Ausgabe Januar 1992

Wir und sie

Rituale europäischer Selbstkasteiung

Die Dritte Welt existiert nicht. Der Tiersmondismus, der das Gegenteil behauptete, war ein starker Mythos, der antikoloniale Enten und ihre intellektuellen Weggefährten im Westen bewegte. Das machte seine Größe aus - und seine Grenzen. Nebenbei war er noch das hölzerne Pferd sowjetischen und chinesischen Expansionsstrebens - mit welcher Hilfe das Troja des Weltkapitals dann auch nicht zu erobern war.

Antikapitalismus, Antifaschismus, Antikolonialismus - zwei Säulen der linken Selbstgewißheit sind schon weggebrochen. Jetzt soll wenigstens der dritte Säulenheilige Halt geben. Das bereits auf vollen Touren laufende Kolumbus-Jahr kommt gerade recht für Orgien protestantischer Selbstanklage: 1492 ff. - wie der weiße Mann sich schuldig gemacht hat, von Beginn an bis heute. Die südliche Welthälfte - ein Auschwitz in Potenz. Wenn es nach dieser historischen Schuldverteilung ginge, dürfte kein Europäer jemals mehr den Mund auftun außer zu Bußgebeten. Und moralische Umschuldung wäre auf ewig ausgeschlossen.

Was aber war eigentlich so schlecht am Kolonialismus? Die grenzenlose Gier der Kaufleute und Grundbesitzer, der engstirnige Missionsdrang der Priester und Lehrer, die enthemmte Kriegslust der Generäle und Unteroffiziere - koloniale Massaker wie das Sterben der Hottentotten waren Vorboten des rassistischen Jahrhunderts.

Januar 1992

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