Das Wartburgfest - Studentische Korporationen gestern und heute - Historische Erfahrungen und gegenwärtige Herausforderungen für eine demokratische Hochschulpolitik. Aufruf zu einer Konferenz in Marburg vom 19. Bis 21. Juni 1992
Im Oktober jährt sich zum 175. Male das Wartburgfest der deutschen Burschenschaften. Als herausragendes Ereignis in der deutschen Geschichte ist es heute in die Diskussionen über Traditionen und die politischen Leitbilder der vergrößerten Bundesrepublik Deutschland einbezogen. Die Neu- und Wiedergründung von studentischen Verbindungen in Ostdeutschland gibt zusätzlichen Anlaß, ihre Herkunft, ihre Geschichte und Traditionen sowie ihre aktuelle Programmatik und politische Praxis kritisch zu hinterfragen. Die nationalen und konstitutionellen Ideen und Aufbrüche des frühen 19. Jahrhunderts in den deutschen Einzelstaaten waren bei aller antifeudal-fortschrittlicher Grundüberzeugung nicht frei von Tönen der Selbstüberhebung, der Fremdenfeindlichkeit und des Antisemitismus.
Dennoch sind diese Momente von jenen späteren Bestrebungen akademischer Verbindungen und Gruppen zu unterscheiden, die nach der Gründung des Deutschen Reiches, während der Weimarer Republik und bis zum Sturz der faschistischen Diktatur 1945 unter Berufung auf Urburschenschaft und Wartburgfest vorwiegend vertreten wurden. Vor allem schlagende und farbentragende Korporationsverbände wie Burschen-, Turner- und Landsmannschaften oder der Kösener Senioren-Conventsverband erwiesen sich seit der preußisch-deutschen Reichseinigung als überzeugte Wegbereiter und Stützen des Antisemitismus, völkisch-großdeutscher und militaristischer Ziele und schließlich des Nationalsozialismus.
So verkündete beispielsweise die Deutsche Burschenschaft in den Eisenacher Beschlüssen vom August 1920, daß sie auf dem "Rassestandpunkt" stehe und "nur deutsche Studenten arischer Abstammung, die sich zum Deutschtum bekennen", aufnehme. Korporierte Studenten zählten zu wesentlichen Stützen der gegenrevolutionären Freikorps und nahmen an den Putschen von Kapp (1920) und Hitler (1923) teil. Viele von ihnen schlossen sich in der Krise der Weimarer Republik der Nazibewegung an. Führungen und Mitglieder von Korporationsverbänden begrüßten die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 und unterstützten die damit eingeleitete Errichtung der faschistischen Diktatur in Deutschland. Auch wirkten sie an der Bücherverbrennung vom 10. Mai 1933 mit. Die Deutsche Burschenschaft sah sich als Wegbereiterin des Großdeutschen Reiches unter Adolf Hitler und bekannte sich zur nationalsozialistischen "Revolution". In diesem Sinne übergab sie am 18. Oktober 1935 auf der Wartburg dem NS-Gauleiter die Fahne der Urburschenschaft.
Entgegen heutigen Selbstdarstellungen bestanden viele Verbindungen im "Dritten Reich" fort. Diese Fakten begründeten nach der Befreiung vom Faschismus die öffentliche Ablehnung des Verbindungsstudententums sowie die Verbote durch die Alliierten und die deutschen akademischen Gremien in den vier Besatzungszonen. Alle damaligen Konzepte einer grundlegenden Reform von Gesellschaft und Hochschule gingen davon aus, daß eine Wiederbegründung der Verbindungen weder politisch erstrebenswert noch ethisch gerechtfertigt wäre. Die Restauration in den Westzonen und in der früheren Bundesrepublik erwies sich jedoch als stärker. In den fünfziger und frühen sechziger Jahren war das vor allem auf Betreiben der Alttherrenschaften reetablierte und der Vorstellungswelt vergangener Epochen verhaftete Verbindungswesen wieder zur vorherrschenden Organisationsform unter männlichen Studenten geworden.
Es entsprach der politischen Kultur der Kanzlerdemokratie unter Adenauer bzw. dem erhardschen Konzept der formierten Gesellschaft. In der sowjetischen Besatzungszone und in der DDR blieben die Korporationen verboten. Die dem Verbot rechtskonservativer Organisationen zugrunde liegenden antifaschistischen und demokratischen Grundsätze wurden jedoch durch die freiheitsfeindlichen Strukturen des politischen Systems und die repressive Praxis seiner Repräsentanten zunehmend unglaubwürdig und nachhaltig beschädigt. Es besteht heute Grund zur Sorge, daß die durch den raschen Umbruch aller Lebensbereiche in der ehemaligen DDR entstandene Sinn- und Orientierungskrise in Verbindung mit der verstärkten Propagierung nationalistischer Leitbilder vom "Westen" her rechtskonservative bis rechtsextreme ideologische Angebote wieder attraktiv erscheinen läßt. Die in den 80er Jahren begonnene und seit 1989/90 beschleunigte Gründung von Verbindungen in den neuen Bundesländern deutet vor diesem Hintergrund weniger auf eine wiedererlangte Kompetenz zur politischen und sozialen Selbstorganisation hin als auf die unkritische Angleichung an die alte Bundesrepublik nach der Devise, daß alles gut sei, was es in der DDR nicht geben durfte.
Bis heute sind bei einigen Verbindungen, vor allem aus der Deutschen Burschenschaft, Bezüge zum organisierten Rechtsextremismus und Neofaschismus nachweisbar. Der Republikanische Hochschulverband wurde unter Mitwirkung der Münchner Burschenschaft Danubia auf deren Haus gegründet. Großdeutsch-nationalistische Forderungen - heispielsweise auf der burschenschaftlichen Kundgebung am 31. März 1990 auf der Wartburg - signalisieren die inhaltliche Nähe zum rechten Extremismus. Eine selbstkritische Geschichtsaufarbeitung sowie darauf beruhende Schlußfolgerungen für eine demokratische Gestaltung Deutschlands stehen aus. (...) Durch informelle Seilschaften verstoßen studentische Korporationen gegen entscheidende Prinzipien einer demokratisch verfaßten Gesellschaft: gegen den gleichen Zugang zu politischem Einfluß bei offenem und öffentlichem Wettbewerb und gegen den gleichen Zugang zu allen Berufen bei vergleichbarer Eignung, unabhängig von sozialer Herkunft oder Geschlecht. Die "Alten Herren", die ihrer Verbindung qua Lebensbundprinzip verbunden sind und über erheblichen Einfluß verfügen, sorgen für den Karrierestart der jüngeren Verbindungsbrüder in Politik, Wirtschaft und Wissenschaft. Solche Protektionen sind vor dem Hintergrund der gegenwärtigen sozialen Situation der meisten Studierenden skandalös.
Wohnungsnot und Behelfsunterkünfte, überfüllte Hörsäle, die hohe Verschuldung von Bafög-abhängigen Studierenden nach dem Examen und die vielfach geringe Aussicht auf einen der Ausbildung entsprechenden Arbeitsplatz zeigen, daß eine reale Chancengleichheit unabhängig von Geschlecht und sozialer Herkunft nicht gegeben ist. Diese über umfassende Sozialprogramme und einen Ausbau der Hochschulen zu erreichen, wäre Aufgabe einer demokratischen Hochschulpolitik. Die verbandsegoistische Praxis der studentischen Verbindungen ist solchen Zielvorstellungen entgegengesetzt. Der Elitarismus der Korporationen, ihre oftmals zur Ausländerfeindlichkeit und zum Rassismus hin offene Deutschtumsideologie, ihre männerbündischen und frauenfeindlichen Grundsätze stehen im krassen Gegensatz zu den Erfordernissen unserer Zeit: der Vermeidung kriegerischer Konflikte, der Lösung der ökologischen Krise und der Unterentwicklung in den Ländern der "Dritten Welt", der Verwirklichung des Rechts aller Menschen auf ausreichende Nahrung, medizinische Versorgung und Bildung, der Gleichstellung von Mann und Frau. Die streitbare Erörterung der durch die Geschichte wie durch die gegenwärtige Situation aufgeworfenen Fragen ist für das zukünftige Selbstverständnis der Hochschulen, für Forschung und Lehre unverzichtbar.
Diesem Anliegen stellt sich eine Konferenz, die zum Thema "Das Wartburgfest. Studentische Korporationen gestern und heute. Historische Erfahrungen und gegenwärtige Herausforderungen für eine demokratische Hochschulpolitik" vom 19. bis 21. Juni 1992 in Marburg stattfinden wird. Sie wird veranstaltet vom Arbeitskreis Wartburg '92 und dem Bund demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler. Wir laden alle historisch und politisch Interessierten zu dieser Tagung ein.