Ausgabe Juni 2004

In Vielfalt geeint?

Europäische Identität in der Zwickmühle

Das vor dem Hintergrund des Irakkriegs zu Tage getretene Zerwürfnis zwischen dem "alten Europa" und den USA hat der Frage nach der politischen Identität der Europäischen Union (EU) auf unerwartet vehemente Weise neue Aktualität verliehen. In der Tat löste die Invasion des Irak durch die von den USA angeführte Allianz in nahezu allen Mitgliedstaaten der EU eine Welle intensiver Diskussionen und oft massiv vorgetragener Proteste aus. Beobachter wie Jacques Derrida und Jürgen Habermas sahen in diesen Mobilisierungen nicht weniger als ein "Signal für die Geburt einer europäischen Öffentlichkeit" 1. Im Nachhinein mag eine solche Deutung als von übermäßiger Emphase getragen anmuten, in der Betonung des Moments der Öffentlichkeit für die Konstitution einer gemeinsamen politischen Identität in der EU ist ihr jedoch zweifelsohne beizupflichten.

Verlassen wir nun die Turbulenzen, denen sich die Bestimmung einer supranational artikulierten europäischen Position in der Weltpolitik ausgesetzt sieht, und wenden wir uns der genuin "binneneuropäischen" Dimension der politischen Entwicklung der Union zu, stoßen wir auf eine eigentümliche Diskrepanz. Der unterm Strich verhaltene Charakter der öffentlichen Debatten, die den verfassungsgebenden Prozess in der EU begleitet haben, entspricht kaum der Tragweite der von den europäischen Institutionen verhandelten Themen.

Sie haben etwa 4% des Textes gelesen. Um die verbleibenden 96% zu lesen, haben Sie die folgenden Möglichkeiten:

Artikel kaufen (1€)
Digitalausgabe kaufen (10€)
Anmelden

Aktuelle Ausgabe Dezember 2025

In der Dezember-Ausgabe ergründet Thomas Assheuer, was die völkische Rechte mit der Silicon-Valley-Elite verbindet, und erkennt in Ernst Jünger, einem Vordenker des historischen Faschismus, auch einen Stichwortgeber der Cyberlibertären. Ob in den USA, Russland, China oder Europa: Überall bilden Antifeminismus, Queerphobie und die selektive Geburtenförderung wichtige Bausteine faschistischer Biopolitik, argumentiert Christa Wichterich. Friederike Otto wiederum erläutert, warum wir trotz der schwachen Ergebnisse der UN-Klimakonferenz nicht in Ohnmacht verfallen dürfen und die Narrative des fossilistischen Kolonialismus herausfordern müssen. Hannes Einsporn warnt angesichts weltweit hoher Flüchtlingszahlen und immer restriktiverer Migrationspolitiken vor einem Kollaps des globalen Flüchtlingsschutzes. Und die Sozialwissenschaftler Tim Engartner und Daniel von Orloff zeigen mit Blick auf Großbritannien und die Schweiz, wie wir dem Bahndesaster entkommen könnten – nämlich mit einer gemeinwohlorientierten Bürgerbahn. 

Zur Ausgabe Probeabo

Weitere Artikel zum Thema

Vom Proletariat zum Pöbel: Das neue reaktionäre Subjekt

von Micha Brumlik

Gewiss, es waren keineswegs nur Mitglieder der US-amerikanischen weißen Arbeiterklasse, die Donald Trump an die Macht gebracht haben. Und doch waren es auch und nicht zuletzt eben jene Arbeiter und Arbeitslosen – und genau hier liegt das eigentliche Erschrecken für die Linke.