Ausgabe Juni 2010

Kein Ort, nirgends

Die vergebliche Suche nach der deutschen Leitkultur - Eine Replik auf Josef Isensee

In der März-Ausgabe der „Blätter“ warnte Josef Isensee vor der „Integrationsresistenz des Islam“ und der „Selbstpreisgabe deutscher Identität“. Dagegen gelte es, die „kulturellen Grundlagen der nationalen Einheit” zu schützen. Sie bilden für Isensee die „Leitkultur, die der Verfassungsstaat mit seinen begrenzten Mitteln auch gegenüber Millionen Gebietsansässigen aus fremden Kulturräumen gegenüber ‚kulturellen Minderheiten’ aufrechtzuerhalten und zu pflegen hat.“[1]

Bevor wir uns in den Kampf um unsere Leitkultur stürzen, sollten wir uns einige Tatsachen vor Augen führen. Die erste Tatsache, ja die Grundtatsache schlechthin, besteht darin, dass die Bundesrepublik im Laufe der letzten vier Jahrzehnte zu einer Einwanderergesellschaft geworden ist – zunächst unmerklich, später dann etwas widerwillig, seit Anfang dieses Jahrhunderts dann immerhin ganz bewusst, doch zu keinem Zeitpunkt unter dem Joch irgendeiner Fremdherrschaft, wie es bei konservativen Stimmen vom Schlage Isensees immer wieder anklingt.

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