Studie der Bertelsmann Stiftung, 27.3.2017
Im Spätsommer 2015 konnte man eindrucksvoll erleben, wie viel Kraft in der Zivilgesellschaft steckt: Damals strömten Tausende Menschenüber die deutsche Grenze – geflüchtet aus Syrien und anderen Teilen der Welt, auf der Suche nach Sicherheit und einem menschenwürdigen Auskommen für ihre Familien. Empfangen wurden sie mit offenen Armen: An den Bahnhöfen organisierten sich binnen kürzester Zeit Freiwillige, verteilten Essen, Getränke, Kleidung und Decken und bewiesen in einem Moment, in dem staatliche Unterstützungsstrukturen an ihre Grenzen kamen, was menschenmöglich ist, wenn sich viele zusammentun.
In den folgenden Monaten formierten sich zahlreiche Initiativen, um die spontane Hilfe auf Dauer zu stellen und für die neu Angekommenen – von denen viele Traumatisches erlebt hatten – Unterstützung im Alltag zu organisieren, Sprachkurse und Freizeitangebote auf die Beine zu stellen. Viele dieser Hilfsinitiativen gingen von Religionsgemeinschaften aus. Kirchen, Moscheen und andere Glaubenshäuser haben ihre Räumlichkeiten für die Geflüchteten, aber auch für die Organisation der Flüchtlingshilfe geöffnet und ihren Teil zur Vernetzung beigetragen. Religiöse Gemeinden, das zeigte sich in dieser Zeit, sind ein untrennbarer Teil der Zivilgesellschaft, sie bündeln ehrenamtliches Engagement und wirken dabei über die Grenzen der eigenen Glaubensgemeinschaften hinaus.
Es gab allerdings auch kritische Stimmen – diese betrafen fast ausschließlich das muslimische Engagement. So wurden Vorwürfe laut, Muslime würden sich zu wenig an der Flüchtlingshilfe beteiligen und sich scheuen, Verantwortung in der Gesellschaft zu übernehmen – zumal für die eigenen Glaubensbrüder und -schwestern. Auf der anderen Seite wurden in der Öffentlichkeit mögliche Versuche der Einflussnahme auf Flüchtlinge durch radikale salafistische Prediger diskutiert, die auf einen Missbrauch der Flüchtlingshilfe für eine religiöse Indoktrinierung zielen. Aber auch Missionierungsversuche von evangelikalen Gruppen und Massentaufen von Flüchtlingen waren ein Thema.
Diese Wahrnehmungen und Debatten haben wir zum Anlass genommen, genauer zu fragen, welche Rolle Religion und religiöse Einstellungen für die Flüchtlingshilfe spielen. Relevante Aufschlüsse dazu liefert der Religionsmonitor2017, dessen repräsentative Daten die Basis der vorliegenden Studie bilden. Sie können dazu beitragen, die Diskussion auf eine empirische Basis zu stellen und somit zu versachlichen.
Zum dritten Mal nach 2007 und 2013 haben wir in dem aktuellen Religionsmonitor Menschen zur Rolle von Religion und religiöser Vielfalt –für sie ganz persönlich, aber auch für die Gesellschaft als Ganze – befragt. Insgesamt haben sich über 10.000 Menschen aus Deutschland, Österreich, der Schweiz, Frankreich, Großbritannien sowie der Türkei an der Befragung beteiligt. Ein besonderes Anliegen war es uns, religiöse Minderheiten in der Stichprobe angemessen zu berücksichtigen und mehr über ihr Leben und ihre Ansichten zu erfahren.
Insgesamt bestätigen die Ergebnisse des Religionsmonitors, dass es sich lohnt, genauer hinzusehen und Vorbehalte nicht allein deswegen für die Realität zu halten, weil sie allzu oft wiederholt werden. So legt unsere Studie nahe, dass sich Muslime mehr als alle anderen Religionen, aber auch mehr als Nichtreligiöse für Geflüchtete engagieren. Nahezu jeder zweite Muslim und jede zweite Muslimin waren 2016 in der Flüchtlingshilfe aktiv. Die meisten waren nicht nur einmalig, sondern regelmäßig im Einsatz.
Die Studie zeigt auch, dass die Mehrheit der Engagierten kein besonderes Sendungsbewusstsein mitbringt und damit weit entfernt davon ist, Flüchtlinge religiös zu indoktrinieren. Nur eine Minderheit bejaht, möglichst viele Menschen für die eigenen Grundüberzeugungen gewinnen zu wollen. Zu diesen Grundüberzeugungen zählt allerdings in fast allen Fällen eine tolerante Haltung gegenüber anderen religiösen Traditionen und Weltanschauungen. Damit werben diese Befragten nicht zuletzt auch für die freiheitlich-demokratische Grundordnung.
Die vollständige Studie finden Sie hier.