin und Bremen erreichen vergleichsweise gute Resultate in der Integrationskraft, landen in den übrigen Dimensionen allerdings im Mittelfeld oder in der unteren Gruppe. Bayern schneidet besonders in der Integrationskraft und Durchlässigkeit im Vergleich mit den übrigen Ländern nicht gut ab, gehört allerdings gleichzeitig zu den Ländern, die Kompetenzen vergleichsweise fair fördern.

Mit inzwischen drei Ausgaben des Chancenspiegels kann neben der Beschreibung des Ist-Zustandes im aktuellen Datenjahr auch eine Analyse der Entwicklungen von fairen Chancen in den vier Gerechtigkeitsdimensionen über vier Jahre hinweg (konkret: Schuljahr 2009/10 bis 2012/13) vorgenommen werden. Dabei können nur drei Dimensionen über die Jahre hinweg beschrieben werden: Lediglich für die Fähigkeiten der Schulsysteme, zu integrieren, durchlässig zu sein und Zertifikate zu vergeben, liegen zu allen Berichtsjahren vergleichbare Daten vor.

Der Vergleich der drei Chancenprofile zeigt, dass trotz unterschiedlicher Dynamiken in den Dimensionen kein Bundesland einen Wechsel von der unteren in die obere Gruppe vollzieht. Auch die umgekehrte Bewegung ist nicht zu beobachten. Kleinere Wechselbewegungen werden an dieser Stelle nicht als Hinweise für eine bedeutsame Veränderung interpretiert und deshalb nicht kommentiert. Anders formuliert: Die Chancenprofile der Bundesländer erweisen sich über den betrachteten Zeitraum als relativ stabil.

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Eine ausführliche Zusammenfassung der Studie finden Sie hier (pdf).

Die vollständige Studie finden Sie hier (pdf).