Expertise des ehemaligen Verfassungsrichters Siegfried Broß zu den in den Freihandelsabkommen der EU geplanten Schiedsgerichten, 19.1.2014
Ausgangspunkt der nachfolgenden Betrachtungen ist die Transatlantische Handels- und Investitionspartnerschaft (englisch Transatlantic Trade and Investment Partnership), abgekürzt oft TTIP genannt. Dieses Freihandelsabkommen in Form eines völkerrechtlichen Vertrags zwischen der Europäischen Union, den USA und weiteren Staaten befindet sich zur Zeit in der Verhandlungsphase. Die dabei erzielten Verhandlungsergebnisse sind geheim, oder zumindest fehlt es an detaillierten Informationen. Nicht zuletzt deswegen, aber auch wegen der bisher bekannten Verhandlungsstände, ist das geplante Abkommen erheblicher Kritik aus verschiedensten politischen Richtungen ausgesetzt. So haben Aktionsbündnisse über eine Million Unterschriften gegen TTIP gesammelt. Dies zeigt, dass in der Bevölkerung eine Vielzahl von Bedenken und Befürchtungen bestehen. Dies gilt vor allem im Hinblick auf eine befürchtete Senkung von gesetzlichen Gesundheits-, Umwelt- und Sozialstandards, sowie der Einführung einer so genannten privaten Schiedsgerichtsbarkeit. Diese soll im Rahmen der Vertragsbestimmungen zum Investitionsschutz über Schadensersatzansprüche von Unternehmen gegen die zukünftigen Mitgliedsstaaten entscheiden können, wobei die Möglichkeit einer unabhängigen gerichtlichen Überprüfung ausgeschlossen sein soll.
Viele Punkte der zurzeit verhandelten Freihandelsabkommen sind umstritten. Die nachfolgenden Ausführungen beschränken sich im Kern jedoch auf die in den Abkommen vorgesehenen Schiedsgerichte zum Investitionsschutz.
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Problematik der Schiedsgerichte
Nähert man sich juristisch der Problematik der Schiedsgerichte, sind verschiedene Problembereiche zu unterscheiden. Zunächst geht es um ihre Organisation und ihr Verfahren und anschließend um die Funktion und die Wirkungen einer Entscheidung.
Organisation
Zu Recht wird die Organisation der Schiedsgerichte bei Vereinbarung von Freihandelsabkommen überwiegend als kritisch angesehen.
Private Schiedsgerichte sind nicht unmittelbar ans Völkerrecht gebunden
Zunächst fällt auf, dass sich Staaten der Gerichtsbarkeit privater zwischenstaatlicher Schiedsgerichte unterwerfen. Privates Schiedsgericht und Ausübung von Gerichtsbarkeit gegenüber Staaten bei Streitigkeiten, die aus Freihandelsabkommen erwachsen, schließen sich jedoch aus. Der tiefere Grund hierfür liegt darin, dass Staaten als Vertrag schließende eines Freihandelsabkommens sich auf der Ebene des Völkerrechts begegnen. Demgemäß richten sich der Abschluss und die Abwicklung eines solchen Abkommens nach den Regeln des Völkerrechts. Subjekte und Teilnehmer am Völkerrechtsverkehr sind Staaten und nicht Privatpersonen. Wird eine Gerichtsbarkeit im Rahmen eines solchen Freihandelsabkommens vereinbart, ist sie Bestandteil der Völkerrechtsebene und nicht einer darunter liegenden. Privatpersonen und private Institutionen sind nur mittelbar über den jeweiligen "Heimatstaat" am Völkerrechtsverkehr beteiligt oder betroffen. Sinnfälliges Beispiel hierfür ist etwa die Europäische Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten. Über ihre Gewährleistungen nimmt das einzelne Individuum vermittelt durch seinen "Heimatstaat“ an diesem völkerrechtlichen Vertragswerk teil, was sich auch für Ausländer in diesem Staat positiv auswirken kann.
Verlust staatlicher Souveränität durch Schiedsgerichte
Die Vereinbarung eines privaten Schiedsgerichts im Rahmen völkerrechtlicher Verträge verbietet sich noch aus einem anderen Grund. Es bedeutet den Verlust von staatlicher Souveränität und Selbstachtung, sich einer Gerichtsbarkeit außerhalb der Staatenebene zu unterwerfen. Ein Vertragsschiedsgericht innerhalb eines Freihandelsabkommens darf daher nur als Staatsschiedsgericht organisiert werden (näher hierzu, siehe unten).
Verfahren
Der nicht hinnehmbaren Organisation der Schiedsgerichte entspricht darüber hinaus (jedenfalls bisher) auch ein den für Gerichte anerkannten rechtsstaatlichen Grundsätzen widersprechendes Verfahren. Elementar ist rechtsstaatlichen Gerichtsverfahren deren Öffentlichkeit. Es handelt sich hierbei nicht um eine bloße Förmelei. Die Öffentlichkeit gerichtlicher Verfahren ist eine Ausprägung des Demokratieprinzips. Gerichte üben Rechtsprechung in der rechtsstaatlichen Demokratie "im Namen des Volkes" und etwa nicht "im Namen des Königs", wie in früheren Jahrhunderten aus. Im letzteren Fall kann die Öffentlichkeit von der Teilnahme an Gerichtsverhandlungen ferngehalten werden, weil sie "ihre Richter" wie in einer Demokratie wegen deren Unabhängigkeit nicht zu kontrollieren braucht. In einer Monarchie waren vormals die Richter nur dem Herrscher und nicht den Menschen als Souverän verantwortlich.
Schon allein diese (nicht öffentliche) Verfahrensgestaltung reicht aus, den bisher wohl von den Verhandlungsparteien für TTIP ins Auge gefassten Gerichtsweg und das dort ausgeübte Verfahren als Rückschritt in vordemokratische Zeiten zu kennzeichnen. Das Argument für den Ausschluss der Öffentlichkeit, vor allem der Schutz von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen, ist nicht stichhaltig. Die Problematik ist auf nationaler Ebene hinreichend bekannt, so etwa im Patent-, Wettbewerbs- oder Gesellschaftsrecht. Insoweit haben alle bekannten Prozessordnungen sachgerechte Vorkehrungen getroffen, damit berechtigten Schutzinteressen von Prozessbeteiligten angemessen Rechnung getragen werden kann. Dafür reicht zum Beispiel der Ausschluss der Öffentlichkeit für einzelne Verfahrensabschnitte.
Funktion und die Wirkungen privater Schiedsgerichte widersprechen dem deutschen Grundgesetz
Die Organisation der Schiedsgerichte in den bestehenden und nunmehr von der EU mit den USA und Kanada geplanten Freihandelsabkommen als private Einrichtungen werfen daneben weitere grundlegende Fragen auf. In der Sache bedeutet die Einräumung eines Klagerechts ausländischer Unternehmen gegen einen Vertragsstaat vor einem nicht staatlichen Gericht, dass der jeweils betroffene Vertragsstaat insoweit seine Souveränität und Gestaltungsmacht im Völkerrechtsverkehr aufgibt. Dafür gibt es keine Legitimation nach deutschem Verfassungsrecht. Es handelt sich hierbei nämlich nicht um die Eingliederung in eine supranationale Verbindung von Staaten, wie den Vereinten Nationen, der EU oder der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten.
Über das private Schiedsgericht innerhalb eines Freihandelsabkommens erwächst dieses zu einer autonomen Teilrechtsordnung außerhalb der Rechts- und Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland. Sie ist deshalb autonom und gegenüber der Rechts- und Verfassungsordnung der Bundesrepublik Deutschland isoliert, weil diese ihre umfassende Gerichtsgewalt, die mit der nationalen Rechts- und Verfassungsordnung deckungsgleich ist, in Bezug auf das jeweilige Freihandelsabkommen aufgegeben und zur Disposition einer privaten Einrichtung gestellt hat. Das ist verfassungswidrig; denn so können die parlamentarische Mitwirkung und Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts unterlaufen werden. Dessen Entscheidung in BVerfGE 102, 147 – Bananenmarktordnung wäre bei Geltung des geplanten Freihandelsabkommens mit den USA zum Teil unterblieben. Ein ausländisches Unternehmen wäre von der deutschen Gerichtsbarkeit ausgenommen gewesen vermutlich mit einiger Aussicht auf Erfolg. Die Beachtung des gesetzgeberischen Willens der Gesetzgebungsorgane der Bundesrepublik Deutschland als grundlegende Ausprägung des Demokratieprinzips des Grundgesetzes kann nicht mehr sichergestellt werden. Auf diese Weise wird auf dem Weg einer zwischenstaatlichen Vereinbarung über den Freihandel materiell die Verfassung der Bundesrepublik Deutschland in einem Staatsorganisationsprinzip geändert. Das wäre nicht einmal dem verfassungsändernden Gesetzgeber wegen der Sperre des Art. 79 Abs. 3 GG erlaubt.
Bei dieser Qualifizierung handelt es sich nicht um ein "kosmetisches Problem". Es geht vielmehr um substanzielle Fragen der Staatlichkeit, der Souveränität, der Selbstdefinition und der Gestaltungsmacht demokratisch legitimierter Regierungen und Parlamente. Es sind die Fragestellungen, die das Bundesverfassungsgericht in einem größeren Zusammenhang, dem der Eingliederung der Bundesrepublik Deutschland in die europäische Staatengemeinschaft, in den Entscheidungen zu den Vertragsfassungen von Maastricht und Lissabon in BVerfGE 89, 155 und BVerfGE 123, 267 behandelt und entschieden hat. Ohne eine weitere Vertiefung kann in Bezug auf die Organisation der Schiedsgerichte festgehalten werden, dass sie den vom Bundesverfassungsgericht in beiden Entscheidungen zu Grunde gelegten Anforderungen an das parlamentarisch-demokratische Prinzip und Identität der Bundesrepublik Deutschland im Sinne einer souveränen und selbstbestimmten Gestaltungsmacht eklatant widerspricht.
Die Politik ist in ihren Gestaltungsmöglichkeiten verhältnismäßig frei, muss sich aber innerhalb der verfassungsmäßigen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland bewegen. Diese wird im Verhältnis zu den Menschen, nicht-staatlichen Institutionen und auch Wirtschaftsunternehmen wesentlich von den Grundrechten geprägt. Bestandteile sind u.a. die Grundsätze der Verhältnismäßigkeit und des Vertrauenschutzes. Diese zentralen, aus dem Grundgesetz folgenden, Rechte kommen im Rahmen des geplanten Freihandelsabkommen aber wegen der Schiedsgerichtsbarkeit nicht zur Geltung. Letztlich verhindern private Schiedsgerichte damit so auch die Umsetzung von Verfassungsaufträgen.
Durch die bisher geplante Organisation der Schiedsgerichte begibt sich die Bundesrepublik Deutschland darüber hinaus auch eines Teils ihrer Politikfähigkeit. Sie – ebenso die EU - benachteiligt damit nationale Unternehmen, weil hier fortwährend verschärfte Anforderungen etwa an den Umweltschutz festgesetzt werden. Diese haben lediglich Anspruch darauf, dass Überleitungs- und Auslauffristen bestimmt werden.
Weiteres ist zu bedenken, dass eine Ausdehnung (Reform) etwa der (betrieblichen) Mitbestimmung in der Bundesrepublik Deutschland aus der Sicht von ausländischen Unternehmen aus Staaten, mit denen solche Freihandelsabkommen bestehen, eine Relativierung oder Schwächung ihrer Investitionen sein könnte, gegen die vor einem Schiedsgericht vorgegangen werden könnte. Die rücksichtslose Lohn- und Arbeitsmarktpolitik einiger weltweit agierenden Unternehmen sollte hier zu äußerster Vorsicht mahnen. Auch insoweit verbieten sich solche privaten Schiedsgerichte. Eine weitere Sorge muss sein, dass über Freihandelsabkommen die Privatisierung staatlicher Infrastruktur weiter forciert wird und dann diese privaten Schiedsgerichte zu Gunsten weltweit agierender Unternehmen etwa übersehene Klippen einebnen.
Staatsschiedsgerichte als mögliche Lösung
Ein Vertragsschiedsgericht innerhalb eines Freihandelsabkommens darf wegen dem oben gesagten wenn überhaupt nur als Staatsschiedsgericht organisiert werden. Es handelt sich um die gleiche Denkfigur wie bei dem von mir für die Europäische Union seit vielen Jahren geforderten Kompetenzkonfliktgericht.[1]
Die Zusammensetzung des Gerichts ist dabei so zu gestalten, dass es sich um Vertreter der Vertragsstaaten mit Zustimmung der nationalen Parlamente handeln muss. Diese Voraussetzungen beruhen darauf, dass die Staaten für die Dauer des Vertrages die Deutungshoheit darüber haben müssen, was und mit welchen Rechtsfolgen sie im Einzelnen vereinbart haben. Die Mitwirkung der nationalen Parlamente stellt die demokratische Legitimation der dann "echten" Richter sicher und zudem mittelbar die fortwirkende Beachtung des parlamentarischen Willens im Gesetzgebungs- oder Zustimmungsverfahren zu einem solchen Freihandelsabkommen.
Mit der Einrichtung eines Vertragsschiedsgerichts als Staatsschiedsgericht erledigt sich ein weiterer grundlegender Einwand gegen die bisherige Konstruktion solcher Gerichte. Es bedarf dann keines Rechtszuges, weil in dem Staatsschiedsgericht die staatliche Souveränität der Vertragspartner eines Freihandelsabkommens gewahrt wird. Sie können ihre Souveränität schützen und bleiben die "Herren des Vertrages". Diese wird nicht wie bei einem privaten Schiedsgericht zur Disposition einer Institution außerhalb der Staatenwelt des Freihandelsabkommens gestellt.
Ein weiterer Vorzug dieser Lösung in der Sache liegt darin, dass ein Staatsschiedsgericht nach Abschluss des Vertrages auftretende oder erkennbar werdende Lücken oder unzureichende Vereinbarungen demokratisch legitimiert schließen kann. Dies wird anhand des geplanten Freihandelsabkommens der EU mit Kanada in Anbetracht des bisher bekannt gewordenen etwa 1500 Seiten umfassenden Textentwurfs deutlich. Jeder mit der Ausarbeitung von Verträgen befasste Jurist erkennt ohne Schwierigkeiten, dass entgegen dem nach dem Umfang geweckten Anschein sehr wohl Lücken in den Vereinbarungen verborgen sein könnten. Zudem ist ein so umfangreicher Vertragstext naturgemäß mit zahlreichen Stolpersteinen, Tücken und Fallstricken gepflastert, deren Behandlung nur in einem Staatsschiedsgericht rechtsstaatlich demokratischen Anforderungen gerecht wird.
Zusammenfassung
Die von der EU geplanten Freihandelsabkommen mit Kanada und den USA können unmittelbar und mittelbar Auswirkungen auf die Privatisierung staatlicher Infrastrukturbereiche, vor allem über die öffentliche Auftragsvergabe haben. Diese Abkommen sind nach dem derzeitigen Stand (Ende 2014) mit den Klauseln über den Investorschutz zugunsten ausländischer Unternehmen und die Einrichtung privater Schiedsgerichte verfassungswidrig. Sie verletzen in dieser Ausgestaltung das Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip. Es würde eine autonome Rechtsordnung geschaffen, deren Definition abschließend bei den privaten Schiedsgerichten liegen würde. Das ist ein Verstoß gegen das Demokratie- wie auch Rechtsstaatsprinzip. Solche Regelungen dürfte nicht einmal der verfassungsändernde Gesetzgeber wegen der Sperre des Art. 79 Abs. 3 GG treffen. Als Lösung könnte ein Staatsschiedsgericht geschaffen werden.