Auf die Frage, was die Nation sei, schrieb der französische Philosoph Ernest Renan vor mehr als einem Jahrhundert: "Die Nation ist eine tägliche Volksabstimmung." Vor drei Jahren hätte ich mich noch gegen die Implikationen dieses Satzes - bezogen auf die deutsche Situation gewandt. Damals glaubte ich, das neue Deutschland dürfe nicht wie ein Findelkind aus dem Nichts auftauchen, es müsse vielmehr durch ein feierliches Verfassungssakrament - sei es Artikel 146 des Grundgesetzes, sei es eine Volksabstimmung demokratisch gegründet und begründet werden. Heute jedoch neige ich in weit höherem Maße jener Auffassung Renans zu: Das vereinte Deutschland bedarf keiner Legitimation; es macht vielleicht eine nicht gerade attraktive oder angenehme Gründerzeit durch, muß deswegen aber nicht auch noch eine "Begründerzeit" erleben.
Was gälte denn als adäquate Begründung? Eine Volksabstimmung? In beiden Teilen? Die Wahlen im Osten Deutschlands vom 18. März 1990 hatten immerhin die Funktion eines Plebiszits, wenn sie auch nicht als ein solches durchgeführt wurden. Aus der Sicht des Westens war die Verpflichtung zur Einheit von Beginn der Bundesrepublik an im Grundgesetz verankert.