Dokumente zum Zeitgeschehen

»40 Jahre für eine soziale und wirksame Wirtschaftspolitik gegen Massenarbeitslosigkeit«

Memorandum 2015 der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik, 28.4.2015

Auszug aus der Kurzfassung

40 Jahre Massenarbeitslosigkeit – Alternativen in der Wirtschaftspolitik sind möglich
Die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik wurde 1975 gegründet, um der aufkommenden Massenarbeitslosigkeit und der darauf gerichteten neoklassischen Instrumentalisierung zum Lohn- und Sozialabbau etwas entgegenzusetzen. Neoliberale Rezepte haben die Krise auf dem Arbeitsmarkt seitdem weiter verschärft. Über viele Jahre sah es so aus, dass alternative Konzepte kein Gehör finden. Mittlerweile jedoch bekommen kritische Standpunkte ein immer stärkeres Gewicht, auch wenn die Dominanz neoliberaler Politik noch längst nicht gebrochen ist. Vom gesetzlichen Mindestlohn über die Verteilungsdebatte bis zur Frage öffentlicher Investitionen bestimmen mehr und mehr Themen, die in den MEMORANDEN seit 40 Jahren ausgearbeitet werden, die Agenda.

Im Gründungsjahr der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik ging mit der Weltwirtschaftskrise von 1974/75 in der Bundesrepublik die erfolgreichste Periode der wirtschaftlichen und sozialpolitischen Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg zu Ende. In den 1960er Jahren konntedie Arbeitslosenquote unter ein Prozent gedrückt und Vollbeschäftigung hergestellt werden. Es wurden sogar in erheblichem Umfang ausländische Arbeitskräfte angeworben, um die Arbeitsnachfrage zu befriedigen. Außerdem kam es zu einem enorm wichtigen Schub im Städte- und Wohnungsbau sowie bei der öffentlichen Infrastruktur. In der Sozial- und in der Rentenpolitik, der Arbeitsmarkt- sowie der allgemeinen Bildungs- und Hochschulpolitik wurden zahlreiche Fortschritte erzielt.

Die Wirtschaftspolitik war 1967 per Stabilitäts- und Wachstumsgesetz zur Erreichung eines hohen Beschäftigungsstandes, Preisstabilität, außenwirtschaftlichem Gleichgewicht und Wachstum („magisches Viereck“) verpflichtet worden. Dabei sollte dem am meisten verletzten Ziel die größte wirtschaftspolitische Aufmerksamkeit geschenkt werden. Verteilungsgerechtigkeit und die ökologische Frage wurden bis heute nicht in das noch gültige Gesetz aufgenommen – dabei ist Wachstum unbedingt unter sozialökologischen Aspekten zu verfolgen. Ein nachlassendes Wirtschaftswachstum führte in den westlichen Industrieländern dann im Zusammenhang mit der ersten Ölpreiskrise, den Kosten des Vietnamkrieges und dem Übergang zu flexiblen Wechselkursen im Jahr 1973 (in Bretton Woods waren 1944 feste Wechselkurse im Welt- währungssystem festgelegt worden) zu einer bis dahin nicht gekannten wirtschaftlichen Stagflation (dem gleichzeitigen Auftreten von ökonomischer Stagnation und Inflation) und schließlich 1974/75 zu einer Überproduktionskrise mit einem Anstieg der Zahl der Arbeitslosen auf über eine Million und einer Arbeitslosenquote von fünf Prozent. Begleitet wurde das Ganze von tiefgreifenden Branchenkrisen (Stahl, Bau und Textil). Seitdem muss man in der Bundesrepublik Deutschland, aber nicht nur dort, von einer Massenarbeitslosigkeit sprechen, die bis heute nicht überwunden ist – im Gegenteil, sie hat sich strukturell verstetigt. Das Problem der sich dauerhaft verfestigenden Arbeitslosigkeit hat die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik bereits in ihren ersten MEMORANDEN klar gesehen:

„Die Arbeitslosigkeit hält unvermindert an, obgleich bereits seit fast zwei Jahren eine Periode wirtschaftlichen Aufschwungs – gemessen an Produktion und Investition – zu verzeichnen ist. Dies deutet darauf hin, dass es sich hier nicht um einen einmaligen Betriebsunfall, sondern um län- gerfristige Tendenzen handelt, die zwar durch die konjunkturelle Krise ab Ende 1973 verstärkt zum Durchbruch gekommen sind, die konjunkturellen Wechsellagen aber überdauern und die wirtschaft- lichen Entwicklungsmöglichkeiten längerfristig entscheidend beschränken werden. [...] Der Sachverständigenrat sowie die Mehrheit der offiziellen Wirtschaftspolitiker erklären die andauernde Massenarbeitslosigkeit aus der seit Ende der 60er Jahre gesunkenen Kapitalrentabilität. Deren Ursachen werden einseitig aus dem gestiegenen Anspruchsniveau der Gewerkschaften hinsichtlich der Lohnpolitik sowie aus der angeblich überzogenen sozialstaatlich ausgerichteten Reformpolitik des Staates hergeleitet. [...] Die globale Förderung des Unternehmensgewinnes ist demnach auch der Kern der Empfehlungen, die der Sachverständigenrat als Programm der wachstumspolitischen Vorsorge und Konsolidierung aus seinen Überlegungen zur strukturellen Arbeitslosigkeit entwickelt.“ (MEMORANDUM 1977) Die Krise 1974/75 wurde zum Katalysator für einen Paradigmenwechsel in der Wirtschaftspolitik. Der Wohlfahrtsstaat war nicht länger das bestimmende Leitbild. Insbesondere das Phänomen der Stagflation hatte die alten wirtschaftlichen Ansätze diskreditiert. In der theoretischen Debatte wurde häufig ein negativer Zusammenhang zwischen Inflation und Arbeitslosigkeit gesehen (Phillips- Kurve). Die Wirtschaftspolitik müsse sich, so hieß es, zwischen einer hohen Preissteigerung und einer großen Arbeitslosigkeit entscheiden. Nach dieser Auffassung war die Wirtschaftspolitik beim gemeinsamen Auftreten von Preissteigerung und Arbeitslosigkeit machtlos. Die in den Nachkriegsjah- ren praktizierte keynesianische Nachfragepolitik galt damit als gescheitert. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (SVR) war mit seiner Empfehlung, zur Krisenbekämpfung nicht die gesamtwirtschaftliche Nachfrage, sondern die Gewinne der Unternehmen zu fördern, der Vorreiter der neoklassischen Wende. Mit dem ersten sogenannten Haushaltskonsolidierungsgesetz von 1975 fand diese Position ihren Widerhall in der Politik. Allerdings blieb die Ausrichtung der Wirtschaftspolitik in den folgenden Jahren noch unbestimmt und widersprüchlich.

Mit der Krise war aber nur eine – vor allem von dem britischen Ökonomen John R. Hicks und dem US-amerikanischen Ökonomen Paul A. Samuelson geprägte – Interpretation keynesianischer Theorie gescheitert. Diese Variante wird in der Debatte häufig als „hydraulischer“ Keynesianismus oder als „Bastard-Keynesianismus“ (Joan Robinson) kritisiert. Sie ist geprägt von sehr mechanischen Modellannahmen und einer Integration neoklassischer Arbeitsmarktannahmen (neoklassische Synthese). Es darf auch nicht vergessen werden, dass die Abkehr von einer keynesianisch geprägten Politik nicht zu einer Überwindung der Arbeitslosigkeit geführt hat. Ganz im Gegenteil.

Ende der 1970er Jahre spitzte sich die weltweite Wirtschaftslage durch die zweite Ölpreiskrise erneut zu. Zugleich wurde der neoliberale „Fried- man-Monetarismus“ vorherrschend. Die zunehmend angebotsorientierte Wirtschaftspolitik, die verstärkt auf Lohnverzicht, Sozialabbau und Sen- kung der Gewinnsteuern setzt, sowie der radikaler werdende Monetarismus, der eine Phase der Hochzinspolitik unter dem amerikanischen Präsidenten Ronald Reagan einleitete, führte 1982 auch in der Bundesrepublik zu einem scharfen Konjunktureinbruch mit einer schrumpfenden Wirtschaft und mehr als zwei Millionen Arbeitslosen. Das MEMORANDUM 1982 unter dem Titel „Qualitatives Wachstum statt Gewinnförderung – Alternativen der Wirtschaftspolitik“ mit einem Sonderbeitrag „Sicherung und Ausbau des Sozialstaats statt sozialer Demontage – Alternativen zur Finanzierung der Sozialpolitik“ zeigte dazu konkrete Alternativen auf, die aber keine Berücksichtigung in der von der Bundesregierung praktizierten Wirtschaftspolitik fanden. Im Gegenteil: Die Finanz- und Geldpolitik war mit dem Regierungswechsel zu einer schwarzgelben Koalition unter Helmut Kohl nun endgültig auf den neoliberalen Kurs der Reagan-Administration in den USA eingeschwenkt und hatte mit Großbritannien ein EU-Mitglied vor der Haustür, das mit seinem Thatcherismus seit 1979 die Komponenten des Neoliberalismus mit aller Wucht in die Praxis umsetzte.

Die Implosion der DDR – und der Zusammen- bruch des gesamten realsozialistischen Weges – im Herbst 1989 und Frühjahr 1990 stellte die Wirt- schaftspolitik vor völlig neue Probleme. Die Währungsunion zum 1. Juli 1990 mit dem Kurs von 1:1 bzw. 2:1 vernichtete die DDR-Industrie schlagar- tig. Selbst der Sachverständigenrat hatte in einem Sondergutachten im Februar 1990 vorgeschlagen, eine Zehn-Jahres-Konföderation zu bilden, um die DDR-Wirtschaft und -Gesellschaft systematisch auf die „raue Welt“ der westlichen Konkur- renz einzustellen. Die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik erarbeitete ab Februar 1990 zusammen mit einigen DDR-Ökonominnen und -Ökonomen ein Konzept zur langfristigen Stabilisierung und Modernisierung der DDR-Wirtschaft durch einen Transformationsprozess. Kernpunkte waren Maßnahmen zur Verringerung des Konkurrenzdrucks, die Stabilisierung und Modernisierung der ehemaligen Kombinate durch das Prinzip „Sanieren geht vor Privatisieren“ und Maßnahmen, mit denen verhindert werden sollte, dass die Einheit in erster Linie durch die Beschäftigten und die Sozialversicherungen finanziert wird. Mit dem Sondermemorandum „Sozial-ökologisches Sofortprogramm: Risiken der deutsch-deutschen Währungsunion auffangen“ (Mai 1990) wurde ein Programm vorgelegt, mit dem die Betroffenen, Gewerkschaften und linke politische Formationen gut begründete Gegenpositionen zur Regierungspolitik artikulieren konnten.

Nachdem in der Frühphase der Vereinigung noch einige erfolgreiche Maßnahmen durchgeführt wurden – beispielsweise einige Sanierungserfolge („Chemiedreieck“) und vor allem eine breite Abfederung der Arbeitsmarktmisere durch eine aktive Arbeitsmarktpolitik (Arbeitsbeschaffungs- und Strukturanpassungsmaßnahmen – ABM, SAM) –, wurde die Angliederung der DDR schließlich schnell unter marktradikalen Prämissen durchgeführt. Das Ergebnis war – trotz zahlreicher Frühverrentungen – eine explodierende Arbeitslosigkeit. Mitte der 1990er Jahre überstieg die Zahl der registrierten Arbeitslosen in Gesamtdeutschland erstmals die Zahl von vier Millionen. Gleichzeitig wurde das Scheitern des Realsozialismus zur Diskreditierung aller etatistischen und solidarischen Ansätze der gesellschaftlichen Gestaltung benutzt.

In den 1990er Jahren wurde in den USA ein Technologieboom ausgelöst, der mit zeitlicher Verzögerung auch Europa erfasste. Die Informations- und Kommunikationstechnologien wurden revolutioniert. Dies löste eine gigantische Konzen- trations-, Zentralisations- und Privatisierungswelle aus. In Deutschland übernahm Vodafone im Februar 2000 den Industriekonzern Mannesmann für 230 Milliarden DM (118 Milliarden Euro). Dabei ging es ausschließlich um die Mobilfunksparte. Der estliche Konzern wurde anschließend zerschlagen. Die Mobilfunklizenzen in Deutschland wurden von der Bundesregierung für 100 Milliarden DM (51 Milliarden Euro) an private Mobilfunkbetreiber versteigert. In Finnland wuchs mit Nokia der zeitweilig größte Handykonzern der Welt heran. Insbesondere in den USA, in den neuen High- Tech-Sektoren (Google, Apple, Microsoft, Amazon usw.), wurden die Weichen gestellt. Die neu heranwachsende IT-Welt zeigte sich auch in zahlreichen erfolgreichen Start-ups. Die sogenannte New Economy elektrisierte die Menschen und die Märkte. Vor allem die amerikanische Ökonomie erlebte einen kräftigen Wachstumsschub. Unter Ökono- minnen und Ökonomen wurde ernsthaft über das Ende von Wirtschaftskrisen und eine fortdauernde Prosperität diskutiert. Auch wurde dieser Boom der herrschenden Wirtschaftsdoktrin zugeschrieben: Die Innovationskräfte der New Economy könnten sich nur ohne staatliche Bevormundung und Regu- lierungsfesseln entfalten. Die Abhängigkeiten der „alten“ Arbeitsgesellschaft seien überwunden.

Im Herdentrieb entstand eine Spekulationsblase auf der Basis völlig überschätzter Gewinnerwartungen in der New Economy. Mit dem Platzen der New-Economy-Blase scheiterten die Illusionen von einem ewigen und krisenfreien Wachstum schließlich. Viele Neugründungen entwickelten sich zum Flop, und die folgende Gründerkrise ab 2000 hatte gesamtwirtschaftlich negative Auswirkungen und verstärkte die allgemeine Überproduktionskrise. Der Terroranschlag auf die Zwillingstürme des World Trade Centers in New York am 11. September 2001 und der Irak-Krieg lösten in den USA zudem eine neue Rüstungswelle aus und destabilisierten die Weltwirtschaft. Mit der Orientierung auf die Maastricht-Verträge schlug Rot-Grün in Deutschland den völlig falschen und von der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik heftig kritisierten Weg einer noch verschärften prozyklischen und angebotsorientierten Wirtschaftspolitik ein und verstärkte damit die auch in Deutschland angekommene New-Economy-Krise. Das jahres- durchschnittliche reale Wirtschaftswachstum in Deutschland lag in der Folge von 2001 bis 2005 nur noch bei 0,6 Prozent. Die Massenarbeitslosigkeit verschärfte sich noch einmal, die Zahl der Arbeitslosen stieg von 3,9 auf 4,9 Millionen Menschen.

Mit der Behauptung, die Standortbedingungen in Deutschland seien unprofitabel, leitete Rot-Grün 2003 mit der sogenannten Agenda 2010 eine radikale Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik zum einseitigen Vorteil des Kapitals ein, die auch von der rechtsliberalen Opposition begrüßt wurde. Steigende Arbeitslosenzahlen und ein angeblich überbordender Sozialstaat machten „Reformen“ erforderlich, hieß es. Phrasen wie „demografischer Wandel und Überalterung“, „Lohnnebenkosten und internationale Wettbewerbsfähigkeit“, „aktivieren statt sozial alimentieren“ sowie das Bild von Deutschland als „krankem Mann Europas“ wurden vom SVR und anderen neoliberalen Think-Tanks, den meisten Parteien und vielen Medien gebets- mühlenartig verbreitet. Die sogenannte Riester- Rente, eingeführt von der rot-grünen Koalition, war eine Teilprivatisierung der Altersversorgung, die vor allem der Versicherungswirtschaft und den Finanzdienstleistern neue Anlagen bescherte. Durch die wachsende Abhängigkeit von Finanzmärkten nahm die Krisenanfälligkeit der Altersvorsorge zu – Altersarmut war so programmiert. Darüber hinaus wurde das Renteneintrittsalter auf 67 Jahre angehoben. Die Arbeitsmärkte wurden flexibilisiert, und mit den „Hartz-Gesetzen“ wurde schließlich eine Prekarisierung von Beschäftigungsverhältnissen eingeleitet, die ihresgleichen sucht.

Der Rückgang der Arbeitslosigkeit ab 2006 gilt als Legitimation dieses Ansatzes. Bis heute wird oft die Position vertreten, diese Reformen hätten den „kranken Mann Europas“ geheilt und die deutsche Ökonomie für neue Herausforderungen fit gemacht. Sie gelten als Blaupause für die europäische Antikrisenpolitik. Die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik hat in zahlreichen MEMORANDEN diesen Erklärungsansatz widerlegt. Da die Nachfrage durch die Erosion der Masseneinkommen massiv geschwächt wird, führen solche Reformen zu einem Rückgang der Binnennachfrage. Lediglich der Exportsektor kann – über gesunkene Lohnkosten – von diesen Reformen profitieren. Da die Summe der weltweiten Exporte und Importe gleich ist, können aber nicht alle Staaten Exportüberschüsse erzielen. Selbst im exportstarken Deutschland war infolge der Agenda-Politik zwar die Arbeitslosigkeit gesunken, das Arbeitsvolumen aber nicht gestiegen – es lag 2013 noch unter dem Niveau des Jahres 2000. Es wurde keine Arbeit geschaffen, sondern lediglich umverteilt. Mit der dramatischen Zunahme der Zahl der Mini-Jobs in der ersten Hälfte der 2000er Dekade sowie dem andauernden (und für die Betroffenen oftmals nicht freiwilligen) Anstieg der Teilzeitquote an allen Beschäftigten wurde die Arbeitszeit verkürzt – unter prekären Bedingungen.

Die Erschütterungen der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise 2008/09 – der schwersten Krise seit der großen Depression Anfang der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts – haben zunächst auch die neoklassische bzw. neoliberale Vormachtstellung ins Wanken gebracht. Das Erfordernis, zur Bekämpfung von Krisen und Arbeitslosigkeit die Gewinneinkommen zu fördern und die Lohn- und Transfereinkommen zu begrenzen – also der zentrale Kern dieser Ideologie – wurde massiv infrage gestellt. Der Standpunkt der Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik, die Umverteilung von unten nach oben als Krisenursache und nicht als Krisenlösung zu sehen, fand jetzt einen breiteren Widerhall. Stellvertretend für viele seien hier nur die US-amerikanischen Ökonomen Paul Krug- man und Joseph E. Stiglitz, der deutsche Historiker Hans-Ulrich Wehler und der französische Ökonom Thomas Piketty genannt.

„Hat womöglich der Anstieg der amerikanischen Ungleichheiten zur Entfesselung der Finanzkrise von 2008 beigetragen? Bedenkt man, dass der Anteil des obersten Dezils am amerikanischen Nationaleinkommen zweimal Höchststände erreicht hat, einmal 1928 (am Vorabend der Krise von 1929) und einmal 2007 (am Vorabend der Krise von 2008), fällt es schwer, die Frage nicht zu stellen. Meines Erachtens gibt es keinerlei Zweifel daran, dass wachsende Ungleichheit zur Destabi- lisierung des amerikanischen Finanzsystems bei- getragen hat.“ (Thomas Piketty: Das Kapital im 21. Jahrhundert, 2014, S. 391)

Richtigerweise wurde die Krise mit einer – in der Neoklassik nicht vorgesehen – weltweiten expansiven Geld- und Fiskalpolitik bekämpft. Zwar wurde die expansive Fiskalpolitik schnell wieder aufgegeben, und vor allem in der EU wurde die Austeritätspolitik als Krisenlösung für Südeuropa verschärft angewandt. Aber die Grenzen dieser Politik zeichnen sich immer deutlicher ab. Diese Botschaft ist jedoch bis heute bei den neoklassisch dominierten deutschen Hochschulen nicht ange- kommen. Der ökonomische Mainstream und die Wirtschaftspolitik vor allem in Deutschland ste- hen vor einem Dilemma, denn sie halten weiter an der gescheiterten Idee des Neoliberalismus fest. Gleichzeitig nimmt die Akzeptanz dieser Ideologie ab, und die praktische Umsetzung steht vor immer rößeren Schwierigkeiten. Diese Politik funktio- niert in vielen Bereichen immer weniger.

Das Dilemma zeigt sich deutlich bei der Positionierung des Sachverständigenrates zur Beurteilung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (SVR). Seit Mitte der 1970er Jahre ist er ein Hort der reinen neoklassischen bzw. neoliberalen Lehre. Zur Implementierung dieser Politik hat er einen zentralen Beitrag geleistet. Auch in seinem aktuellen Gutachten weicht der SVR nicht von dieser Linie ab. Ganz im Gegenteil: Regelrecht provo- kant überschreibt er das Jahresgutachten 2014/15 mit dem Titel „Mehr Vertrauen in die Marktprozesse“. Allein die Minderheitenvoten von Peter Bofinger widersprechen der neoliberalen Mehrheitsmeinung. Dabei führt das pure Ignorieren der Entwicklung der vergangenen Jahre und der aktuellen Debatten nicht mehr weiter – der SVR verliert massiv an Reputation. Nach der weltweiten Wirtschafts- und Finanzkrise, die durch massives Marktversagen zustande kam, fehlt vielen schon für den Titel des Gutachtens jedes Verständnis. Aber der SVR ignoriert selbst wichtige Positionierungen zur ökonomischen Analyse, die inzwischen einen breiten Konsens gefunden haben – sowohl in der wissenschaftlichen Debatte als auch in der öffent- lichen Meinung. Eine immer ungleicher werdende Verteilung von Einkommen und Vermögen sowie eine massive Investitionsschwäche in Deutschland und Europa werden inzwischen fast einhellig konstatiert. Beides versucht der SVR mit zweifelhafter Methodik zu leugnen. Die Bundesregierung ist inzwischen zu einer kühlen Nichtbeachtung der Gutachten übergegangen. Selbst in Zeitungen wie dem Handelsblatt, das von seiner Positionierung eher im neoliberalen Mainstream angesiedelt ist, gibt es vernichtende Bewertungen. Augen zu und durch – diese Variante der Argumentation funktioniert für die wirtschaftliche Politikberatung nicht mehr.

Die vollständige Kurzfassung des Memorandums und weitere Dokumente finden Sie hier.