Ausgabe Januar 1993

Ungarn - mit dem Blick von 1993

Versuch einer Annäherung an den Systemwechsel

Eine wissenschaftliche Analyse der Wandlungsprozesse in den ehemals realsozialistischen Ländern wird oft dadurch erschwert, daß damalige Sichten als Kombattant in den politischen Auseinandersetzungen auf die Untersuchung übertragen, alte Denkschemata und Mythen durch neue ersetzt bzw. gegenwärtige Parteienkämpfe im Gewand der Beschäftigung mit der Vergangenheit ausgetragen werden oder aber ein Ex-post-Blickwinkel gewählt wird, als wäre für jeden von Anfang an sichtbar gewesen, wie der Ost-West-Konflikt ausgeht.

Nachdem der Realsozialismus bzw. der Marxismus-Leninismus als geschichtsmächtige Kraft verschwunden ist, fällt derlei natürlich besonders leicht. Eine eigentümliche Variante ist, die frühere Charakterisierung Ungarns unter Kadar als "lustigste Baracke im Lager" des Sozialismus nunmehr der westlichen Politikwissenschaft als Versäumnis der systemimmanenten Forschungsstrategie vorzuhalten, statt die Hintergründe in den tatsächlichen damaligen Verhältnissen zu sehen. Die Gesellschaften in den Ländern Osteuropas hatten untereinander eine beachtliche Variationsbreite, schon von den Konstituierungsbedingungen des Realsozialismus her, dann in der sozialistischen Entwicklung selbst und schließlich im Verlauf sowie in den Ergebnissen des Systemwechsels.

Sie haben etwa 4% des Textes gelesen. Um die verbleibenden 96% zu lesen, haben Sie die folgenden Möglichkeiten:

Artikel kaufen (1€)
Digitalausgabe kaufen (10€)
Anmelden

Aktuelle Ausgabe September 2025

In der September-Ausgabe plädiert Lea Ypi für eine Migrationsdebatte im Sinne der Aufklärungsphilosophie. Cinzia Sciuto fordert, der zunehmenden Aushöhlung des Völkerrechts mit einer entschiedenen Verteidigung desselben zu begegnen – und nicht mit Resignation und falschem Realismus. Für Georg Diez markieren die Kriegsverbrechen in Gaza und die fehlenden Reaktionen darauf einen Epochenbruch; sie stünden für nicht weniger als den Verrat des Westens an der Humanität. Herfried Münkler analysiert, wie Kriege historisch endeten und Friedenszeiten begannen und was das mit Blick auf den Ukrainekrieg bedeutet. Simone Schlindwein deckt auf, wie Russland junge Afrikanerinnen mit falschen Versprechen für die Kriegswirtschaft rekrutiert. Warum die grüne Digitalisierung ein Mythos ist und was der KI-Boom den Globalen Süden kostet, erläutern Ingo Dachwitz und Sven Hilbig. Und Eva-Maria Klinkisch sowie Markus Rieger-Ladich zeigen auf, wie Long Covid-Betroffene von der Gesellschaft und dem Gesundheitssystem systematisch ignoriert werden – und was dagegen zu tun ist. 

Zur Ausgabe Probeabo

Weitere Artikel zum Thema

Politik vor Recht: Die Aushöhlung der liberalen Demokratie

von Miguel de la Riva

Als der FPÖ-Chefideologe und heutige Parteivorsitzende Herbert Kickl im Januar 2019 in einem ORF-Interview darauf angesprochen wurde, dass seine Asylpläne an die Grenzen von EU-Recht, Menschenrechtskonvention und Rechtsstaat stoßen, antwortete der damalige österreichische Innenminister, „dass das Recht der Politik zu folgen hat und nicht die Politik dem Recht“.

Ernst, aber nicht hoffnungslos

von Thorben Albrecht, Christian Krell

Spätestens seit Ralf Dahrendorfs berühmt gewordener These vom „Ende des sozialdemokratischen Jahrhunderts“ gehören SPD-Niedergangsprognosen zu den Klassikern der parteibezogenen Publizistik. Die Partei hat diese Prognose bisher um 42 Jahre überlebt. Aber das konstituiert keine Ewigkeitsgarantie.