Rede von EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker, 9.11.2016
Sehr verehrter Herr Bundestagspräsident, lieber Norbert, liebe Frau Lammert, meine Damen und Herren Abgeordnete, Minister und Botschafter, meine Damen und Herren und für viele von Ihnen liebe Freunde, nun soll ich über Europa reden, aber ich würde auch gerne mal perspektivisch über Europa reden – über das Europa des Jahres 2050.
Wenn man sich das Europa des Jahres 2050 vorstellt, wird man sich daran erinnern müssen, dass Politik eigentlich immer ein Gemisch, eine Schnittmenge zwischen Geographie und Demographie ist. Wir werfen manchmal einen Blick auf Europa, der uns ein falsches Europabild vermittelt. Europa ist der kleinste Kontinent und wir denken wir wären die Herren der Welt. Wir sind nicht die Herren der Welt. Die Welt braucht im Übrigen keine Herren. Wann immer jemand versuchte, sich zum Herrn der Welt emporzuschwingen, ging es schief. Europa ist der kleinste Kontinent: 5,5 Million Quadratkilometer Europäische Union; Russland 17,5 Million Quadratkilometer – noch Fragen, wenn es um die Bedeutung der Europäischen Union geht? Die Geographie gibt eine erste Antwort. Europa, ist heute – die Europäische Union, eine große Handelsmacht. Wir bringen 25% der globalen Wertschöpfung auf die Waage. Im Jahre 2050 wird dem nicht mehr so sein. Dann wird der europäische Anteil an der globalen Wertschöpfung viel geringer sein. 10, 15% – to be seen. Und Europa befindet sich eigentlich im demographischen Abschwung. Wer sich dies vor Augen hält, und an diesen Tatsachen ist nicht zu rütteln – dem wird so sein – Europa wird nicht größer, die Wirtschaft wird nicht anteilkräftiger, und die Demographie wird auch nicht so sein, dass jetzt über Nacht die kontinentale Libido Resultate zeigen würde. Wir bleiben das, was wir sind, und das ist absehbar, wie wir sein werden.
Die Flüchtlingskrise wird kein Land alleine bestehen können, auch nicht das größte Mitgliedsland der Europäischen Union. Und obwohl viele meine Einschätzungen nicht teilen, möchte ich hier sagen, dass ich Angela Merkel sehr bewundert habe während der Flüchtlingskrise. Es ist einfacher, den Populisten nachzulaufen als sich den Populisten in den Weg zu stellen, und mir ist ein deutscher Bundeskanzler lieber, der den Populisten nicht nachläuft, sondern der den Populisten dort wiederspricht, wo es um fundamentale Werte geht. Und das hat Angela Merkel getan.
Wir werden die internationalen Handelsfragen nicht aus nationaler Isolation heraus regeln können. Auch dort braucht es das kräftige Zupacken der Europäischen Union. Alle Probleme, die mit Globalisierung und deren Folgen zusammenhängen, können wir als Nationalstaaten nicht in unserem Sinne regeln. Wir müssen dadurch, dass wir mit anderen zusammenarbeiten und dadurch, dass wir uns zusammenraufen intern, dafür sorgen, dass europäische Normen, europäische Standards zu internationalen Standards werden. Und deshalb müssen wir mit anderen zusammenarbeiten. Ich sage dies, weil ich oft lese, – mit Bitterkeit im Herzen eigentlich und mit Kopfschütteln – die Europäische Union wäre das größte Problem des europäischen Kontinents. Ich bin gegenteiliger Meinung: Die Europäische Union ist die einzige Lösung, die Europa findet, um in der Welt von morgen bestehen zu können.
Politik und Europa, das ist ein Mixtum-Kompositum aus Vernunft und Gefühl. Und weil Vernunft und Gefühl sich die Hand geben müssen, muss man auch zu einer neuen Beschreibung des Zusammenwirkens auf unserem Kontinent kommen. Man darf den Menschen nicht das Gefühl geben als ob man ihnen ihre sofortige Nähe rauben würde, dadurch dass man sich für die europäische Integration einsetzt. Die Nationen, das sind keine provisorischen Erfindungen der Geschichte – die sind auf Dauer eingerichtet. Und man kann Europa nicht zum Erfolg führen, wenn man Europa gegen die Nationen macht. Europa muss mit den Nationen gemeinsam gestaltet werden.
Wir müssen es schaffen – ich weiß noch nicht genau wie –, dass wieder mehr Gefühl für europäische Notwendigkeiten entsteht. Eigentlich müssen wir es schaffen, dass die Europäer sich untereinander wieder ein bisschen mehr lieben. Und wenn nicht lieben, dann wenigstens schätzen. Wir wissen, wenn wir ehrlich sind, nicht genug übereinander. Was wissen wir hier über die Lebensverhältnisse in Nordlappland, und was wissen die Lappen - ich muss das sagen, Christian, du bist mir nicht böse – über Teile Bayerns – nichts. Aber wir reden so, als ob wir alles wüssten. In Europa ist es so gekommen, dass manche sich eine Weltanschauung zurechtlegen, ohne die Welt angeschaut zu haben. Wir müssen die Welt intensiver anschauen und dazu gehört auch, dass wir begreifen, dass Europa mit seiner Aufgabe nicht am Ende angelangt ist, so lange jeden Tag 25 000 Kinder den Hungertod sterben. Dafür sind wir auch verantwortlich.
Vielen Dank fürs Zuhören.
Die vollständige Rede finden Sie hier.