Jean Zieglers Verabschiedung des Aufklärungsprojekts
Das Signum der europäischen Moderne ist seit den Anfängen der Aufklärung die widersprüchliche Einheit von individueller und gesellschaftlicher Autonomie, von Moral und Politik, von praktischer und instrumenteller Vernunft, von europäischem Sendungsbewußtsein und europäischem Selbstzweifel. Die eigentümlich paradoxe europäische Stimmungslage kurz vor der Jahrtausendwende steht, so gesehen, in einer langen, spezifisch "modernen" Tradition.
Während jedoch in der Epoche, die der "Aufklärung" den Namen gab, politische und moralische, technokratische und technokratie-kritische Motive oft bei einem einzigen Denker (etwa Diderot) auf verwirrende Weise miteinander verknüpft waren, scheint der öffentliche Diskurs über das europäische "Projekt der Moderne" heute zunehmend in zwei disparate Stränge auseinanderzufallen. Einem ungebrochenen europäischen Fortschrittsoptimismus auf Seiten von Staat und Kapital steht ein tiefsitzendes Krisenbewußtsein im Bereich des geistig-kulturellen Lebens gegenüber. Kaum ist in Frankreich die von Staat und Kapital aus Anlaß des "Bicentenaire" mit einem riesigen Medien-Spektakel inszenierte Revolutionsbegeisterung abgeklungen, rüstet sich Spanien mit gigantischem Aufwand zur 500-Jahr-Feier der Entdeckung Amerikas.