
Bild: In vierten Klassen zeigen immer mehr Schüler:innen Schwächen beim Lesen. (Tatyana Chernyak / Antonio Munoz Palomares / Design Pics)
Jedes vierte Kind in Deutschland kann am Ende der Grundschulzeit nicht richtig lesen – Tendenz steigend. Und: Die sozialen Unterschiede bei der Lesekompetenz sind seit 20 Jahren unverändert. Das sind die zentralen und skandalösen Ergebnisse der Internationalen Grundschul-Lese-Untersuchung (IGLU 2021).[1] Bereits bei der IGLU-Erhebung vor fünf Jahren war der Anteil der Kinder, die nicht ausreichend lesen können, mit 19 Prozent viel zu hoch. Die aktuellen Zahlen lassen jedoch alle Alarmglocken schrillen: Lesekompetenz ist die wichtigste Grundlage für eine erfolgreiche Schullaufbahn der Kinder sowie für deren spätere Berufs-, Lebens- und Teilhabechancen. Deutschland steuert auf ein gigantisches gesellschaftliches Problem zu, wenn ein Viertel der jungen Menschen nicht mehr Fuß fassen kann.
Die Schulleistungsstudie IGLU untersucht die Lesekompetenz von Schüler:innen der vierten Jahrgangsstufe. Im Fokus stehen dabei nicht die individuellen Leistungen der einzelnen Schüler:innen, sondern die Frage, wie leistungsfähig die jeweiligen Bildungssysteme im internationalen Vergleich sind. Die nun vorliegenden Ergebnisse beruhen auf der IGLU-Studie 2021, Deutschland nahm zum fünften Mal daran teil. Somit können Veränderungen der Leseleistung von Schüler:innen über einen Zeitraum von 20 Jahren beschrieben werden. Dabei zeigt sich, dass sich hierzulande der Anteil der leseschwachen Kinder signifikant vergrößert und der Anteil der leistungsstarken abgenommen hat.
Weitere zentrale Befunde der Untersuchung sind, dass die dabei wirkmächtigen sozialen und migrationsbedingten Disparitäten in Deutschland seit 2001 nicht reduziert werden konnten. In 20 Jahren hat sich im Hinblick auf die Bildungsgerechtigkeit und Chancengleichheit in Deutschland praktisch nichts verändert. So sind die Leseleistungsvorsprünge von Schüler:innen aus sozial privilegierten Familien gegenüber jenen aus weniger privilegierten Familien sehr stark ausgeprägt. Erschreckend ist überdies der (erneute) Befund, dass Kinder von an- und ungelernten Arbeiter:innen deutlich höhere Leistungen erbringen müssen, um eine Gymnasialempfehlung zu erhalten.
Ebenso sind die Leseleistungsvorsprünge derjenigen Schüler:innen, die zu Hause in der Regel Deutsch sprechen, stark ausgeprägt – und zwar stärker als in den OECD-Staaten mit Blick auf die jeweilige Landessprache. Die hiesigen Leseleistungsunterschiede zwischen den Schüler:innen mit und ohne Migrationshintergrund lassen sich eindeutig mit der Sprache und dem sozialen Status der Familie erklären. Auch die geschlechtsspezifischen Unterschiede sind – nachdem sie sich in den letzten Jahren zugunsten der Jungen leicht verbessert hatten –, wieder auf das Niveau von 2001 gefallen.
Die verheerenden IGLU-Ergebnisse werden durch weitere Studien bestätigt. Auch im IQB-Bildungstrend 2021 vom vergangenen Oktober[2] wurde deutlich, dass fast 20 Prozent der Kinder am Ende der vierten Jahrgangsstufe den Mindeststandard im Lesen nicht erreichen. Die IQB-Studie wurde bereits dreimal (2011, 2016 und 2021) durchgeführt, sodass ein Vergleich über zehn Jahre gezogen werden kann. Dabei zeigen sich in allen Testbereichen signifikant negative Trends. Ob beim Lesen oder Zuhören, bei Orthografie oder Mathematik: Der Anteil von Kindern, die den Mindeststandard verfehlen, hat sich erhöht.
Ebenso besorgniserregend ist die im März 2023 erschienene bildungsstatistische Analyse von Klaus Klemm „Jugendliche ohne Hauptschulabschluss“.[3] In den vergangenen zehn Jahren hat sich deren Quote kaum verändert: von 6,1 Prozent 2011 auf 6,2 Prozent im Jahr 2021. Sprich: Jedes Jahr verlassen über 47 000 Jugendliche ohne Abschluss die Schule. Diese Quote halbieren zu wollen, war das schon 2008 auf dem Bildungsgipfel der damaligen Kanzlerin Angela Merkel erklärte Ziel von Bund und Ländern. Doch auch von diesem entfernt sich das deutsche Schulwesen weiterhin.
Klemms Analyse zeigt zudem, dass ein Großteil der Jugendlichen ohne Hauptschulabschluss aus Förderschulen kommt. Diese Schulen sehen häufig gar keinen Schulabschluss vor, und es gibt noch immer viel zu viele von ihnen.[4] Deshalb ist es besonders wichtig, dass wir das Bildungssystem inklusiver gestalten, um nicht weiterhin so viele Bildungsverlierer:innen aus den Schulen zu entlassen.
Alle drei hier zitierten Studien und Analysen umfassen mindestens zehn Jahre – das spricht gegen das derzeit häufig von den politischen Verantwortlichen ins Feld geführte Argument, die aktuellen Missstände seien auf die Coronakrise zurückzuführen. Die Pandemie hat die Lage zwar verschärft, aber die Ursachen für die Misere an den Grundschulen liegen tiefer.
Dramatisch unterfinanziert, zu wenig Personal
Das gesamte Bildungssystem in der Bundesrepublik ist seit Jahrzehnten dramatisch unterfinanziert. In allen Bildungsbereichen, insbesondere in Kindertagesstätten und Schulen, herrscht ein riesiger Personalmangel. Darüber hinaus hat die Politik gerade die Grundschulen in den vergangenen Jahren vernachlässigt. Sie wog sich dabei in trügerischer Sicherheit. Denn die Grundschulkinder erzielten bis in die 2010er Jahre hinein durchaus gute Ergebnisse, während der PISA-Schock 2001 eher die Missstände in der Sekundarstufe I in den Fokus rückte: Die 15jährigen hatten bei der internationalen Schulstudie deutlich schlechter abgeschnitten als erwartet. Grundschullehrkräfte wurden indessen weiterhin schlechter bezahlt als Lehrer:innen an anderen Schularten. Und auch an der Ausstattung und Sanierung der Schulen wurde gespart. Ein Numerus clausus für das Grundschullehramt an vielen Hochschulen verknappte zusätzlich das Angebot an Anwärter:innen für den Beruf. Die Folge: Immer weniger junge Menschen wollten an dieser Schulart unterrichten, seit Jahren können weit über tausend Leitungsstellen an Grundschulen nicht besetzt werden. An keiner anderen Schulart ist der Lehrkräftemangel so dramatisch wie an den Grundschulen. Doch für einen qualitativ hochwertigen Leseunterricht, der nicht nur die basalen Leseleistungen unterstützt, sondern auch Lesestrategien beinhaltet, bedarf es einer guten Unterrichts- und Schulentwicklung und dafür deutlich mehr Zeit für die Kinder und gut ausgebildete Pädagog:innen.
Hinzu kommt, dass die Bundesrepublik im EU-Durchschnitt besonders wenig Mittel in die Leseförderung der Kinder investiert – und das, obwohl angesichts der steigenden Nutzung digitaler Geräte hierauf ein besonderer Fokus liegen sollte. So ist es kein Wunder, dass die Lesemotivation der Kinder sinkt – und damit auch die Leseleistungen immer schlechter werden. Insbesondere hat es die Politik versäumt, Kinder aus armen und benachteiligten Haushalten besser zu unterstützen. In der Summe sind diese Vernachlässigungen unverantwortlich. Denn an den Kindertagesstätten und den Grundschulen wird der Grundstein für eine umfassende ganzheitliche Entwicklung der Kinder gelegt. In den Kitas, in denen Plätze im sechsstelligen Bereich fehlen, führen der Fachkräftemangel und der hohe Fachkräfte-Kind-Schlüssel zu größeren Gruppen, in denen es schlichtweg weniger gut gelingen kann, den Wortschatz der Kinder spielerisch im Alltag zu fördern.[5]
Jahrelang verharrten hierzulande die öffentlichen Ausgaben für Bildung bei 4,3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP). Zum Vergleich: Norwegen investiert 6,3 Prozent seines BIPs pro Jahr, die OECD-Staaten im Schnitt 5,2 Prozent. Zwar stieg 2020 – also im Jahr eins der Coronakrise – der Anteil der öffentlichen Bildungsausgaben am BIP auf 4,9 Prozent an, aber nur, um 2021 wieder auf 4,7 Prozent zu sinken.[6] Dieser anhaltende Sparkurs macht sich insbesondere in den Kitas und Grundschulen bemerkbar. Doch was im Grundschulalter nicht erreicht wird, ist später kaum aufzuholen – und zieht enorme gesellschaftliche Kosten nach sich. Vor allem aber lautet der Skandal: Kinder und Jugendliche werden nicht in dem Maße gefördert und gebildet, wie es notwendig wäre, um endlich den engen Zusammenhang von Bildungserfolg und sozialer Herkunft zu entkoppeln.
Blick auf soziale Ungleichheit tut not
Der dramatische Lehr- und Fachkräftemangel sowie die chronische Unterfinanzierung sind die Kardinalprobleme an den Schulen. Es muss also deutlich mehr Geld in die Grundschulen und in gezielte Leseförderprogramme fließen; zusätzlich müssen die Ganztagsangebote ausgebaut werden. Sonst können die Grundschulen ihrem Anspruch, eine Schule für alle Kinder zu sein und Bildungsungerechtigkeiten abzubauen, immer weniger gerecht werden. Hierfür braucht das Land dringend mehr gut aus- und fortgebildete Lehrkräfte, die auf das Lehren unter schwierigen sozialen Bedingungen und in zunehmend heterogenen Gruppen gut vorbereitet sind. So müssen Konzepte der Leseförderung einen festen Platz in der Ausbildung der Lehrkräfte bekommen, was bislang viel zu wenig der Fall ist. Auch müssen die Leseförderprogramme besonders auf benachteiligte Schüler:innen zugeschnitten sein. Zudem sind gut ausgestattete Schulbibliotheken und auch eine bessere Beratung der Eltern bereits ab der Kitazeit notwendig.
Um mehr Lehrkräfte zu gewinnen, hat die GEW ein 15-Punkte-Programm gegen den Lehrkräftemangel[7] vorgelegt. Sie mahnt unter anderem die Bundesländer, in denen Grundschullehrkräfte immer noch schlechter bezahlt werden als andere Lehrkräfte, endlich ihre Blockadehaltung aufzugeben. Viele Lehrkräfte arbeiten bereits jetzt am Limit – und oft weit darüber hinaus, wie zahlreiche Arbeitszeitstudien der jüngsten Zeit belegen. Ein System, das so auf Verschleiß fährt, muss aber früher oder später kollabieren. Doch die Vorschläge der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission der Kultusministerkonferenz und viele derzeitige Maßnahmen gegen den Personalmangel in den Bundesländern drohen die Lehrkräfte noch mehr zu belasten und bürden ihnen die Folgen des Politikversagens auf. So lassen sich kaum noch junge Menschen für diesen eigentlich wunderbaren Beruf begeistern.
Mehr Bildungsinvestionen
Die Grundschulen brauchen Unterstützung, um die Folgen der zunehmenden sozialen Ungleichheit bei den Schüler:innen endlich wirksam abzubauen. Diese muss von Schulsozialarbeit und schulpsychologischem Dienst flankiert werden. Die IGLU-Ergebnisse zeigen ein weiteres Mal, wie wichtig es ist, dass das „Startchancenprogramm“ für benachteiligte Schulen der Bundesregierung endlich in Gang kommt: Dieses Programm sieht eine finanzielle Förderung von bundesweit 4000 Schulen in besonders schwierigem Umfeld vor, bestehend aus einem sogenannten Chancenbudget zur freien Verfügung sowie Geld für Investitionen in eine zeitgemäße Lernumgebung.
Außerdem ist geplant, dass der Bund an weiteren bis zu 4000 Schulen zusätzliche Sozialarbeiter:innen mitfinanziert. Es ist völlig unverständlich und fatal, dass das Programm immer noch nicht verabschiedet ist. Obwohl es bereits auf das Schuljahr 2024/25 verschoben wurde, stehen die Mittel immer noch unter Haushaltsvorbehalt. Dieser muss unbedingt ausgeräumt werden.
Außerdem muss die für das Startchancenprogramm geplante Summe von einer Milliarde Euro deutlich aufgestockt und endlich nach Sozialindex und nicht länger nach dem sogenannten Königsteiner Schlüssel, nach dem die Bundesländer Zuwendungen je nach Steueraufkommen und Bevölkerungszahl erhalten, verteilt werden.[8] Die finanziellen Mittel dürfen nicht länger mit der Gießkanne ausgeschüttet werden, sondern müssen dort ankommen, wo sie wirklich gebraucht werden – insbesondere in Gegenden mit niedrigem Einkommen. Bund und Länder sollten sich endlich zusammenraufen: Die Zukunftschancen der Kinder dürfen nicht im Parteiengezänk zerrieben werden. Nur so kann die Bundesregierung das „Jahrzehnt der Bildungschancen“, das sie ausgerufen hat, einlösen. Um die notwendigen Investitionen in Kita und Schule zu bewältigen, haben zahlreiche Verbände, die GEW und Einzelpersonen ein Sondervermögen Bildung in Höhe von mindestens 100 Mrd. Euro vorgeschlagen. Sie fordern zudem, jährlich mindestens zehn Prozent des BIP in Bildung und Forschung zu stecken.[9]
Weitere wichtige Reformvorhaben wie der Ausbau des Ganztagsbetriebs oder der Inklusion dürfen dabei nicht ins Stocken geraten. Wenn das Schulwesen leistungsstärker und gerechter werden soll, müssen wir allen Kindern und jungen Menschen die bestmögliche Bildung in einem inklusiven Schulsystem bieten. Dabei gilt: Wer sich um den Output sorgt, darf weder über den Input noch über die selektive Struktur und Philosophie des Schulwesens schweigen.
[1] Vgl. Nele McElvany, Ramona Lorenz, Andreas Fey, Frank Goldhammer, Anita Schilcher, Tobias C. Stubbe (Hg.), IGLU 2021 – Lesekompetenz von Grundschulkindern im internationalen Vergleich und im Trend über 20 Jahre, Münster und New York, 2023.
[2] Vgl. Petra Stanat, Stefan Schipolowski, Rebecca Schneider, Karoline A. Sachse, Sebastian Weirich, Sebastian und Sofie Henschel (Hg.), IQB-Bildungstrend 2021 – Kompetenzen in den Fächern Deutsch und Mathematik am Ende der 4. Jahrgangsstufe im dritten Ländervergleich, Münster und New York 2022.
[3] Klaus Klemm im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung (Hg.), Jugendliche ohne Hauptschulabschluss – Demographische Verknappung und qualifikatorische Vergeudung, www.bertelsmann-stiftung.de, 6.3.2023.
[4] Vgl. Anna-Sofie Turulski, Anzahl der Förderschulen in Deutschland in den Schuljahren von 2010/2011 bis 2021/2022, www.destatis.de, 5.5.2023.
[5] Vgl. den Text von Franziska Meyer-Lantzberg, Stefan Kerber-Clasen und Yalcin Kutlu in der kommenden August-Ausgabe.
[6] Vgl. Bildungsfinanzbericht 2022, www.destatis.de, Dezember 2022.
[7] 15 Punkte gegen Lehrkräftemangel, www.gew.de, 1.12.2022.
[8] Die GEW hat dazu Alternativen aufgezeigt: Detlef Fickermann, Jörg-Peter Schräpler, Horst Weishaupt unter Mitarbeit von Hans-Peter Füsse, Alternativen zum Königsteiner Schlüssel. Verteilung von Bundesmitteln im Rahmen von Bund-Länder-Vereinbarungen im Bildungsbereich, www.gew.de, August 2022.
[9] Vgl. den Appell „Bildungswende JETZT!”, www.gew.de.