Dokumente zum Zeitgeschehen

»Armut ist ein nachweisbares Risiko für die Entwicklung von Kindern.«

Studie der Bertelsmann Stiftung zum Einfluss von Armut auf die Entwicklung von Kindern, 13.3.2015

Einleitung

Armut ist ein Risiko für die Entwicklung von Kindern (z. B. Bauer et al. 2008; Haverkamp 2012). Dies gilt vor allem in der sehr sensiblen Altersphase bis zur Vollendung des dritten Lebensjahres. In dieser Lebensphase bilden sich das Seh- und Hörvermögen, elementare soziale Fähigkeiten sowie das Sprach- und Zahlenverständnis aus. Damit werden bereits häufig vor dem Eintritt in den Kindergarten die elementaren Voraussetzungen für ein gelingendes Aufwachsen gelegt. Ramsburg (1997) bezeichnet diese frühen Jahre auch als „learning years“. Entwick- lungsdefizite in dieser sensitiven Phase lassen sich später nur noch mit erheblichem Aufwand nachholen (Nash 1997; Ramsburg 1997).

Nicht nur die individuelle Armutslage eines Kindes hat Auswirkungen auf die Entwicklung, sondern auch der räumliche Kontext, in dem das Kind aufwächst. Von Quartieren mit einer hohen Armutskonzentration (häufig als sozial segregierte Quartiere bezeichnet) wird angenommen, dass sie über mehrere Mechanismen vielfältige negative Auswirkungen auf die Bewohner ausüben (z. B. Strohmeier 2008; Farwick 2012; Jencks und Mayer 1990; Wilson 1990). Gleiche Befunde sind aus dem Schulbereich bekannt (z. B. SVR 2013; Coleman 1966: 325; zusammenfassend Kristen 2002: 538; Stanat et al. 2010: 161). Für den vorschulischen Bereich gibt es bislang kaum Analysen zum Einfluss der Armutskonzentration auf die Entwicklung von Kindern (Hock et al. 2014; Holz 2007: 8). Aus diesem Grund betrachten wir im vorliegenden Werkstattbericht den Einfluss von Armutskonzentrationen in Kindertageseinrichtungen (im Folgenden Kitas) auf die Entwicklung von Kindern genauer.

Bundesweit haben im Jahr 2014 347.896 Kinder unter drei Jahren SGB-II- Leistungen bezogen, dies entspricht etwa jedem sechsten Kind unter drei Jahren (17,1 %) (Statistik Bundesagentur für Arbeit 2014b). Während bundesweit und vor allem in Ostdeutschland die Kinderarmut in den letzten Jahren zurückgeht, ist die SGB-II-Quote in Nordrhein-Westfalen (NRW) seit 2012 gleichbleibend hoch und liegt bei den unter Dreijährigen bei 20,7 Prozent (Statistik Bundesagentur für Arbeit 2014b). Für die 18 Kommunen des Landesprogramms Kein Kind zurücklassen! Kommunen in NRW beugen vor (KeKiz) liegt diese Quote bei 24,3 Prozent (ebd.).

KeKiz hilft „vorhandene Kräfte und Angebote in den Städten zu bündeln, um Kinder und ihre Familien zu unterstützen – lückenlos von der Geburt bis zum Eintritt ins Berufsleben. Das Modellvorhaben folgt dem Grundsatz „Vorbeugen ist besser als heilen“. Dieser Präventionsansatz bedeutet mehr Chancengleichheit für alle Kinder und Jugendlichen, damit bessere Bedingungen des Aufwachsens erreicht werden können (https://www.kein-kind-zuruecklassen.de/modellvorhaben/uebersicht.html).

Diese Chancengleichheit ist aufgrund der sozialen Spaltung der Gesellschaft nicht gegeben. Im Rahmen der wissenschaftlichen Begleitforschung des Landes- programms Kein Kind zurücklassen! Kommunen in NRW beugen vor (KeKiz) wird exemplarisch für die Stadt Mülheim an der Ruhr2 der Zusammenhang zwischen Armut und der Entwicklung von Kindern untersucht. Dabei wird ermittelt, wie stark der Zusammenhang zwischen Armut und der Entwicklung von Kindern einerseits sowie zwischen dem Armutskontext, in dem die Kinder aufwachsen, und der Entwicklung von Kindern andererseits ist.

Um diese Leitfrage zu beantworten, wird zunächst das Phänomen der Armut näher betrachtet. Dazu werden verschiedene Definitionen von Armut präsentiert. Daran anschließend werden Entwicklungsmerkmale vorgestellt, die im Rahmen der Schuleingangsuntersuchung in NRW erhoben werden. Nach der Darstellung theoretischer Modelle zu den Wirkmechanismen von Armut auf die Entwicklung von Kindern werden die empirischen Ergebnisse unserer Analysen dargestellt sowie die wesentlichen Erkenntnisse zusammengefasst.

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Zusammenfassung und Fazit

Kinderarmut ist kein Randphänomen, sondern betrifft jedes fünfte Kind unter drei Jahren in Nordrhein-Westfalen. Für die Mehrheit der armen sechsjährigen Kinder ist der SGB-II-Bezug auch ein Dauerzustand, der das Aufwachsen bestimmt. Diese Kinder sind in einem hohen Maße unterstützungsbedürftig, wenn sie nicht dauerhaft zurückgelassen werden sollen.

Mithilfe der Mikrodatenanalyse von Schuleingangsuntersuchungsdaten und SGB-II- Daten kann gezeigt werden, dass Kinderarmut ein Risiko für gelingendes Aufwachsen ist. Arme Kinder sind bei der Einschulung häufiger auffällig in ihrer Visuomotorik und der Körperkoordination, können sich schlechter konzentrieren, sprechen schlechter die deutsche Sprache und können schlechter zählen als Kinder, die keine Leistungen nach dem SGB II beziehen. Armen Familien fehlen oft die nötigen Ressourcen, um den negativen Einflüssen der Armut zu begegnen. Die Analysen haben gezeigt, dass Armut, gemessen über den SGB-II-Bezug, unabhängig von der elterlichen Bildung als Risikofaktor für die Entwicklung von Kindern anzusehen ist.

Neben der individuellen Armutslage eines Kindes kann darüber hinaus gezeigt werden, dass für einige Aspekte der Entwicklung, die im Rahmen der Schuleingangsuntersuchung getestet werden, auch eine hohe Armutskonzen- tration, vor allem in der Kita, benachteiligend auf die Entwicklung von Kindern wirkt. Die bessere Ressourcenausstattung von sozialen Brennpunktkitas wirkt sich positivauf die Kompetenzen von Kindern aus. Kitas, die als zertifiziertes Familienzentrum gefördert werden, verbessern die deutschen Sprachkompetenzen ihrer Kinder.

Als präventive Faktoren, die die Entwicklung von Kindern positiv beeinflussen, wirken darüber hinaus ein früher Kitabesuch sowie sportliche Aktivitäten. Hier bieten insbesondere der weitere U3-Ausbau sowie das Bildungs- und Teilhabepaket gute Chancen, die Entwicklung armer Kinder positiv zu beeinflussen. Bei der Nutzung von Mitteln des BuT für die kulturelle, sportliche oder musische Teilhabe bestehen deutliche Lücken. Um diese Mittel nicht ungenutzt zu lassen, sollten verstärkt Kitas, Schulen, Eltern und Sozialagenturen vernetzt werden, damit arme Kinder die ihnen zustehenden Mittel häufiger als bisher nutzen können.

Eine gezielte Ansprache von Familien, ihre Kinder früh in einer Kita betreuen zu lassen, wäre eine Möglichkeit, um Kindern präventiv zu helfen. Im Sinne des Auf- und Ausbaus von Präventionsketten kommt einer Kooperation der Akteure der frühen Hilfen und der Kitas hier besondere Bedeutung zu, damit der Eintritt in die Kita gelingt. Die Ausgestaltung der Kitabeiträge ermöglicht es den Kommunen zudem, Einfluss auf den Zeitpunkt des Kitaeintritts von Familien mit niedrigem Einkommen zu nehmen.

Über statistische Auswertungen, zum Beispiel der Schuleingangsuntersuchungen, lassen sich gezielt Kitas und Schulen bestimmen, in denen Kinder mit Förderbedarf überproportional vertreten sind und die bevorzugt für Präventionsprogramme (z. B. Gesundheit, Ernährung, Sport und Medienkompetenzen) ausgewählt werden sollten.

Die Faktoren, die das Aufwachsen eines Kindes beeinflussen, fallen in kommunal unterschiedlichste Zuständigkeits- und Verantwortlichkeitsbereiche (Soziales, Gesundheit, Kinder und Jugend, Kita, Schule, Sport, Kultur). Dies zeigt umso dringender die Notwendigkeit einer vom Kind her gedachten vernetzten Präventionsstrategie auf, die das Kind ganzheitlich in den Blick nehmen muss, um allen Entwicklungsaspekten gerecht zu werden.
Um die strukturell ungleichen Chancen gelingenden Aufwachsens von armen Kindern zu verbessern, sollten die vorhandenen Ressourcen noch stärker als bisher genutzt werden, um arme Kinder zu fördern und Ungleiches auch ungleich zu behandeln.

Die vollständige Studie finden Sie hier.