Analyse des Deutschen Gewerkschaftsbundes, 25.12.2014
Am 1. Januar 2005 trat das „Vierte Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ in Kraft. SPD und GRÜNE hatten diese „größte Sozialreform in der Nachkriegsgeschichte“ auf den Weg gebracht und CDU/CSU sowie FDP über den Bundesrat wesentlich zur Verschärfung des Hartz-IV-Gesetzes beigetragen. Das runde Jubiläum nehmen nunmehr die Befürworter dieses Systemwechsels zum Anlass, die Reform zu loben und zu feiern. Doch gibt es dazu tatsächlich einen Grund? Und wurden Beschäftigung und sozialstaatliche Entwicklung wirklich positiv beeinflusst?
Hohe Ziele – leider verfehlt
Die Ziele dieses Umbaus von Sozialstaat und Arbeitsförderung waren hoch gesteckt. Insbesondere sollte eine ganzheitliche Betreuung und bessere Kombination von Arbeitsförderung und sozialen Hilfen eröffnet und eine Leistung „aus einer Hand“ sichergestellt werden. Doch umgesetzt wurden sie zum Teil schlecht bzw. beschönigten oder verschleierten die tatsächlichen Absichten, wie die „Zusammenlegung“ von Arbeitslosen- und Sozialhilfe zum Arbeitslosengeld II, das aber keine niedrige Versicherungsleistung, sondern eine staatliche Fürsorgeleistung ist, die das gesellschaftliche Existenzminimum definieren soll und richtigerweise „Sozialhilfe II“ heißen müsste.
Nach allgemeinem Sozialstaatsverständnis sollte die Grundsicherung (Sozialhilfe) die letzte Stufe des Sicherungssystems sein. Dies System ist vollständig bedarfsorientiert, nachrangig gegenüber allen anderen Leistungen, Einkommen und Vermögen und orientiert auf die Bedarfsgemeinschaft, alle Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft haften vollständig. Sozialstaatlich ist es äußert problematisch und nicht zu akzeptieren, wenn sechs Millionen Bürgerinnen und Bürger praktisch von der Sozialhilfe abhängig sind.
Andere Ziele – wie ein besserer Sozialversicherungsschutz und eine Einbeziehung vormaliger Sozialhilfeempfänger in die Rentenversicherung wurden schnell wieder rückgängig gemacht und das Armutsrisiko von Arbeitslosen im Alter über den vormaligen gefährdeten Personenkreis hinaus massiv ausgeweitet.
Es gibt aber auch einige Verbesserungen, wie die Einbeziehung der Sozialhilfeempfänger in die Arbeitsförderung und eine insgesamt intensivere Betreuung der Hilfebedürftigen. Die sog. Dunkelziffer der „verdeckt Armen“, die Leistungen aus Scham oder Unwissenheit nicht beantragen, konnte etwas reduziert, wenn auch nicht beseitigt werden. Richtig ist ebenso das Ziel einer besseren Verzahnung von Arbeitsförderung mit sozial stabilisierenden Maßnahmen wie den sozialintegrativen Leistungen der Kommunen (Kinderbetreuung, Schuldnerberatung etc.).
Mit dieser Änderung sind aber auch die Anforderungen komplexer geworden. Zahlreiche Probleme der Menschen, die früher in der Sozialhilfe betreut wurden, sind heute in das Hartz-IV-System verlagert. Dabei ist zweifelhaft, ob die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die eher auf die Arbeitsmarktintegration orientiert sind, hierauf ausreichend vorbereitet und geschult sind. Die Konflikte sind offensichtlich deutlich massiver als früher in der Sozialhilfe und können schwerer bewältigt werden.
Der Systemwechsel zeigt sich aber auch daran, dass das Fordern und eine auch nur kurzfristige Eingliederung Vorrang erhielten vor einer aktiven, auf stabile Integration ausgerichteten Förderung. Eigenverantwortliches Handeln wurde stärker betont und bei der Eingliederung insbesondere auf individuelle Verhaltensänderungen gesetzt und mit stärkerem Druck verknüpft. So wurden die Sanktionsmöglichkeiten und der Zwang zur Annahme ungünstiger und schlechter bezahlter Jobs bis an die Grenze der Sittenwidrigkeit und noch über die vormaligen Regelungen der Sozialhilfe hinaus erhöht. Verstärkt wurde dies durch die Abschaffung der Arbeitslosenhilfe und die Einführung eines an der Sozialhilfe orientierten Fürsorgesystems für die Mehrzahl der Arbeitslosen.
Doch gut gemeint ist noch längst nicht gut gemacht, denn neue Instrumente und Hilfen wurden kaum geschaffen und der Rechtsrahmen nicht so erweitert, dass die sozialen Integrationshilfen auch tatsächlich bedarfsgerecht zur Verfügung stehen. Eine erfolgreiche Umsetzung wird oftmals aber auch dadurch erschwert, weil sozialstaatliche, arbeitsmarktpolitische sowie institutionelle Konflikte bzw. konfligierende Ziele in das System eingebaut und bisher politisch nicht adäquat angegangen wurden.
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Reformbedarf
Das Hartz-IV-System ist äußerst komplex und schnell überfordert, da immerhin fast 10 Prozent der Bevölkerung unter 65 Jahren auf existenzminimalem Niveau abgesichert und deren Integration gefördert werden soll und dies durch ein unübersichtliches Steuerungssystem noch erschwert wird. Die mehr als 20 Millionen individuellen Leistungsbescheide pro Jahr zeigen dies exemplarisch.
Ein sozialstaatlicher Umbau muss daher auf unterschiedlichen Ebenen ansetzen.
Hier nur einige Stichworte (Ausführlicher siehe DGB-Positionspapier 2014, Für eine sozialstaatliche Arbeitsmarktpolitik):
• Das Hartz-IV-System muss entlastet und die vorgelagerten Sicherungssysteme (insbesondere die Arbeitslosenversicherung) ausgebaut werden. So sollten befristet Beschäftigte bei Jobverlust einen besseren Zugang zur Arbeitslosenversicherung erhalten und über ein Mindest-Arbeitslosengeld die Zahl jener reduziert werden, die nach Job-Verlust unmittelbar auf staatliche Fürsorge abrutschen. Sozialversichert Beschäftigte mit aufstockendem Hartz IV sollten gleichfalls von der Arbeitslosenversicherung betreut werden.
• Das Zwei-Klassen-System mit vielfältigen Schnittstellen muss reduziert werden. Bisher kann eine Gleichbehandlung von Erwerbslosen nach Rechtskreiszugehörigkeit und nach Region oftmals nicht sichergestellt werden; Jugendliche werden bei der Suche nach einem Ausbildungsplatz vom Gesetz z. B. unterschiedlichen Systemen zugeordnet – in Abhängigkeit vom Einkommen der Eltern. Dies gilt ähnlich für die berufliche Rehabilitation behinderter Menschen, die durch die Trennung in unterschiedliche Rechtskreise äußerst unübersichtlich geworden ist. Sowohl die Ausbildungsvermittlung als auch die berufliche Reha sollten daher bei der Arbeitslosenversicherung zusammengefasst werden. Notwendig ist ebenso ein Rechtsanspruch auf soziale Integrationshilfen (wie Kinderbetreuung oder Schuldnerberatung) für alle Erwerbslosen.
• Die Arbeitsförderung muss ausgebaut werden. So sollte die Dominanz des „Forderns“ zugunsten des Förderns korrigiert und Rechte für die Betroffenen auf Förderung ausgebaut werden. Eine Verpflichtung zur möglichst nachhaltigen und existenzsichernden Integration ist notwendig und eine gesetzliche Gleichbehandlung muss sichergestellt werden, egal von welchem System man betreut wird. Existenzgefährdende Sanktionen müssen aufgehoben werden. Sozialstaatliche Zumutbarkeitsregelungen sind ebenso notwendig, die keine Sanktionen mehr bei nicht existenzsichernder Arbeit vorsehen.
• Insbesondere die Mittel für Weiterbildung müssen erhöht und finanzielle Anreize für Hartz-IV-Empfänger geschaffen werden, die einen Berufsabschluss anstreben. Bisher sind sie finanziell schlechter gestellt als jene, die einen Ein-Euro-Job ausüben.
• Die sozialen Integrationshilfen und das Ziel der sozialen Teilhabe müssen für jene ausgebaut werden, die auf absehbare Zeit keine Chance auf dem regulären Arbeitsmarkt haben. Dies sollte mit einer besseren Zusammenarbeit und Kooperation unterschiedlicher Institutionen – wie den Jobcentern und den Krankenkassen – verknüpft werden.
• Arbeitsförderung sollte eine „neue Ordnung auf dem Arbeitsmarkt“ unterstützen. Prekäre Beschäftigung muss zu- rückgedrängt und auch Langzeitarbeitslosen Mindestlöhne von 8,50 Euro gezahlt werden. Lohnkostenzuschüsse müssen daran geknüpft werden, dass keinesfalls schlechtere Löhne gezahlt werden. Um Armut von Erwerbstätigen mit Kindern wirksamer bekämpfen zu können, sollte ergänzend zum Mindestlohn der Kinderzuschlag sowie das Wohngeld für Geringverdiener ausgebaut werden. Notwendig sind zudem soziale Standards in der Arbeitswelt, die der Leiharbeit wie den Werkverträgen sozialstaatliche Grenzen setzen und Scheinselbständigkeit wirksam bekämpfen.
Schlussbemerkungen
Hartz IV wurde nicht nur schlecht gemacht, sondern hat zentrale Eckpfeiler und die Grundarchitektur des bundesdeutschen Sozialsystems massiv verschoben. Das gesetzliche Räderwerk ist äußerst kompliziert und die einzelnen Elemente so wenig aufeinander abgestimmt, dass es häufig knirscht im Gebälk. Die Diskrepanz von gesetzlichem Anspruch und Wirklichkeit ist nicht zu übersehen. Vielfältige Stellschrauben verhindern vielfach eine optimale Betreuung. Die Beschäftigten im Hartz-IV-System müssen eine äußerst schwere Arbeit verrichten und meist die Suppe auslöffeln, die Politik und Gesetzgeber angerührt haben. So musste der Bundesrechnungshof bereits feststellen: „Die jetzigen Schnittstellen zwischen verschiedenen Trägern im Verwaltungsvollzug und bei der Aufsicht erfordern fehleranfällige Abstimmungsprozesse und schaffen Einfallstore für unwirtschaftliches, rechtswidriges und bundesweit uneinheitliches Verwaltungshandeln.“ (Bericht des Bundesrechnungshofes an den Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages, 29.04.2008, S. 7)
Doch dies wollen die Befürworter des Systems allzu gerne verschweigen. Läuft etwas schief im System, wird der schwarze Peter zu gerne von einer Institution an die andere weitergegeben oder auf Akteure innerhalb des Hartz-IV-Systems reduziert. Doch dieses System ist und bleibt die Achillesferse der deutschen Arbeitsmarkt- wie Sozialhilfepolitik.
Was Not tut, sind an der Praxis orientierte Lösungsansätze, die eine sozialstaatliche Weiterentwicklung eröffnen. Der DGB hält eine Debatte um eine neue soziale Grundausrichtung der Arbeitsförderung für notwendig, die der Spaltung der arbeitsmarktpolitischen Institutionen entgegenwirkt und den Blick auf den einheitlichen Arbeitsmarkt schärft. Die Vorschläge des DGB hierzu liegen auf dem Tisch.
Die vollständige Analyse finden sie hier (pdf).