Ausgabe November 1998

Die neue Konfliktlinie

Erste Analysen deuten den politischen Erdrutsch vom 27. September als Paradebeispiel einer Persönlichkeitswahl im amerikanischen Stil: Junger, dynamischer Herausforderer schlägt alten, müde gewordenen Amtsinhaber; eine ausgeklügelte und effiziente Kommunikations- und Medienstrategie der SPD trägt einen strahlenden Sieg über halbherzige und eher altbackene Ansätze herkömmlicher politischer Werbung der Union davon. Diese Deutungsversuche erscheinen auf den ersten Blick plausibel. Gerhard Schröder lag während des gesamten Wahlkampfes in allen Popularitätstests weit vor dem Bundeskanzler. Und die SPD eroberte mit ihrer "Kampa" in der Öffentlichkeit früh und zielstrebig die Lufthoheit gegenüber den Parteien des Regierungslagers. Sie konnte alle Versuche der Union und der Liberalen abwehren, einen Stimmungsumschwung in der Wählerschaft herbeizuführen. Als wahlsoziologische Erklärung und politische Bewertung des Wahlausgangs ist die These vom professionell inszenierten Persönlichkeitswahlkampf jedoch nicht überzeugend. Sie haftet zu sehr an kurzfristigen Stimmungen und Kandidatenimages, und sie neigt deshalb dazu, langfristige Grundströmungen und strukturelle Konfliktlagen in der Wählerschaft zu unterschätzen und auszublenden.

November 1998

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