Richard Sennett, dessen soziologisches Werk wir heute mit dem Hegel-Preis ehren, könnte in der Tat am Tage des Jüngsten Gerichts zu Tränen der Scham gerührt vor Gott stehen, wenn dieser die Musik erklingen ließe, die er, Sennett, gewiss komponiert und zelebriert hätte, hätte sein Leben nicht eine andere, nämlich die soziologische Wendung genommen. Denn Richard Sennett ist sehr vieles, aber eines gewiss nicht: ein Nur-Soziologe. Und gerade das macht ihn zum Soziologen. Diese Brechung des Blicks, dieses musische Bewusstsein, ja das Musikalische seiner Sprache und seines Denkens wecken Neid und Hass bei den Nur-Soziologen und machen Sennett zu einem der wenigen öffentlichen Denker des Sozialen weltweit. Was diese wenigen miteinander gemein haben, ist – um es in den Worten von Martin Heidegger zu sagen –, dass sie „zwischen einem gelehrten Gegenstand und einer gedachten Sache“ unterscheiden können, und dass ihnen der gelehrte Gegenstand ziemlich gleichgültig ist. Gerade in Zeiten fundamental diskontinuierlicher Erfahrungen, wie den unseren, wird das sich der akademischen Disziplin Fügen leicht zu einem intellektuellen Verrat, weil es ganz aufregend erneut um das Denken des plötzlich wieder fremd und unbekannt gewordenen Sozialen geht.
In der September-Ausgabe plädiert Lea Ypi für eine Migrationsdebatte im Sinne der Aufklärungsphilosophie. Cinzia Sciuto fordert, der zunehmenden Aushöhlung des Völkerrechts mit einer entschiedenen Verteidigung desselben zu begegnen – und nicht mit Resignation und falschem Realismus. Für Georg Diez markieren die Kriegsverbrechen in Gaza und die fehlenden Reaktionen darauf einen Epochenbruch; sie stünden für nicht weniger als den Verrat des Westens an der Humanität. Herfried Münkler analysiert, wie Kriege historisch endeten und Friedenszeiten begannen und was das mit Blick auf den Ukrainekrieg bedeutet. Simone Schlindwein deckt auf, wie Russland junge Afrikanerinnen mit falschen Versprechen für die Kriegswirtschaft rekrutiert. Warum die grüne Digitalisierung ein Mythos ist und was der KI-Boom den Globalen Süden kostet, erläutern Ingo Dachwitz und Sven Hilbig. Und Eva-Maria Klinkisch sowie Markus Rieger-Ladich zeigen auf, wie Long Covid-Betroffene von der Gesellschaft und dem Gesundheitssystem systematisch ignoriert werden – und was dagegen zu tun ist.