Ausgabe Juni 1993

Gefordert ist demokratische Willensbildung

Auf die Frage, was die Nation sei, schrieb der französische Philosoph Ernest Renan vor mehr als einem Jahrhundert: "Die Nation ist eine tägliche Volksabstimmung." Vor drei Jahren hätte ich mich noch gegen die Implikationen dieses Satzes - bezogen auf die deutsche Situation gewandt. Damals glaubte ich, das neue Deutschland dürfe nicht wie ein Findelkind aus dem Nichts auftauchen, es müsse vielmehr durch ein feierliches Verfassungssakrament - sei es Artikel 146 des Grundgesetzes, sei es eine Volksabstimmung demokratisch gegründet und begründet werden. Heute jedoch neige ich in weit höherem Maße jener Auffassung Renans zu: Das vereinte Deutschland bedarf keiner Legitimation; es macht vielleicht eine nicht gerade attraktive oder angenehme Gründerzeit durch, muß deswegen aber nicht auch noch eine "Begründerzeit" erleben.

Was gälte denn als adäquate Begründung? Eine Volksabstimmung? In beiden Teilen? Die Wahlen im Osten Deutschlands vom 18. März 1990 hatten immerhin die Funktion eines Plebiszits, wenn sie auch nicht als ein solches durchgeführt wurden. Aus der Sicht des Westens war die Verpflichtung zur Einheit von Beginn der Bundesrepublik an im Grundgesetz verankert.

Juni 1993

Sie haben etwa 28% des Textes gelesen. Um die verbleibenden 72% zu lesen, haben Sie die folgenden Möglichkeiten:

Artikel kaufen (1€)
Digitalausgabe kaufen (10€)
Anmelden

Aktuelle Ausgabe Dezember 2025

In der Dezember-Ausgabe ergründet Thomas Assheuer, was die völkische Rechte mit der Silicon-Valley-Elite verbindet, und erkennt in Ernst Jünger, einem Vordenker des historischen Faschismus, auch einen Stichwortgeber der Cyberlibertären. Ob in den USA, Russland, China oder Europa: Überall bilden Antifeminismus, Queerphobie und die selektive Geburtenförderung wichtige Bausteine faschistischer Biopolitik, argumentiert Christa Wichterich. Friederike Otto wiederum erläutert, warum wir trotz der schwachen Ergebnisse der UN-Klimakonferenz nicht in Ohnmacht verfallen dürfen und die Narrative des fossilistischen Kolonialismus herausfordern müssen. Hannes Einsporn warnt angesichts weltweit hoher Flüchtlingszahlen und immer restriktiverer Migrationspolitiken vor einem Kollaps des globalen Flüchtlingsschutzes. Und die Sozialwissenschaftler Tim Engartner und Daniel von Orloff zeigen mit Blick auf Großbritannien und die Schweiz, wie wir dem Bahndesaster entkommen könnten – nämlich mit einer gemeinwohlorientierten Bürgerbahn. 

Zur Ausgabe Probeabo

Weitere Artikel zum Thema

Vom Proletariat zum Pöbel: Das neue reaktionäre Subjekt

von Micha Brumlik

Gewiss, es waren keineswegs nur Mitglieder der US-amerikanischen weißen Arbeiterklasse, die Donald Trump an die Macht gebracht haben. Und doch waren es auch und nicht zuletzt eben jene Arbeiter und Arbeitslosen – und genau hier liegt das eigentliche Erschrecken für die Linke.