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»›Altersüberschuldung‹ gewinnt nochmals stärker an Bedeutung«

SchuldnerAtlas Deutschland 2020, 10.11.2020

Die Überschuldungslage der Verbraucher in Deutschland hat sich in den letzten zwölf Monaten trotz der negativen Einflüsse der Corona-Pandemie bislang nicht verschlechtert. Im Gegenteil: Die Zahl überschuldeter Verbraucher ist seit Oktober letzten Jahres und zum zweiten Mal in Folge gesunken. Die Überschuldungsquote geht merklich zurück, auch da die Bevölkerungszahl in Deutschland wie in den Vorjahren nochmals zugenommen hat. Auf den ersten Blick ist die aktuelle Überschuldungsentwicklung paradox, da die Corona-Pandemie und die von der Politik weltweit beschlossenen Schutzmaßnahmen die globale Wirtschaft in eine tiefe Rezession geschickt haben. Ein Ende der gesundheitspolitischen und ökonomischen Krisenlage ist angesichts der derzeit anrollenden zweiten Infektionswelle nicht absehbar – die unmittelbaren und mittelbaren Folgewirkungen für Gesellschaft, Wirtschaft und Verbraucher werden gravierender sein als die der Finanz-und Wirtschaftskrise der Jahre 2008 / 2009.

Die Corona-Pandemie bedroht nach aktuellen Analysen des Internationalen Währungsfonds (IWF) auf Jahre hinaus den Wohlstand in vielen Teilen der Welt. Der IWF geht zwar davon aus, dass Deutschland die Folgen der Pandemie besser bewältigen kann als andere Industrieländer, dennoch gehen der Weltwirtschaft nach Berechnungen des IWF durch die Pandemie-Krise von 2020 bis 2025 zusammengenommen rund 28 Billionen Dollar an Wertschöpfung verloren. Zudem zeichnen sich Polarisierungstrends auf dem Arbeitsmarkt ab. Dabei sind Niedrigverdiener, junge Leute und Frauen von den Folgen der Pandemie härter getroffen als andere gesellschaftliche Gruppen. Allein dieses Jahr rutschen demnach 90 Millionen Menschen in extreme Armut.

Aber auch in Deutschland sind die Folgen für Wirtschaft und Verbraucher gravierend: Die Corona-Krise hat dazu geführt, dass viele Verbraucher weniger Geld in der Tasche haben. Die einen haben ihren Job verloren (zwischenzeitlich rund 700.000 Menschen), andere sind in Kurzarbeit (bis zu 7,3 Millionen Menschen im Mai 2020) und wiederum andere können ihrer selbstständigen oder auch teilberuflichen Tätigkeit nicht mehr nachgehen. Schätzungen zu Folge kämpfen derzeit zwei Millionen Kleinstunternehmer, also Freiberufler und Soloselbstständige, um ihre Existenz und stehen bereits jetzt am Rande einer Überschuldung. Zwar haben die staatlichen Hilfsmaßnahmen und -programme die schlimmsten sozialen Auswirkungen abgemildert, Kritiker gehen aber davon aus, dass die Folgen nur in die Zukunft verschoben sind, auch wenn die meisten Verbraucher mit Ausgabenvorsicht und Konsumzurückhaltung auf die ökonomischen Folgen reagiert haben.

Der wirtschaftliche Einbruch in Folge des „Lockdowns“ im Frühjahr war „brutal“. So ging das Bruttoinlandsprodukt (BIP) bereits im 1. Quartal 2020 um 2,2 Prozent und im 2. Quartal um historische 9,7 Prozent zurück (jeweils gegenüber dem Vorquartal). Allerdings hatte sich schon vor den Eindämmungsmaßnahmen die wirtschaftliche Entwicklung deutlich abgekühlt. Vor allem Export und Industrie lahmten bereits seit mehr als einem Jahr, die deutsche Wirtschaft geriet 2019 nahe an eine „technische Rezession“. Die Corona-Krise hat diesen Negativtrend nochmals erheblich verschärft und auch die Binnenkonjunktur ist dadurch betroffen. Derzeit sind nach Angaben des ifo-Instituts von Oktober immer noch mindestens 3,3 Millionen Menschen in Deutschland in Kurzarbeit, im Mai lag ihre Zahl bei 7,3 Millionen. Viele davon könnten in die Arbeitslosigkeit abrutschen und durch reduzierte Einkommen den privaten Konsum als wichtigen Impulsgeber der Konjunktur abschwächen. Ende August 2020 lag die Arbeitslosenzahl in Deutschland bei 2,955 Millionen und damit um rund 690.000 Personen höher als im Durchschnitt des letzten Jahres (+ 30 Prozent). Zudem hat die Zahl der Langzeitarbeitslosen wieder um rund 135.000 Fälle zugenommen (+ 19 Prozent). Das KfW-Mittelstandspanel von Mitte Oktober 2020 geht davon aus, dass bis Ende des Jahres sogar rund 1,1 Millionen Beschäftigte im Mittelstand gefährdet sind und damit etwa so viele, wie in den letzten drei Jahren im Mittelstand aufgebaut wurden.

Nach Angaben der führenden Wirtschaftsforschungsinstitute hat die Pandemie die deutsche Wirtschaft und den Arbeitsmarkt trotz massiver staatlicher Hilfen härter getroffen, als noch im Frühjahr angenommen wurde. Die „Wirtschaftsweisen“ korrigierten Mitte Oktober ihre Prognose für 2020 und 2021 um jeweils etwa einen Prozentpunkt nach unten. 2020 soll demnach das BIP um mehr als 5,4 Prozent zurückgehen (bezogen auf den Vorjahreszeitraum). Im kommenden Jahr könne die deutsche Wirtschaft auf niedrigem Niveau um 4,7 Prozent wachsen, 2022 dann um 2,7 Prozent. Frühestens Ende 2021 werde nach Ansicht der Gutachter das Vorkrisenniveau der Wirtschaftsleistung wieder erreicht. Angesichts der zweiten Infektionswelle geht ein Szenario des Prognos-Instituts von Ende Oktober sogar davon aus, dass die deutsche Wirtschaft erst 2023 wieder auf Vorkrisenniveau sein wird.

Die aktuellen Daten beinhalten trotz positivem Gesamttrend bedenkliche Teilergebnisse. Das Phänomen „Altersüberschuldung“ gewinnt nochmals stärker als in den Vorjahren an Bedeutung. Die Zahl älterer überschuldeter Verbraucher (über 50 Jahre) hat deutlich zugenommen. Die Zahl jüngerer überschuldeter Verbraucher (unter 50 Jahre) hat fast ebenso deutlich abgenommen. Zudem ist zum dritten Mal in Folge die Zahl der Überschuldungsfälle mit so genannter „hoher Überschuldungsintensität“ (vereinfacht: juristische Sachverhalte) zurückgegangen. Hingegen ist die Zahl der Überschuldungsfälle mit geringer Intensität (vereinfacht: nachhaltige Zahlungsstörungen) zum vierten Mal in Folge angestiegen. Offensichtlich spiegelt sich im deutlichen Rückgang der „harten Überschuldung“ zeitversetzt auch der seit Jahren kontinuierliche Rückgang von Privatinsolvenzverfahren und Langzeitarbeitslosigkeit. Der Anstieg der „weichen Überschuldung“ korrespondiert weiterhin und trotz Corona mit den Folgen einer zunehmenden Konsumverschul-dung, die sich durch fast alle Altersgruppen zieht.

Die Überschuldungslage wird sich für viele Verbraucher in Deutschland in den nächsten Jahren deutlich verschlechtern, auch wenn der aktuelle Trend noch positiv ist. Um die künftige Bedrohungslage besser einschätzen zu können, fasst Kapitel 2 die Ergebnisse von drei repräsentativen Online-Umfragen zusammen, die jeweils Ende Mai, August und Oktober 2020 durchgeführt wurden. Sie befassen sich mit der Entwicklung der wirtschaftlichen Lage der Verbraucher und den Auswirkungen der Corona-Pandemie auf das Konsumverhalten in Deutschland. Überschlägige Hochrechnungen lassen Rückschlüsse auf den zu erwartenden Anstieg der Überschuldungsfälle in den nächsten 12 Monaten zu. Weitere Umfragen sind für 2021 geplant.

Kapitel 3 wagt, wie bereits nach Beginn der Finanz-und Wirtschaftskrise ab Ende der 2010er-Jahre, einen Blick auf die Überschuldungslage der Verbraucher in den USA und in Großbritannien. Beide Länder leiden besonders stark unter der Corona-Pandemie – auch bedingt und verstärkt durch fehlende oder weniger stark ausgeprägte soziale Sicherungssysteme und eine mangelnde Handlungsfähigkeit der politischen Administrationen. In Großbritannien wird ein „No-Deal-Brexit“ wahrscheinlicher – mit gravierenden Folgen, nicht nur für die britische Wirtschaft. Die Kurzanalyse der renommierten Haushaltswissenschaftlerin Prof. Dr. Cäzilia Loibl (Ohio State University, U.S.A.) rundet den Themenblock vor dem Hintergrund der Wahl des neuen US-Präsidenten Anfang November ab. Im direkten Vergleich zeigt sich, Deutschland hat derzeit offensichtlich noch „Glück im Unglück“.

Der Gastbeitrag (Kapitel 4) befasst sich mit der Arbeit der Tafel Deutschland e.V., die im September 2020 ihr 25-jähriges Bestehen feierte. Jochen Brühl, seit 2013 Vorsitzender von Tafel Deutschland e.V., beschreibt das Aufgabenprofil der rund 950 gemeinnützigen Tafeln mit ihren rund 2.000 Ausgabestellen für bedürftige Menschen. Brühl zeigt auf, inwieweit in den Tafeln Armut, Altersarmut und Altersüberschuldung miteinander korrelieren. Vor dem Hintergrund des seit Jahren stabilen Trends zur Altersüberschuldung und der zu erwartenden Verschärfung sozialer Problemlagen durch Corona lenkt der Beitrag den Blick auf zwei besonders stark zunehmende Nachfragegruppen der Tafeln: Senioren sowie Familien mit Kindern und Jugendlichen. Seine Conclusio lautet: „Menschen unterstützen, gerade jetzt!“

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