Erinnerung und Geschichtspolitik in Polen
Maria, die russische Ehefrau des polnischen Dichters Jan Kasprowicz, war sich schon bald nach ihrer Trauung 1911 darüber im Klaren, dass man die Polen nur verstehen könne, wenn man ihre schmerzhafteste Wunde und zugleich ihren größten Komplex berücksichtigt: nämlich den Untergang des Staates am Ende des 18. Jahrhunderts. Für die Polen war es ein Schock, dass der Staat just in dem Augenblick unterging, als das Land große Reformen in die Wege leitete und sich die großen Aufklärungsgedanken verbreiteten, die auch an der Weichsel den Glauben an die Utopie eines vereinigten Europas freier Völker erweckten. Die Frage, wie einer der ältesten und größten Staaten Europas von der Landkarte verschwinden konnte, stellten sich seither immer wieder ganze Generationen von Polen, wobei sie die Schuld mal bei sich, mal bei den kriegerischen Nachbarn, den Deutschen und Russen, suchten. Die kurze und schwierige Zeit der Unabhängigkeit, die 1918 wiedergewonnen und schon 1939 infolge des Abkommens zwischen dem „Dritten Reich“ und der Sowjetunion wieder verloren wurde, ließ es nicht zu, die Diskussion über das polnische Dilemma in der Abgeschiedenheit der Gelehrtenstuben auszutragen. Und die Morde, Vertreibungen und Verbannungen, die schon seit Herbst 1939 zur Tagesordnung gehörten, vertieften nur noch die Furcht der Polen vor den beiden mächtigen Nachbarn.