Ausgabe November 2000

Die präsidiale Kanzlerschaft

Die anfangs harsche, nahezu vernichtende Kritik an Gerhard Schröder und seinem Kabinett fällt zwei Jahre später erheblich verhaltener und moderater aus. Das Berliner Pressekorps und die neuen Leute der Regierungsmehrheit scheinen sich mittlerweile gar zu mögen. Das "schmoozing with the press" beherrscht der Kanzler schließlich ziemlich perfekt. Und doch haben einige unverdrossen nachdenkliche Kommentatoren in ihrer Bilanz zu Beginn der Sommerpause auch Fragezeichen hinter die Regierungstechnik des Kanzlers gesetzt. Deren Klage galt allerdings nicht mehr - wie noch in den ersten Monaten von Rot-Grün - Chaos, Pannen und Inkompetenz. Gerügt wurde vielmehr eine neue Variante informellen Regierens, die sich im Kanzleramt breit gemacht hat. Einige Interpreten warnten gar vor einem Souveränitätsverlust der Legislative, witterten einen Trend zur Entparlamentarisierung der Republik. Für sie bastelt Schröder an der präsidialen Neuformierung des politischen Systems. Der Bundesvorsitzende der Jungsozialisten brachte den neuen Regierungsstil seines Parteivorsitzenden ein wenig maliziös auf den Begriff der "Kungelrundendemokratie". Sonst blieb es in der SPD zwar noch ruhig, aber das unterschwellige Unbehagen ließ sich bei den mittlerweile stillgelegten Basisaktivisten nachgerade mit Händen greifen.

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