Bundeskanzlerin Angela Merkel zur Asyl- und Flüchtlingspolitik, 31.8.2015
Meine Damen und Herren, was sich zurzeit in Europa abspielt, das ist keine Naturkatastrophe, aber es gibt eine Vielzahl katastrophaler Situationen. Es spielen sich unendlich viele Tragödien ab und es gibt auch unfassbares Gräuel, wie vor einigen Tagen in Österreich, als in einem Lkw über 70 Menschen tot gefunden wurden, von skrupellosen Schleppern zugrunde gerichtet. Das sind Gräueltaten, die man gar nicht fassen kann und bei denen man einfach sagen muss: Das sind Bilder, die unsere Vorstellungskraft übersteigen. Das geschieht alles, während wir hier in sehr geordneten Verhältnissen leben.
Wir werden gleich auch über Erstaufnahmeeinrichtungen, Bearbeitungsdauer, Rückführungen, faire Verteilung in Europa, sichere Herkunftsländer, Bekämpfung von Fluchtursachen sprechen. Das müssen wir auch. Aber wir werden vorher darüber sprechen müssen, was uns eigentlich leiten sollte und was auch mich bewegt, wenn wir darüber sprechen, dass in diesem Jahr bis zu 800.000 Menschen zu uns kommen werden. - So die jüngsten Prognosen.
Die allermeisten von uns kennen den Zustand völliger Erschöpfung auf der Flucht, verbunden mit Angst um das eigene Leben oder das Leben der Kinder oder der Partner, zum Glück nicht. Menschen, die sich zum Beispiel aus Eritrea, aus Syrien oder dem Nordirak auf den Weg machen, müssen oft Situationen überwinden oder Ängste aushalten, die uns wahrscheinlich schlichtweg zusammenbrechen ließen. Deshalb müssen wir beim Umgang mit Menschen, die jetzt zu uns kommen, einige klare Grundsätze gelten lassen. Diese Grundsätze entstammen nicht mehr und nicht weniger als unserem Grundgesetz, unserer Verfassung.
Erstens. Es gilt das Grundrecht politisch Verfolgter auf Asyl. Wir können stolz sein auf die Humanität unsres Grundgesetzes. In diesem Artikel zeigt sie sich ganz besonders. Schutz gewähren wir auch all denen, die aus Kriegen zu uns fliehen. Auch ihnen steht dieser Schutz zu.
Der zweite Grundsatz ist die Menschenwürde eines jeden. Das ist ein Grundsatz, den uns schon der Artikel 1 des Grundgesetzes aufgibt. Gleichgültig, ob er Staatsbürger ist oder nicht, gleichgültig, woher und warum er zu uns kommt und mit welcher Aussicht darauf, am Ende eines Verfahrens als Asylbewerber anerkannt zu sein - wir achten die Menschenwürde jedes Einzelnen, und wir wenden uns mit der ganzen Härte unseres Rechtsstaates gegen die, die andere Menschen anpöbeln, die andere Menschen angreifen, die ihre Unterkünfte in Brand setzen oder Gewalt anwenden wollen. Wir wenden uns gegen die, die zu Demonstrationen mit ihren Hassgesängen aufrufen. Es gibt keine Toleranz gegenüber denen, die die Würde anderer Menschen infrage stellen. Wie ich es schon zu Beginn dieses Jahres in meiner Neujahrsansprache gesagt habe, sage ich auch heute denen, die, aus welchen Gründen auch immer, bei solchen Demonstrationen mitlaufen: Folgen Sie denen nicht, die zu solchen Demonstrationen aufrufen! Zu oft sind Vorurteile, zu oft ist Kälte, ja sogar Hass in deren Herzen. Halten Sie Abstand!
Die vollständige Rede finden Sie hier.