Ausgabe Januar 2010

Schweizer Selbstdemontage

Am 29. November 2009 waren die Schweizer Stimmbürger dazu aufgerufen, über eine Initiative abzustimmen, die den Bau von Minaretten ab sofort verbieten und das baurechtliche Detail zudem in der Verfassung (!) verankern wollte. Und was davor kaum einer für möglich gehalten hätte, trat ein: 57 Prozent der Bürger, die an der Abstimmung teilnahmen, stimmten für das Verbot (die Abstimmungsbeteiligung lag bei 53,4 Prozent aller Stimmberechtigten). Und auch die zweite Mehrheit, diejenige der 26 Kantone, wurde spielend erreicht. Einzig die drei französischsprachigen Kantone Genf, Waadt und Neuenburg sowie Basel, die einzige weltoffene Stadt in der deutschsprachigen Schweiz, votierten mit Nein.

Als jedoch anschließend die ganze Elite der Eidgenossenschaft in heilloser Aufregung über das „PR-Debakel“ suggerierte, diese Entscheidung wäre präzedenzlos gewesen, vernebelte sie die wahren Hintergründe. Zwar schritten die vermeintlich zivilen Bürger in der Tat zu ihrer höchst souveränen Selbstdemontage, das jedoch immer getreu dem Motto: „Was den Oberen recht ist, ist den Unteren billig“.

Über viele Jahre hatten nämlich die wirtschaftlichen und politischen Eliten der Schweiz die eigene Zivilität selbst demontiert: mit ihrem Kampf für das Bankgeheimnis, für Steuerbetrüger und für Fluchtgeldschieber aller Kaliber.

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