Ausgabe Juli 2002

Ein Zeichen paradoxer Hoffnung

Aufruf zur Hilfe und Unterstützung zivilgesellschaftlicher Initiativen für Zusammenarbeit und demokratische Partizipation in Israel und Palästina (Wortlaut)

Es gehört zur Tragik des israelisch-palästinensischen Konfliktes, dass mögliche politische Lösungen von den Konfliktparteien als Bedrohung ihrer jeweiligen Existenz betrachtet werden Die fatale Dynamik, die daraus resultiert, wird solange anhalten, wie Israelis und Palästinenser nicht in einen Prozess der Versöhnung eintreten, der von den zivilen Gesellschaften getragen wird. Versöhnung ist nicht nur das Ergebnis politischer Friedenslösungen, sondern auch deren Voraussetzung.

Im Nahen Osten wird heute deutlich, was auch für andere Konflikte der Welt gilt: Gesicherte Existenz liegt nicht in der Abgrenzung, dem Separieren von Staaten und dem Aufbau von Feindbildern, sondern nur im gleichberechtigten Neben- und Miteinander. Auf Dauer würde Palästina die Abkopplung von dem hohen israelischen Entwicklungsstand ebenso wenig Vorteil und Zukunft bringen wie Israel das Festhalten an Vorherrschaft und dem Dogma, dass eigene Sicherheit nur durch Überlegenheit gewährleistet ist. Die aktuelle Politik der Kriegsparteien ist bei aller militärischer Ungleichheit letztlich von derselben Logik dominiert. Sie zielt auf die Unsicherheit und Demütigung der jeweiligen Gegenseite und hat die Zivilbevölkerung auf beiden Seiten zu Geiseln des Konflikts werden lassen. Selbstmordattentate und Übergriffe gegen Flüchtlingslager erzwingen nationale Identifikationen und fördern den gegenseitigen Hass. Solche Identitäten aber sind nicht von Dauer und schaffen keine Sicherheit.

Es mag als hoffnungsloses Unterfangen erscheinen. Trotzdem. Wir rufen auf zu direkter und unmittelbarer Hilfe. Denn es gibt Israelis und Palästinenser, die sich der weiteren Polarisierung ihrer Gesellschaften entgegenstellen; denn es gibt Juden und Araber, die in ihren Handlungen tagtäglich die Grundsätze der Unteilbarkeit der Menschenrechte und die Werte der Aufklärung in gegenseitiger Hilfe füreinander und miteinander praktizieren. Die Bürgerinnen und Bürger der Bundesrepublik Deutschland stehen in einer historischen Verantwortung gegenüber dem Staat Israel. Der Holocaust als singuläres Verbrechen und Zivilisationsbruch markiert das Scheitern der europäischen Moderne und bleibt Teil der Gründungsgeschichte Israels. Ein verantwortlicher Umgang mit den Ereignissen im Nahen Osten kann nicht geprägt sein von Bekenntniszwang und Identitätssuche derer, die sich die Tragödie aus sicherer Entfernung anschauen. Es gibt in diesem Konflikt keinen sicheren Grund, von dem aus man einfache Lösungen vorschlagen könnte. Das unbestreitbare Existenzrecht Israels aber legitimiert nicht die Menschenrechtsverletzungen gegen die Palästinenserinnen und Palästinenser, die Zerstörung ihrer zivilen Infrastruktur und die de facto Besetzung der Autonomiegebiete. Genauso wenig entschuldigen die Unterdrückung und Ohnmacht der palästinensischen Gesellschaft die unheilvollen Selbstmordattentate gegen die israelische Zivilbevölkerung. Auch in bewaffneten Konflikten muss das humanitäre Völkerrecht gelten und ist nicht jedes Mittel erlaubt. Auch darf der Menschenrechtsdiskurs nicht durch politische Opportunitätserwägungen, von welcher Seite auch immer, missbraucht werden.

Wir, die Unterzeichnerinnen und Unterzeichner, erklären unsere Unterstützung für zivilgesellschaftliche Initiativen und Projekte, die der zunehmenden Verfeindung zwischen Israelis und Palästinensern eine bewusste Zusammenarbeit entgegensetzen.

Wir rufen zur Bildung eines zivilen Fonds auf, der Initiativen fördert, die auf Zusammenarbeit setzen und dabei in ihrer alltäglichen Arbeit für die demokratische Ausgestaltung ihrer Gesellschaften streiten. Exemplarisch stehen dafür die gemeinsamen Projekte der israelischen Physicians for Human Rights mit der Union of Palestinian Medical Relief Committees. Beide betreiben seit mehr als zehn Jahren gemeinsam eine mobile Klinik auf der Westbank. Für die israelischen Ärztinnen und Ärzte haben alle Bewohner Israels und Palästinas ohne Ansehen ihrer Herkunft und Religion Anspruch auf eine medizinische Grundversorgung. Die Union of Palestinian Medical Relief Committees ist in der medizinischen Versorgung der aktuellen Kriegsopfer engagiert. Ihr Leiter, Dr. Mustafa Barghouti fordert zusammen mit anderen palästinensischen Intellektuellen das Ende der israelischen Besatzung und die Demokratisierung der palästinensischen Gesellschaft. Die Zusammenarbeit beider versucht nicht nur eine Notversorgung der unter den Gewalthandlungen leidenden Menschen zu gewährleisten, sondern sie ist ein manifester Beweis dafür, dass auch jetzt noch gleichberechtigte und freie Beziehungen zwischen Arabern und Juden möglich sind, die in der scheinbaren Hoffnungslosigkeit von unten "Inseln der Vernunft" schaffen.

Eine Initiative von medico international, Frankfurt a.M., und Centrale Sanitaire Suisses (CSS), Zürich. Erstunterzeichner/innen u.a. (Stand 10.6.2002): Ali Ahmad Sa'id Esbir Adonis (Dichter, Paris); Heinz Aebi (Landrat/Gemeindepräsident, Nenzlingen); Christine von Arnim (Wissenschaftskolleg zu Berlin); Dr. Edward Badeen (Universitäten Basel und Zurich); Dr. phil. Christine Barraud-Wiener (Historikerin, Hombrechtikon); Dr. med. Liliane Bernstein (Psychiaterin und Psychoanalytikerin, Basel); Prof. Richard J. Bernstein (New School for Social Research, New York); Prof. Christina Bicchieri (Universität Pittsburgh); David Bollag (Arzt, Zürch); Guy Bollag (Sozialarbeiter, Zürich); Prof. Micha Brumlik (Leiter des FritzBauer-Instituts, Frankfurt a.M.); Sabine Bruppacher (Redakteurin, Uitikon-Waldegg); Prof. Ansgar Büschges (Universität Köln); John Bunzel (Politikwissenschaftler, Wien); Dr. med. Sonia Capek Gubser (Psychiaterin, Zürich); Tsafrir Cohen (Publizist, Berlin); Daniel Cohn-Bendit (MdEP, Frankfurt a.M.); Lini Culetto, (Präsidentin "Frauen für den Frieden", Schweiz); Fee Czisch (Mediatorin, München); Prof. Sara Danias (Universität Uppsala); Prof. Heinrich Detering (Universität Kiel); Prof. Beshara B. Doumani (Universität Berkeley); Monique Echmann (Soziologin, Genf); Prof. Suraiya N. Faroqhi (Universität München); Thomas Gebauer (Geschäftsführer medico international, Frankfurt a.M.); Batjah P. Guggenheim, (Dozentin FHSG, St. Gallen); Chanan H. Guggenheim (leit. Sozialarbeiter, St.Gallen); Evi Guggenheim Shbeta (Sozialarbeiterin, Psychotherapeutin, Neve Shalom/Wahat al Salam, Israel, z.Zt. Zürich); Prof. Dirk Fabricius (Universitat Frankfurt); Angelika und Thomas von Freyberg-Wolff (Institut für Sozialforschung, Frankfurt a.M.); Li Hangartner (Theologin, Luzern); Dr. Carl Hegemann (Dramaturg, Volksbühne Berlin); Prof. em. Hans Peter Herrmann (Universität Freiburg); Olivia Heussler (Photographin, Zürich); Prof. Joachim Hirsch, (Vorsitzender medico international, Universität Frankfurt a.M.); Franz Hohler (Schriftsteller, Zürich); Ursula Hohler (Psychotherapeutin, Zürich); Pia Hollenstein (Nationalrätin, St. Gallen); Prof. Axel Honneth, (Leiter des Instituts für Sozialforschung, Universität Frankfurt a.M.); Alfred Hrdlicka (Bildhauer, Wien); Lena Inowlocki (Sozialwissenschaftlerin, Universität Frankfurt); Prof. Walter Jens (Tübingen); Prof. Stefan Jonsson (Universität Stockholm); Jürgmeier (Schriftsteller, Winterthur); Georges Khalil (Wissenschaftskolleg zu Berlin); Ursula Keller (Ethnologin, Bern); Navid Kermani (Wissenschaftskolleg zu Berlin); Maria Klemm-Herbers, (Landeskirchenrätin Baselland, Augst); Dr. Matthys Klemm (Theologe, Augst); Hans Koschnick (Regierender Bürgermeister a.D., Bremen); Prof. Michael Kosfeld (Universität Zürich); Prof. Georg Kreis (Universität Basel); Prof. h.c. Helmut Lachenmann (Leonberg); Dr. Martin Leuenberger (Generalsekretär der Erziehungs- und Kulturdirektion des Kanton Basel-Landschaft, Liestal); Dr. phil. Robert Lewinsky (Psychaanalytiker, Zürich); Philippe Lévy (Präsident Neuer Israel Fonds Schweiz, Bern); Prof. René Levy (Universität Lausanne); Beatrice Liaskowski (Designerin, Zürich); Dr Peter Liatowitsch (Rechtsanwalt und Notar, Basel); Urs Loppacher (Verfassungsrat Kanton Zürich); Ulrike Lunacek (Nationalratsabgeordnete, Wien); Stefan Luzi (Sekretär GsoA, Zürich); Joy Matter, (Gemeinderätin a.D., Präsidentin Stiftung Gertrud Kurz, Bern); Prof. David McDougall (Australian National University); Marie-Jane Monney (Psychoanalytikerin, Greifensee); Jakob und Sigi Moneta (Frankfurt a.M.); Prof. Jörg Paul Müller (Universität Bern); Prof. Dr. Jean-Luc Nancy (Universität Straßburg); Yaël Reinharz Hazon (Journalistin, Genf); Dr. Regula Renschler (Publizistin, Basel); Prof. Fritz K. Ringer (Universität Pittsburgh); Harry Rosenbaum (Journalist, St. Gallen); Ursula Rosenzweig (Präsidentin Schweiz. Freundeskreis von Givat Haviva, Forch); Dr. med. Adriano Sassi (Präsident der Centrale Sanitairia Suisse CSS della Svizzera Italiana, Cureglia); Peter Schmid (Regierungsrat, Vorsteher der Erziehungs- und Kulturdirektion des Kantons Basel-Landschaft, Liestal); Friedrich Schorlemmer (Theologe, Wittenberg); Dr. Elisabeth Schweeger (Intendantin Schauspiel Frankfurt); Alexandra Senfft, Prof. Uta Klein, Christian Sterzing, Jörn Böhme, Toblas Kriener (alle Vorstand des Deutsch-Israelischen Arbeitskreises für Frieden im Nahen Osten, Düsseldorf); Uri Shani (Lehrer, D.N. Shimshon); Eyas Shbeta (Friedenspädapoge und Lehrer, Neve Shalom/Wahat al-Salam, Israel, z. Zt. Zürich); Dr. med. Monika Strauss (Fachärztin Kinder- und Jugendpsychiatrie, St. Gallen); Joachim Varchim (AK Nahost, Berlin); Prof. Pedro Cruz Villalon (Universität Sevilla); Sönke Wandschneider (Theologe, Hamburg); Afra Weidmann (Autorin, Zürich); Anjuska Weil (Kampagne Olivenöl, Zürich); Jochi WeilGoldstein (Projektverantwortlicher der Centrale Sanitaire Suisse CSS Zürich, Department Palestine and Israel, Zürich); Dr. med. Samuel Wiener-Barraud (Psychiater, Hombrechtikon); Dr. Susan Winnett (Literaturwissenschaftlerin, Hamburg)

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