Ausgabe März 2000

Wie ich lernte, die Börse zu lieben

Oder: Die Neuerschaffung der Welt im dritten Jahrtausend

Wenn Frau Martha Kunze in Schmachtenhagen wissen will, ob sie die Wäsche raushängen kann oder ob es heute wohl regnen wird, und die 8-Uhr-Nachrichten im Radio anstellt, so erfährt sie vor dem Wetterbericht erst einmal, wie in Tokio gerade der Nikkei-Index steht. Frau Kunze besitzt ebensowenig japanische Aktien wie wohl andere 99,8 Prozent der Hörer. Und diejenigen in Deutschland, die am Nikkei hängen, sind ohnehin auf Knopfdruck mit den Weltbörsen online. Das ist symbolische Information und pädagogische Nachrichtengebung. Die Leute erfahren nicht, was sie interessiert, sondern was sie interessieren sollte. Das waren einst in dunkleren Zeiten die stereotypen Phrasen oder Scheininformationen aus Führerhauptquartier und Politbüro. Heute in der lichtvollen Epoche der Globalisierung sind es die Indizes der Finanzmärkte. Denn jede Gesellschaft braucht Idole. Sie braucht Typen, mit denen man sich voller verstiegener Hoffnung identifiziert. Und der Leittypus dieser ultra-dynamischen durchamerikanisierten Epoche ist der Yuppie, und zwar derjenige Young Urban Professional, der sein schnelles Geld mit cleveren oder glückhaften Spekulationen macht oder als Dienstleister der Finanzbranche hochbezahlt das Geld der Kundschaft mehrt oder kunstreich in den Sand setzt. Selbstverständlich dient diese hochgezüchtete Spekulationsbegeisterung dem Gemeinwohl.

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Aktuelle Ausgabe September 2025

In der September-Ausgabe plädiert Lea Ypi für eine Migrationsdebatte im Sinne der Aufklärungsphilosophie. Cinzia Sciuto fordert, der zunehmenden Aushöhlung des Völkerrechts mit einer entschiedenen Verteidigung desselben zu begegnen – und nicht mit Resignation und falschem Realismus. Für Georg Diez markieren die Kriegsverbrechen in Gaza und die fehlenden Reaktionen darauf einen Epochenbruch; sie stünden für nicht weniger als den Verrat des Westens an der Humanität. Herfried Münkler analysiert, wie Kriege historisch endeten und Friedenszeiten begannen und was das mit Blick auf den Ukrainekrieg bedeutet. Simone Schlindwein deckt auf, wie Russland junge Afrikanerinnen mit falschen Versprechen für die Kriegswirtschaft rekrutiert. Warum die grüne Digitalisierung ein Mythos ist und was der KI-Boom den Globalen Süden kostet, erläutern Ingo Dachwitz und Sven Hilbig. Und Eva-Maria Klinkisch sowie Markus Rieger-Ladich zeigen auf, wie Long Covid-Betroffene von der Gesellschaft und dem Gesundheitssystem systematisch ignoriert werden – und was dagegen zu tun ist. 

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