Ausgabe April 2024

Die Flucht in die Privatschulen

Wie das Versagen der Bildungspolitik zur sozialen Spaltung führt

Im Unterricht an der Evangelischen Gesamtschule Gelsenkirchen-Bismarck, 31.1.2019 (IMAGO / Funke Foto Services / Olaf Ziegler)

Bild: Im Unterricht an der Evangelischen Gesamtschule Gelsenkirchen-Bismarck, 31.1.2019 (IMAGO / Funke Foto Services / Olaf Ziegler)

Die Bildungsrepublik Deutschland befindet sich im freien Fall. Bundesweit verlassen 50 000 Jugendliche jedes Jahr die weiterführende Schule ohne Abschluss. Jedes fünfte Kind geht von der Grundschule ab, ohne den Mindeststandard im Rechnen, Schreiben oder Lesen erreicht zu haben. Die in der Schule vermittelten Kenntnisse der Bruch-, Potenz- und Wurzelrechnung genügen selbst bei denjenigen vielfach nicht mehr, die ein Wirtschafts-, Mathematik- oder Technikstudium aufnehmen möchten. Immer mehr Hochschulen bieten deshalb Propädeutika an, um die Studierfähigkeit der Schulabgänger:innen herzustellen – und dennoch befindet sich die Zahl der Studienabbrecher:innen ebenso wie die der Studienfachwechsler:innen auf einem verlässlich hohen Niveau. Rechtschreibung und Zeichensetzung erfahren zu wenig Aufmerksamkeit in Zeiten, in denen Kinder und Jugendliche knapp 3,5 Stunden pro Tag vor digitalen Endgeräten verbringen. Zugleich zeigt sich immer mehr, dass falsch vermitteltes Schreiben nach Hören mit Lauttabellen ohne frühzeitige Korrektur langfristig korrektes Schreiben verhindert. Entsprechend steigt die Anzahl der jungen Erwachsenen ohne Abitur oder Berufsausbildung kontinuierlich an, auf aktuell fast 1,7 Millionen und damit 16 Prozent der 25- bis 34-Jährigen.[1]

Und auch die Lehrkräfte fühlen sich immer häufiger überfordert: 43 Prozent von ihnen arbeiten in Teilzeit. Gleichzeitig erreichen die Krankmeldungen Rekordwerte: Lehrer:innen in Mecklenburg-Vorpommern meldeten sich im Schuljahr 2021/2022 durchschnittlich 30 Tage krank, nachdem im Schuljahr 2014/15 in Berlin schon einmal durchschnittlich 39 Krankheitstage registriert worden waren. Verschärft wird der Unterrichtsversorgungsengpass dadurch, dass eine wachsende Zahl von Lehrkräften vorzeitig den Dienst quittiert. Ein Viertel leidet schon während der aktiven Zeit an Burnout.[2]

Hinzu kommt, dass bundesweit mehr als 12 000 Stellen unbesetzt sind.[3] Und während die Schülerzahlen deutlich stärker steigen als bisher angenommen – die Kultusministerkonferenz rechnet für 2035 mit zwölf Millionen Schüler:innen und damit 300 000 mehr als 2022 prognostiziert –, werden 2035 den Kultusminister:innen zufolge 24 000 Lehrkräfte fehlen. Bildungsforscher Klaus Klemm rechnet zu diesem Zeitpunkt gar mit einem Defizit von 85 000 Lehrer:innen, da er – anders als die Kultusministerien – unter anderem den Ausbau von Ganztagsangeboten sowie die Anforderungen durch Inklusion in seine Berechnungen einbindet.[4] Die Folgen des Versorgungsengpasses: häufiger Unterrichtsausfall, zu große Klassen, ausgebrannte Lehrer:innen und gravierende Bildungsdefizite bei den Schüler:innen, allen voran bei jenen 40 Prozent Schüler:innen mit Zuwanderungsgeschichte.[5]

All das sind Gründe, warum Lehrkräfte immer wieder Alarm schlagen. Sie verlangen unter anderem Obergrenzen für Klassengrößen und eine schulische Minimalausstattung mit Sozialarbeiter:innen. Gerade angesichts des Lehrkräftemangels sei es dringend notwendig, den Beruf wieder attraktiv zu machen, argumentiert die Bildungsgewerkschaft GEW. Doch damit beißt sie unter anderem in der Berliner Verwaltung auf Granit: Angesichts von schon jetzt 700 fehlenden Lehrkräften in der Hauptstadt würde bei kleineren Klassen nur noch mehr Unterricht ausfallen, heißt es dort. In anderen Bundesländern sieht es nicht viel besser aus. In Nordrhein-Westfalen leiden rund zwei Drittel aller Schulen unter Personalmangel, beinahe 7000 Stellen sind unbesetzt.[6] Im Nachbarland Hessen fehlen derzeit „nur“ 1000 Lehrkräfte, was allerdings auch an mitunter fragwürdigen Maßnahmen der Landesregierung liegt: So wirbt das hessische Kultusministerium um die Unterstützung von Ruheständler:innen, für die Verlängerung von Dienstzeiten sowie für die Fortführung der Arbeit während Elternzeiten. Zudem sind rund 10 000 Personen als Vertretungslehrkräfte ohne Lehrbefähigung beschäftigt.[7] Und auch im Osten der „Bildungsrepublik“ ist die Lage vielerorts dramatisch: In Sachsen sind etwa 1200 Stellen unbesetzt, beinahe jede zehnte Unterrichtsstunde ist im vergangenen Schuljahr 2022/23 ausgefallen.[8] Um dem Mangel beizukommen, setzt der Freistaat vermehrt auf digitale Methoden und selbstständiges Lernen – ganz ohne reguläre Unterrichtszeit. Immerhin 63 digitale „Selbstlernmodule“ für 16 Unterrichtsfächer wurden bereits entwickelt.[9] Für alle Bundesländer gilt zudem, dass sich die Lage angesichts des zum Schuljahr 2026/27 in Kraft tretenden gesetzlichen Anspruchs auf Ganztagsbetreuung an Grundschulen weiter zuspitzen dürfte.

Die Forderung nach einer auskömmlichen Finanzierung der Schulen zielt zum einen auf einen verbesserten Personalschlüssel, zum anderen aber auch auf deren Raum-, Sach- und Materialausstattung. Undichte Dächer, verdreckte Toiletten, verschimmelte Wände, zugige Fenster und defekte Heizungen sind an vielen staatlichen Schulen der Normalfall. Allein dort verzeichnen Städte und Gemeinden einen Investitionsrückstand von 45,6 Mrd. Euro.[10] Die im internationalen Vergleich (zu) niedrigen Ausgaben für das Schulsystem sind der zentrale Grund, warum Bildungschancen hierzulande nach wie vor in besonderer Weise vom sozioökonomischen Hintergrund abhängen – und von einer wachsenden Zahl von Eltern, Schüler:innen und Lehrkräften als inakzeptabel wahrgenommen werden. Zu den eklatanten baulichen Mängeln kommt der wachsende Anteil an Schüler:innen mit Deutsch als Zweitsprache hinzu. Deren Integration misslingt im staatlichen Regelschulsystem nicht nur ausweislich der jüngsten PISA-Daten.

Angesichts dieser alarmierenden Zustände verwundert es nicht, dass sich Privatschulen eines stetig wachsenden Zuspruchs erfreuen. Sie zeichnen sich in den Augen vieler Eltern im Vergleich zu öffentlichen Schulen durch innovativere Profile, breitere Spektren außerunterrichtlicher Aktivitäten sowie umfänglichere Möglichkeiten der individuellen Förderung aus. Das stellt die staatlichen Schulen vor ein Dilemma. Die Erwartungen an Schulen und ihre Lehrkräfte sind so groß wie selten zuvor. Dabei erfordern bilingualer Unterricht, musikalische (Früh-)Förderung, Kooperationen mit Sportvereinen und Kulturvereinen finanzielle und personelle Ressourcen, die in Zeiten klammer (kommunaler) Kassen vielerorts fehlen. Infolgedessen können bislang nur einige wenige öffentliche Schulen den gestiegenen Anforderungen der bildungsbewussten Mittelschicht gerecht werden – einer Mittelschicht, die immer weiter schrumpft und sich angesichts wachsender Ungleichheit sowie sinkender sozialer Mobilität zunehmend in ihrem Statuserhalt bedroht fühlt.

Das Personal macht den Unterschied – egal wo

Privatschulen treffen damit einen Zeitgeist und bieten Kindern vielbeschäftigter Doppelverdienender nicht nur ein umfassendes pädagogisches Angebot, sondern auch äußerst großzügige Betreuungszeiten und damit weitreichende Möglichkeiten, Familie und Beruf besser miteinander vereinbaren zu können. Vor diesem Hintergrund entscheiden sich immer mehr Eltern für das bundesweit wachsende Privatschulsystem. Deren rasantes Wachstum lässt sich schon daran ablesen, dass zeitweilig alle zwei Wochen eine neue Privatschule ihre Pforten öffnete, sodass sich die Zahl der Privatschüler:innen in den vergangenen 30 Jahren beinahe verdoppelt hat. Lag die Quote der Privatschüler:innen 1992 noch bei knapp fünf Prozent, besucht inzwischen jede:r zehnte Schüler:in eine Privatschule. Deren Bestand ist von 1992 bis 2020 um 82 Prozent auf knapp 6000 angewachsen; die Zahl der privaten Grundschulen hat sich in den letzten 20 Jahren sogar vervierfacht.[11]

Das Renommee der Privatschulen hat sich spätestens seit dem PISA-Schock zu Beginn der 2000er Jahre deutlich gewandelt – in nur zwei Jahrzehnten avancierten sie vom Schmuddelkind zur Vorzeigeeinrichtung. Galten sie bis in die 1980er Jahre vielfach noch als Auffangbecken für wenig begabte Kinder aus gutbetuchten Elternhäusern, die sich mit viel Geld und wenig Aufwand das Abitur ihrer Sprösslinge garantieren wollten, werden dieselben Schulen heute als Hort garantierten Bildungserfolgs wahrgenommen.

Aber stimmt es wirklich, dass Privatschulen die besseren Schulen sind und ihre Schüler:innen bestmöglich auf den Arbeitsmarkt vorbereiten? So pauschal kann man das auf keinen Fall sagen. Im Gegenteil: Es gibt viele gute Argumente dafür, dass öffentliche Schulen die besseren Schulen sind – oder jedenfalls sein können. Obwohl die Datenlage vergleichsweise spärlich ist, weil Privatschulen nach wie vor nicht verpflichtet sind, an Erhebungen teilzunehmen bzw. entsprechende Daten öffentlich zugänglich zu machen, unterscheiden sich die beiden Schultypen insgesamt nur moderat bis gar nicht voneinander. Privatschulen sind – insbesondere im Grundschulbereich – im Schnitt kleiner als öffentliche Schulen und können auch mit geringfügig kleineren Klassen aufwarten. Die Differenz beträgt allerdings durchschnittlich nur ein:e Schüler:in pro Klasse.[12] Auch hinsichtlich der Kompetenzen, um die es den meisten bildungsbewussten Eltern nach wie vor geht, unterscheiden sich private zumeist nur geringfügig von öffentlichen Schulen – und zwar sowohl gelegentlich zugunsten als auch zuungunsten der Privatschulen.

Dieser Befund zeigt sich auch im internationalen Vergleich: Wird der sozioökonomische Hintergrund berücksichtigt, erzielen Schüler:innen öffentlicher Schulen durchschnittlich höhere Lesekompetenzen als jene an Privatschulen.[13] Dass Privatschulen – entgegen ihrem positiven Image bei einer stetig wachsenden (über)ehrgeizigen Elternschaft – in kürzester Zeit doch nicht zu leistungsorientierten Eliteschmieden geworden sind, kann mit Blick auf den hierzulande grassierenden Lehrkräftemangel nicht verwundern. Denn nach wie vor gilt, dass die wichtigste Ressource öffentlicher wie privater Schulen die dort tätigen Pädagog:innen sind – deren Qualität und Quantität ist am Ende ausschlaggebend für guten Unterricht und nachhaltige Lernerfolge. Staatliche Schulen aber sind beim Wettbewerb um die besten Lehrkräfte klar im Vorteil: Deutlich höhere Gehälter und – inzwischen wieder bundesweit – der Beamtenstatus machen häufig den Unterschied. Mittel- und langfristig werden die Privatschulen daher besonders hart von einem Mangel an qualifiziertem Personal betroffen sein und noch häufiger als ohnehin schon auf Quer- und Seiteneinsteiger:innen zurückgreifen müssen.

Wenngleich sich private und öffentliche Schulen kaum hinsichtlich Klassengröße und Kompetenzerwerb unterscheiden, liegt die Daseinsberechtigung ersterer in den Augen vieler vor allem in ihrer tatsächlichen oder vermeintlichen Innovationskraft, welche die dringend benötigten Veränderungen des hiesigen Schulsystems anschiebt. So zeichnen sich Privatschulen häufig durch besonders ausgefeilte Schulkonzepte aus und gelten überdies als Vorreiter in puncto Digitalisierung. Doch spezifische Schulkonzepte gehören mittlerweile auch bei öffentlichen Schulen zum Standard. Bildungsaffine Eltern können in den meisten Großstädten zwischen musischen, sprachlichen oder naturwissenschaftlichen Gymnasien wählen. Arbeitsgemeinschaften, Schulchöre oder -orchester sowie Nachmittagsbetreuung werden zugleich an immer mehr staatlichen Schulen angeboten. Daher finden sich sehr viele sehr gute pädagogische Einrichtungen, die innovative und qualitativ hochwertige Schulkonzepte umsetzen, in öffentlicher Trägerschaft. Nicht ohne Grund werden überwiegend öffentliche Schulen mit dem Deutschen Schulpreis ausgezeichnet. Es kommt – so der wenig überraschende Befund – zumeist auf die Schulleitungen vor Ort an, das heißt, auf ihren Willen, ein überzeugendes Konzept zu entwickeln und dieses gemeinsam mit dem Kollegium zu implementieren. Denn jedes Konzept, jede Webseite ist nur schlichte Werbung, solange der dort ausgewiesene Inhalt nicht Eingang in den Schulalltag findet. Diese Binsenweisheit gilt für Privatschulen selbstredend in gleichem Maße.

Digitale Medien – auch ein Teil des Problems

Auch die als Allheilmittel gegen die Bildungsmisere deklarierte und an vielen Privatschulen mit noch größerer Verve als an staatlichen Schulen implementierte Digitalisierung muss Skepsis auslösen. Der Einsatz digitaler Medien garantiert per se überhaupt keinen Lernerfolg, sondern ersetzt in aller Regel lediglich traditionelle Medien als Informationsträger; sie müssen daher, wie letztere auch, pädagogisch sinnvoll in den Unterricht integriert werden, um Lernprozesse anstoßen und begleiten zu können. Vielmehr kristallisiert sich in der empirischen Bildungsforschung bereits die ernüchternde Erkenntnis heraus, dass digitale Medien nicht die Lösung, sondern auch Teil des Problems sind: „Je länger sich Kinder und Jugendliche in ihrer Freizeit mit ihren Smartphones beschäftigen und je mehr Zeit sie in sozialen Medien verbringen, desto geringer ist die schulische Lernleistung.“[14]

Wieso aber zieht es so viele Eltern der Mittelschicht dann doch zunehmend zu den privaten Schulen? Qualifikationsbasierte Aspekte sind bei der Schulwahl letztlich eben nicht ausschlaggebend bzw. entpuppen sich – wie angedeutet – oftmals als reine Illusion: Privatschulen kochen auch nur mit Wasser und verfügen im Schnitt sogar über die weniger gut ausgebildeten Pädagog:innen. Daher lässt sich festhalten, dass die Entscheidung für Privatschulen nicht zuletzt der sozialen Distinktion sowie der gewünschten Statusabsicherung dient: Mit der Wahl der „richtigen“ Schule sollen dem eigenen Nachwuchs Milieunähe und vorteilhafte Netzwerkeffekte zugesichert werden. So versucht sich die Mittelschicht, die nicht mehr sicher sein kann, ihren gesellschaftlichen Status generationsübergreifend verbessern bzw. auch nur aufrechterhalten zu können, von der Unterschicht abzugrenzen.[15] Und darin sind sie durchaus erfolgreich. In bildungsbewussten Kreisen der Mittel- und Oberschicht gelten Gymnasien als „neue Hauptschulen“ und damit häufig als nicht mehr satisfaktionsfähig. Denn die öffentlichen Schulen – auch die Gymnasien – sind vielerorts eben nicht mehr die sozial homogenen Institutionen, die sie bis in die jüngere Vergangenheit hinein noch waren.

Privatschulen verstärken die soziale Ungleichheit

Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass sich der sozioökonomische Status von Schüler:innen (und deren Familien) öffentlicher eindeutig von dem privater Bildungseinrichtungen unterscheidet: So sind die Eltern von Privatschüler:innen weitaus häufiger vermögend als diejenigen, deren Kinder eine öffentliche Schule besuchen, und verfügen fast doppelt so häufig über die allgemeine Hochschulreife. Dies ist jedoch aus gesellschaftspolitischer Perspektive höchst problematisch: So sieht das Grundgesetz unzweideutig vor, dass Privatschulen nur gestattet sind, wenn die „Sonderung der Schüler nach den Besitzverhältnissen der Eltern nicht gefördert wird“ (Art. 7 Abs. 4 S. 3 GG). Denn der Verfassungsgeber wollte mit Artikel 7 lediglich konfessionelle und reformpädagogische Schulen als Ersatzschulen zulassen; die Herausbildung von Eliteschulen sollte dagegen unterbunden werden. De facto geschieht jedoch genau das. Kinder aus einkommensschwächeren Haushalten werden durch die erhobenen Schulgelder effektiv vom Besuch einer Privatschule abgehalten. Selbst diejenigen ärmeren Familien also, die ihre Kinder gerne auf eine Privatschule schicken würden, scheitern daran aufgrund ihres zu geringen Einkommens – eine klare Verletzung des Sonderungsverbots.[16] Diese kausalen Effekte zeigen sich insbesondere bei privat-gewerblichen Schulen wie denen, die zur Phorms Education SE zählen, oder aber bei Internaten wie Schloss Torgelow und Schloss Salem, hingegen weniger bei privat-kirchlichen Schulen und kaum bis gar nicht bei privat-gemeinnützigen Schulen wie freien Waldorf- und Montessorischulen. Letztere sorgen mit Sozialtarifen dafür, dass das Einkommen der Eltern keine Rolle spielt.

Laut der verfassungs- und verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung sind Schulgelder mit dem Verfassungsgrundsatz nur (noch) unter bestimmten Voraussetzungen vereinbar, im Jahr 2016 waren das im Bundesdurchschnitt Beiträge von maximal 160 Euro pro Monat.[17] Diese Obergrenze wird jedoch durch viele Privatschulen nicht eingehalten. Schulgelder zwischen 200 und 500 Euro monatlich sind mittlerweile keine Seltenheit mehr; teilweise liegen sie sogar noch deutlich darüber. Oft kommt noch, wie bei der gewerblich organisierten, trilingualen Erasmus-Grundschule in Frankfurt a. M., zusätzlich eine einmalige „Aufnahmegebühr“ – in ihrem Fall in Höhe von 2200 Euro hinzu – und zwar unabhängig von der Platzzusage. Es ist höchst fraglich, ob diese Schulen so den gesetzgeberischen Anspruch erfüllen können, möglichst vielen Kindern Zugang zu den eigenen Angeboten zu ermöglichen.

Nicht nur daran zeigt sich, dass Privatschulen deutlich wählerischer bei der Entscheidung sind, welche Kinder sie aufnehmen, als staatliche. So ist es für gewerbliche Privatschulen ökonomisch sinnvoll, in Zeiten stagnierender oder gar sinkender staatlicher Zuschüsse beitragsbefreite oder aufgrund des Elterneinkommens weniger Beitrag zahlende Schüler:innen abzuweisen und Kinder von betuchteren Eltern bevorzugt aufzunehmen, von denen sie sich zudem Spenden und höhere Beiträge für Fördervereine versprechen. Auch im internationalen Vergleich zeigt sich, dass mit der zunehmenden Privatisierung von Bildungseinrichtungen die soziale Ungleichheit zunimmt und sich damit gesellschaftliche Spannungen verschärfen. Länder mit einem ausgebauten Privatschulwesen, also einem höheren Anteil privater Bildungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt, weisen eine deutlich höhere soziale Ungleichheit auf als jene mit primär öffentlichen Schulsystemen.[18] Öffentliche Schulbildung wirkt dabei insofern als Garant für eine relative Gleichverteilung des gesellschaftlichen Wohlstands, als sie Kindern unabhängig vom sozioökonomischen Status des Elternhauses den Zugang zu vielversprechenden Karrierewegen öffnet.

Privatschulen unterminieren das Gemeinwohl

Eine besonders wichtige Rolle spielt dabei die berufliche Bildung, die hierzulande zwar zunehmend einen wenig glorreichen Ruf genießt, im internationalen Vergleich aber hervorragend aufgestellt ist und eben auch Jugendlichen mit weniger guten schulischen Leistungen relativ hochwertige und gut bezahlte Beschäftigungsmöglichkeiten bietet. Denn wie das Beispiel der USA zeigt, kann auch die vermehrte Ausgabe von Stipendien in privatisierten Bildungssystemen mitnichten einer hochgradigen Segregation nach Einkommen und Herkunft entgegenwirken – im Gegenteil verschleiert das dadurch hervorgerufene Bild von vermeintlicher Chancengleichheit die bestehenden strukturellen Hürden und trägt zu fatalen Selbst- und Fremdzuschreibungen bei: Diejenigen, die es nicht in die Eliteeinrichtungen und damit „nach oben“ geschafft haben, seien selbst schuld, hätten sie doch prinzipiell die Möglichkeit dazu gehabt. Gleichzeitig wird geschlussfolgert, dass diejenigen, die es geschafft haben, es (sich) verdient hätten, weil sie sich im Wettbewerb mit Eigenleistung, Motivation und Durchhaltevermögen durchgesetzt hätten. Solche Narrative verstetigen soziale Ungleichheit und tragen zu gesellschaftlicher Spaltung, mithin zu Ressentiments der tatsächlich oder vermeintlich „Abgehängten“ und damit zur Wahl populistischer Parteien bei.[19]

Denn eines wird dabei deutlich: Schulen sind weit mehr als Anstalten der Kompetenzvermittlung. Sie sind nicht nur zentrale Erfahrungs-, Schutz- und Sozialisationsräume, sondern zugleich einem ganzheitlichen Bildungs- und Erziehungsauftrag verpflichtet. Gerade in Zeiten von Populismus und Demokratieverdrossenheit wäre es deshalb dringend geboten, diese Kernfunktion von Schulen wieder stärker in den Blick zu nehmen.[20] Individuelle Wahlfreiheit und quasi personalisierte Bildungsangebote mittels Privatschulen mögen aus persönlicher Perspektive vielversprechend klingen. Aus gesellschaftlicher Perspektive indes sind sie fatal.

Wie die neoliberalen Bildungsexperimente in den USA oder Chile zeigen, führen beispielsweise die von Milton Friedman ersonnenen Bildungsgutscheine (vouchers) oder Charter Schools, das heißt öffentlich finanzierte, aber in freier Trägerschaft organisierte Schulen, keineswegs zu besseren Bildungsergebnissen, sondern vor allem zu einer Trennung der Schülerschaft nach Einkommen und familiärer Herkunft.[21] Die Privatisierungen einst auskömmlich finanzierter und qualitativ hochwertiger öffentlicher Schulsysteme führte nachweislich zu sozial gespaltenen Gesellschaften, in denen sich nicht nur soziale Ungleichheiten verbreiten und verfestigen, sondern zugleich das Bildungsniveau generell absinkt. Die Erfahrungen in diesen Ländern zeigen zudem, dass immer dann, wenn sich die Mittelklassen in das Privatschulsystem verabschiedet haben, keine gesellschaftliche Kraft mehr bleibt, die die notwendigen Reformen des öffentlichen Schulsystems politisch wirksam einfordert. Die Mittelschicht sollte sich daher von der Illusion befreien, dass Privatschulen den erwünschten Bildungsschub bringen. Statt die Exitoption zu wählen, sollte sie den öffentlichen Druck auf die (bildungs-)politisch Verantwortlichen erhöhen, das staatliche Regelschulsystem endlich auskömmlich zu finanzieren. Die Kommunen müssen darauf verpflichtet werden, architektonisch, technisch und pädagogisch ansprechende Schulum- und -neubauten für ein flächendeckendes Ganztagsangebot zu realisieren. Gleichzeitig müssen die für das Lehrpersonal verantwortlichen Bundesländer mit einer Verbesserung des Personalschlüssels dafür Sorge tragen, dass alle Kinder Zugang zu einem leistungsstarken und chancengerechten Bildungsangebot haben. Werden die Bildungsausgaben nicht erhöht, bremsen wir nicht nur zukünftige Generationen, sondern auch unsere Zukunft aus. Klar ist jedenfalls eines: Mit einem Festhalten an der Schwarzen Null ist kein (Bildungs-)Staat zu machen.

[1] OECD, Bildung auf einen Blick 2023: OECD-Indikatoren, Paris 2023, S. 62-63.

[2] Nancy Tandler und Lars-Eric Petersen, Schützt Selbstmitgefühl angehende Lehrkräfte vor dem Burnout? Über die protektive Rolle von Selbstmitgefühl im Lehramtsreferendariat, in: „Psychologie in Erziehung und Unterricht“, 2/2021, S. 81-99.

[3] Ricarda Breyton, Sabine Menkens und Freia Peters, Wer jetzt mit der Schule anfängt, steuert auf düstere Zeiten zu, welt.de, 14.2.2023.

[4] Hannelore Crolly, Das ganze Ausmaß des Unterrichtsausfalls und die düstere Prognose, welt.de, 19.10.2023.

[5] Susmita Arp und Miriam Olbrisch, Warum Kinder mit Migrationshintergrund oft schlechter in der Schule sind – und was helfen würde, spiegel.de, 24.11.2023.

[6] Alexander Keßel, Schulen in NRW pfeifen auf dem letzten Loch – Expertin kritisiert bestimmte Maßnahme: „Keinen Sinn“, derwesten.de, 26.1.2023.

[7] Ewald Hetrodt, Streit über Mangel an Lehrern, faz.de, 1.9.2023.

[8] MDR Sachsen, Jede zehnte Unterrichtsstunde in Sachsen ausgefallen, mdr.de, 26.9.2023.

[9] MDR Sachsen, Massiver Personalmangel an Sachsens Schulen – trotz 1.000 neuer Lehrer, mdr.de, 21.8.2023.

[10] Vgl. die vom Deutschen Institut für Urbanistik im Auftrag der KfW durchgeführte Studie: KfW Research: Kosten steigen schneller als die Investitionen: Bedarfe für Schulen weiter hoch, Bericht Nr. 401, 13.9.2022, S. 2.

[11] Statistisches Bundesamt, Bildung und Kultur, Private Schulen – Fachserie 11 Reihe 1.1 – Schuljahr 2020/2021, Wiesbaden 2021.

[12] Tanja Mayer und Thomas Koinzer, Sind Privatschulen die besseren Schulen? Über Forschungsdesiderate und (bislang) verpasste Datenerhebungen, in: Lars Jenßen, Daniel Töpper und Nils Uhlendorf (Hg.), Interdisziplinäre Beiträge zur Bildungsforschung 2023, Berlin 2023, S. 113-131, hier S. 119.

[13] Klaus Klemm et al., Privatschulen in Deutschland. Trends und Leistungsvergleiche, Berlin 2018, S. 49; OECD, PISA 2018 Results (Volume V): Effective Policies, Successful Schools, Paris 2020, S. 162-163.

[14] Klaus Zierer, Zwischen Dichtung und Wahrheit: Möglichkeiten und Grenzen von digitalen Medien im Bildungssystem, in: „Pädagogische Rundschau“, 4/2021, S. 377-392, hier: S. 383.

[15] Manfred Weiß, Allgemeinbildende Privatschulen in Deutschland, Berlin 2011, S. 52; Katja Wippermann u.a., Eltern – Lehrer – Schulerfolg: Wahrnehmungen und Erfahrungen im Schulalltag von Eltern und Lehrern, Stuttgart 2013.

[16] Jascha Dräger, Leo Röhlke und Till Stefes, Geschwisterunterschiede im Privatschulbesuch und Einkommenseffekte zwischen und innerhalb von Haushalten, in: „Zeitschrift für Erziehungswissenschaft“, 1/2022, S. 200; Marcel Helbig, Rita Nikolai und Michael Wrase, Privatschulen und die soziale Frage. Wirkung rechtlicher Vorgaben zum Sonderungsverbot in den Bundesländern, in: „Leviathan“, 3/2017, S. 357-380.

[17] Michael Wrase und Marcel Helbig, Das missachtete Verfassungsgebot – Wie das Sonderungsverbot nach Art. 7 IV 3 GG unterlaufen wird, in: „Neue Zeitschrift für Verwaltungsrecht“, 22/2016, S. 1591-1598, S. 1592.

[18] Evelyne Huber, Jacob Gunderson und John D. Stephens, Private education and inequality in the knowledge economy, in: „Policy and Society“, 2/2020, S. 171-188; Marius Busemeyer, Bildungspolitik im internationalen Vergleich, Konstanz 2015, S. 104.

[19] Michael Sandel, The Tyranny of Merit: What‘s Become of the Common Good?, New York 2020.

[20] Christine Engartner, Michael Schedelik und Tim Engartner, Demokratische Identität als Ziel schulischer politischer Bildung, in: „Zeitschrift für Didaktik der Gesellschaftswissenschaften“, 1/2021, S. 17-35.

[21] Chang-Tai Hsieh und Miguel Urquiola, The effects of generalized school choice on achievement and stratification: Evidence from Chile’s voucher program, in: „Journal of Public Economics“, 8-9/2006, S. 1477-1503; Diane Ravitch, The Death and Life of the Great American School System: How Testing and Choice Are Undermining Education, New York 2010.

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