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»Wir sind inmitten der Gefahr eines Krieges in Osteuropa. Und dafür trägt Russland die Verantwortung!«

Antrittsrede von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, 13.2.2022

Dass Sie mir dieses Amt für weitere fünf Jahre anvertrauen, bewegt mich sehr. Es ist mir eine Ehre, eine Freude. Meine Freude aber wäre größer, wenn die Bundesversammlung unter anderen Bedingungen stattfinden könnte, ohne die Beschränkungen der Pandemie. Aber wichtiger noch: Meine Freude wäre größer, wenn unsere Bundesversammlung nicht in eine Zeit der Sorge fiele, Sorge um den Frieden in Europa.

Die Abwesenheit von Krieg auf unserem Kontinent war uns zur Gewohnheit geworden – geschützt von Freunden, in Frieden mit den Nachbarn, seit über dreißig Jahren wiedervereint. Welch ein Glück für unser Land! Doch in diesen Tagen lernen wir neu, was wir hätten wissen können: Frieden ist nicht selbstverständlich. Er muss immer wieder erarbeitet werden, im Dialog, aber wo nötig, auch mit Klarheit, mit Abschreckung, mit Entschlossenheit. All das braucht es jetzt.

Zur Klarheit gehört eines: Man mag viel diskutieren über die Gründe der wachsenden Entfremdung zwischen Russland und dem Westen. Nicht diskutieren kann man dies: Wir sind inmitten der Gefahr eines militärischen Konflikts, eines Krieges in Osteuropa. Und dafür trägt Russland die Verantwortung!

Russlands Truppenaufmarsch kann man nicht missverstehen. Das ist eine Bedrohung der Ukraine und soll es ja auch sein. Aber die Menschen dort haben ein Recht auf ein Leben ohne Angst und Bedrohung, auf Selbstbestimmung und Souveränität. Kein Land der Welt hat das Recht, das zu zerstören – und wer es versucht, dem werden wir entschlossen antworten!

Nicht nur in der Ukraine, in vielen Ländern Osteuropas wächst die Angst. Deshalb stehen wir an der Seite der Esten, der Letten, der Litauer; wir stehen gemeinsam mit Polen, Slowaken und Rumänen und allen Bündnispartnern: Sie können sich auf uns verlassen. Deutschland ist Teil der NATO und der Europäischen Union. Ohne sie würden wir Deutsche nicht in Einheit und Freiheit leben. Das vergessen wir nicht. Ohne jede Zweideutigkeit bekennen wir uns zu den Verpflichtungen in diesem Bündnis.

Verehrte Delegierte, unsere Gemeinschaft ist die Gemeinschaft liberaler Demokratien, die die Stärke des Rechts über das Recht des Stärkeren stellt. Ich weiß wohl: In den Augen von autoritären Herrschern gelten demokratische Institutionen als schwach. Dort, wo alle Macht in einer Hand konzentriert ist, verachtet man eine Versammlung wie diese als belangloses Ritual. Dort gelten demokratische Entscheidungsprozesse als Schwäche, das Recht als Bremsklotz, das Bemühen um Freiheit und Glück der Bürgerinnen und Bürger als naiv. Aber ich kann Präsident Putin nur warnen: Unterschätzen Sie nicht die Stärke der Demokratie!

Warum bin ich da so sicher? Unsere Demokratie ist stark, weil sie getragen wird von ihren Bürgerinnen und Bürgern. Weil sie ihre Kraft nicht mit Unterdrückung, nicht mit Drohung nach außen und Angst im Inneren erkauft. Weil sie den Menschen mehr zu bieten hat als Ideen von nationaler Größe und Herrschaft über andere.

Demokratien sind nicht alle gleich, nein. Aber sie sind einander im Inneren verwandt. Und auch dies verbindet uns: Wir suchen nicht die Konfrontation nach außen. Das ist die gleichlautende Botschaft aus Washington, Paris und Berlin in diesen Tagen: Wir wollen friedliche Nachbarschaft in gegenseitigem Respekt. Bald jährt sich zum 50. Mal die Unterzeichnung der Schlussakte von Helsinki: Möge dieser Jahrestag nicht der Anlass sein, an dem wir uns in Ost und West das Scheitern der Bemühungen um dauerhaften Frieden in Europa eingestehen müssen. Arbeiten wir im Gegenteil für die Erneuerung dieses kostbaren Erbes. Ich appelliere an Präsident Putin: Lösen Sie die Schlinge um den Hals der Ukraine! Suchen Sie mit uns einen Weg, der Frieden in Europa bewahrt!

Unsere Demokratie ist stark – und auch die heutige Versammlung ist ein selbstbewusster Ausdruck dieser Stärke. Schauen Sie sich um in dieser großen Runde: Dass Sie alle heute hier sind, aus allen Teilen unseres Landes, allen Widrigkeiten der Pandemie zum Trotz, das zeigt: Wir achten unsere demokratischen Institutionen. Wir wissen, dass diese Demokratie von der Vielfalt lebt, die Sie alle heute repräsentieren.

Die vollständige Rede finden Sie hier.