Ausgabe März 2010

Die Überschreitung der Grenzen

Claus Leggewie zum 60. Geburtstag

Wie sehr man sich auch auf die schier unbegrenzt belastbare Gabe der Selbsttäuschung verlassen kann: Wenn man in der academia einen Artikel zum Geburtstag geschrieben bekommt, muss man unweigerlich einsehen, dass man kein junger Mann mehr ist.

Auch im Fall von Claus Leggewie wird der hier anzuzeigende 60ste Geburtstag nicht ohne jede narzisstische Irritation vonstatten gehen; aber im Gegensatz zu vielen Gleichaltrigen weist sein aktueller Gesamtzustand keinerlei Merkmale des Gealterten auf – und das gilt für den privaten wie für den wissenschaftlichen Teil in gleichem Maße.

Im Rahmen der „Blätter“ liegt es natürlich nahe, über den politischen Intellektuellen Claus Leggewie zu schreiben. Schließlich gibt es nur wenige, die sich so präsent und präzise in öffentlichen und wissenschaftlichen Fragestellungen engagieren wie er. Mir ist seine erstaunliche Treffsicherheit im Bemerken und Benennen von leicht zu übersehenden sozialen Phänomenen zum ersten Mal aufgefallen, als er mich zu einem Vortrag am Giessener Sonderforschungsbereich „Erinnerungskulturen“ eingeladen hatte, wo ich über „Opa war kein Nazi“ referierte und anschließend eine jener Diskussionen zu absolvieren hatte, in denen sich die Zuhörerschaft vor allem in der Kritik der präsentierten O-Töne aus den Zeitzeugen- und Familiengesprächen erging.

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In der Oktober-Ausgabe wertet Seyla Benhabib das ungehemmte Agieren der israelischen Regierung in Gaza als Ausdruck einer neuen Ära der Straflosigkeit. Eva Illouz ergründet, warum ein Teil der progressiven Linken auf das Hamas-Massaker mit Gleichgültigkeit reagiert hat. Wolfgang Kraushaar analysiert, wie sich Gaza in eine derart mörderische Sackgasse verwandeln konnte und die Israelsolidarität hierzulande vielerorts ihren Kompass verloren hat. Anna Jikhareva erklärt, warum die Mehrheit der Ukrainer trotz dreieinhalb Jahren Vollinvasion nicht zur Kapitulation bereit ist. Jan Eijking fordert im 80. Jubiläumsjahr der Vereinten Nationen mutige Reformen zu deren Stärkung – gegen den drohenden Bedeutungsverlust. Bernd Greiner spürt den Ursprüngen des Trumpismus nach und warnt vor dessen Fortbestehen, auch ohne Trump. Andreas Fisahn sieht in den USA einen „Vampirkapitalismus“ heraufziehen. Und Johannes Geck zeigt, wie rechte und islamistische Rapper Menschenverachtung konsumierbar machen.

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