Dokumente zum Zeitgeschehen

»Unser Staat hat sein Versprechen von Schutz, Sicherheit und Freiheit, gegenüber Ihren Angehörigen nicht einhalten können«

Rede von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier zum Jahrestag des Anschlags in Hanau, 19.2.2021

Der 19. Februar 2020 hat sich tief eingegraben in unser Gedächtnis. Ein Jahr nach den brutalen Morden in Hanau sind wir heute wieder hier beisammen, um der furchtbaren Ereignisse zu gedenken – aber vor allem, um der Opfer zu gedenken. Um ihre Namen zu nennen, ihre Namen zu erinnern und nie zu vergessen.

Sich noch einmal dem Schmerz und der Trauer zu stellen, das ist für uns alle an diesem Tag ein schwerer Gang. Aber das gilt zuallererst für Sie, die Verletzten, die Angehörigen der Opfer, ihre engen Freunde. Sie, die jetzt hier sind oder – wegen Corona – diese Stunde des Gedenkens am Bildschirm mit uns teilen. Sie alle haben Menschen verloren, die zu Ihnen gehörten, deren Gesichter und deren Art Ihnen vertraut, ja die Teil Ihres Lebens waren.

All diese geliebten Menschen, sie waren einzigartig und einmalig. Und deshalb – auch wenn die Opfer und auch wenn Sie, die Angehörigen, hier von einem grausamen Geschehen gemeinsam betroffen sind –deshalb ist doch die Trauer und der Verlust, die ein jeder und eine jede verspürt, einmalig und ganz besonders.

Deswegen gedenken wir hier jedes einzelnen Namens und jeder einzelnen mit diesem Namen verbundenen Lebensgeschichte. Und deswegen kann hier jeder seiner ganz persönlichen Trauer noch einmal Raum geben, jenem ganz persönlichen Abschiedsschmerz, den jeder und jede allein für sich zu tragen hat, dessen Last niemand wirklich abnehmen kann, so sehr wir uns auch gegenseitig stützen und trösten mögen.

Natürlich können wir nicht übersehen, was die Toten, um die wir trauern, verbindet. Sie alle sind Opfer eines Täters geworden, der in mörderischer Verblendung in ihnen eine ganz bestimmte Gemeinsamkeit sehen wollte. Allen Opfern war in seinen Augen gemeinsam, dass sie nicht hierhergehörten, nicht hierher nach Hanau, wo die Ermordeten lebten, wo sie geboren, wohin sie gekommen waren, wo sie ihre Heimat hatten und von wo aus sie ihre Lebenspläne machten und diese verwirklichen wollten.

Der Täter maßte sich das Recht an, zu entscheiden, wer hierhergehört und wer nicht. Er maßte sich das Recht an, zwischen "Wir" und "Die" zu unterscheiden; darüber zu richten, wer hier leben dürfe und wer nicht. Er maßte sich das Recht an, über Leben und Tod anderer zu entscheiden.

Jeder einzelne Mensch, um den wir trauern, war einerseits ein zufälliges Opfer, weil er gerade dort war, wo der Täter seinen mörderischen Plan umsetzen wollte. Andererseits waren die Opfer alles andere als zufällig: Weil sie in der hasserfüllten Vorstellung des Täters nicht hierhergehörten, gerade deshalb waren sie das präzise Ziel seines tödlichen Plans. Auch deswegen hat diese Tat ein solches Entsetzen ausgelöst, nicht nur aber gerade unter allen Menschen mit Einwanderungsgeschichte. Sie wissen: Jeder andere von ihnen hätte Opfer dieses mörderischen Anschlags werden können. Und vermutlich wollte der Täter seine Tat genauso verstanden wissen: als Fanal, als Kampfansage an gefundene Formen friedlichen Zusammenlebens.

 

Die vollständige Rede finden Sie hier.