Der Putinismus in Russlands Schulen und Universitäten
Bild: Drohnen-Unterrichtseinheit einer Kinder- und Jugend-Militär-Organisation (»Voin«) in Jekaterinburg, 20.2.2025 (IMAGO / ITAR-TASS)
Am Morgen des 24. März hängten unbekannte Aktivisten eine Schaufensterpuppe, die die antike römische Göttin Minerva darstellt, am Denkmal des Grafen Uwarow in der Nähe des Hauptgebäudes der Staatlichen Universität St. Petersburg auf. In der Hand der antiken Schutzherrin der Wissenschaften befand sich ein Zettel mit der Aufschrift „Die Wissenschaft ist tot“. In einem anonymen Telegram-Kanal schrieben die Organisatoren dieser Aktion: „Das Symbol der Staatlichen Universität ist von jetzt an Graf Uwarow, der Würger der Freiheiten, Gleichheit, Brüderlichkeit, studentischen Selbstverwaltung und Wissenschaft! Wir wollen, dass dieser schändlich verborgene Mord von allen gesehen wird.“
Das Denkmal für den „Würger der Freiheiten“ auf dem Universitätsgelände wurde erst Ende 2023 auf Anordnung des russischen Präsidenten Wladimir Putin errichtet, offenbar um die neue Richtung der Entwicklung des Landes zu betonen. Schließlich war Sergej Uwarow im 19. Jahrhundert nicht nur als Leiter der Akademie der Wissenschaften bekannt, sondern auch durch seine Formel „Orthodoxie, Autokratie, Nationalität“. Dieser Dreiklang ist heute zur Grundlage der russischen Außen- und Innenpolitik geworden. Das Wort „Nationalität“ sollte nach Uwarows Vorstellung so verstanden werden, dass man an den eigenen Traditionen festhalten und die westlichen Ideen von Gedankenfreiheit, Freiheit des Individuums, Individualismus und Rationalismus bekämpfen müsse.
Heute ist es offensichtlich, dass die russische Wissenschaft nicht nur an dieser Universität, sondern im ganzen Land tot ist. Mit dem Krieg gegen die Ukraine haben die russischen Behörden die Errungenschaften der vergangenen Jahre rückgängig gemacht und das wissenschaftliche Leben um Jahrzehnte zurückgeworfen.
Russische Forscher sind vom internationalen Wissenschaftsbetrieb nahezu ausgeschlossen, und wenn sie daran teilnehmen, dann nur unter Aufsicht des föderalen Sicherheitsdienstes; die internationale wissenschaftliche Zusammenarbeit Russlands mit dem Westen wurde eingeschränkt, Veröffentlichungen in ausländischen Ausgaben sind verboten und Materialien aus wissenschaftlichen Zeitschriften „unfreundlicher Länder“ dürfen in wissenschaftlichen Arbeiten nicht verwendet werden. Russische Forscher können sich nur in Drittländern auf eigenes Risiko mit westlichen Kollegen treffen, und niemand weiß, ob sie für solche unerlaubten Kontakte wegen Spionage oder Hochverrat bestraft werden.
Seit Februar 2022 haben Politisierung, Ideologisierung und Militarisierung des öffentlichen und wissenschaftlichen Lebens in Russland drastisch zugenommen. Viele Wissenschaftler haben Russland unmittelbar nach dem umfassenden Einmarsch in die Ukraine verlassen, und wer geblieben ist, muss nach den jetzt gültigen Regeln spielen, bei denen es nicht auf wissenschaftliche Leistungen ankommt, sondern auf die Einhaltung der zentralen „Parteilinie“. Gleichzeitig ist die „Linie“ selbst nicht klar formuliert und ändert sich ständig entsprechend den aktuellen Entwicklungen.
In den Geisteswissenschaften werden Ideologeme durchgesetzt, die nicht nur den Fakten, sondern auch dem gesunden Menschenverstand widersprechen. Viele wichtige Themen sind tabuisiert oder kriminalisiert. Wissenschaftlern wird die Erforschung der Ukraine und des sogenannten Großen Vaterländischen Krieges verwehrt, um keinen Widerspruch zur staatlichen Darstellung zu erzeugen. Themen im Zusammenhang mit Gender Studies, Feminismus oder LGBTQ sind ebenfalls verboten. Unter diesen Bedingungen wird die wissenschaftliche Arbeit in Fächern wie Geschichte, Soziologie, Politikwissenschaft oder Philosophie unmöglich. Stattdessen verbreitet die Propaganda, die von Verschwörungstheorien, Pseudopatriotismus und antiwestlicher Rhetorik genährt wird, pseudowissenschaftliches Wissen über Kampfmücken, ethnisch gefährliche Viren und Biolabore.
Anstatt westliche Forschung zu zitieren, berufen sich russische Wissenschaftler zunehmend auf den Präsidenten der Russischen Föderation. Im vergangenen Jahr stellte das unabhängige russischsprachige Onlinemedium „Wjorstka“ bei einer Analyse von Daten aus dem seit 2005 bestehenden Russischen Wissenschaftlichen Zitationsindex fest, dass Putins Artikel und Reden 16 278 Mal in wissenschaftlichen Zeitschriften, Lehrbüchern und Monografien zitiert wurden.
Auch andere hohe Persönlichkeiten des Staates veröffentlichen häufig vermeintlich wissenschaftliche Artikel und betreiben Forschung. So versuchte Michail Kowaltschuk, Putins Lieblingsphysiker und Leiter des Kurtschatow-Instituts, einen Lügendetektor auf Basis eines Computertomographen einzuführen. Alexander Bastrykin, Leiter des Föderalen Untersuchungskomitees, Kommilitone Putins und jetziger Generalprokurator des Landes, verfasste eine Reihe von Artikeln über das Werk von Fjodor Dostojewski. In einem dieser Artikel, der dem „absolut Guten“ in Dostojewskis Werk gewidmet ist, listet der früherer KGB-Offizier „wichtige Grundlagen der Existenz, der Freiheit, des menschlichen Wesens, der Seele des russischen Volkes und seiner Werte, des historischen Schicksals Russlands“ auf. Und Anton Waino, Leiter der Präsidialverwaltung, betrachtet das gesamte menschliche Leben als ein Spiel und schlägt vor, dessen Regeln mit Hilfe eines Nooskops festzulegen – einem Gerät, das es ermöglicht, „das Bewusstsein der Gesellschaft zu scannen“. Nichts könnte sich ein Geheimdienst mehr wünschen.
Das schon 2016 von Waino in der pseudoakademischen Schrift „Die Kapitalisierung der Zukunft“ erwähnte Produkt, mit dem sich angeblich das Bewusstsein nicht nur eines Einzelnen, sondern der Masse endoskopieren lasse, existiert bislang nur in Wainos Aufsatz, niemand hat es bislang erblickt. Seine Möglichkeiten sollen indes enorm sein, laut Waino kann es „Transaktionen zwischen Menschen, Dingen und Geld“ analysieren und wäre somit eine Art globaler Superdetektor, mit dem nichts weniger als die Weltherrschaft zu erlangen wäre. Waino bezieht sich dabei unverfroren auf die vom russischen Physiker Wladimir Wernadski verbreitete Theorie der Noosphäre, einer begrifflichen Vorwegnahme des Anthropozän als geochronologischer Epoche. Noosphäre ist nach Wernadski die vom menschlichen Bewusstsein im Ergebnis wissenschaftlicher Erkenntnis beeinflusste Biosphäre; Waino nahm das auf und stopfte es in seine unsichtbare Erfindung.
Anhand solcher Arbeiten lässt sich ein ungefähres Bild der Welt entwerfen, auf das sich die russischen Behörden bei bestimmten Entscheidungen, auch im wissenschaftlichen Bereich, stützen. Es liegt auf der Hand, dass Menschen mit kritischem Denken und eigener Sicht auf die historische, politische, soziale und wirtschaftliche Situation nicht in dieses von der Propaganda vorgegebene Weltbild passen. Deshalb werden auch weiterhin „unzuverlässige“ Universitätsmitarbeiter entlassen. Die Kritik am Krieg wird als „unmoralischer Akt, der mit der Lehre unvereinbar ist“, bezeichnet. Einige Universitäten haben ganze Abteilungen und Labors verloren. Seit mindestens zwei Jahren laden Beamte des föderalen Sicherheitsdienstes diejenigen zu Befragungen vor, die einen offenen Brief gegen die militärische Aggression Russlands in der Ukraine unterzeichnet haben. Unterzeichnet hatten fast neuntausend Wissenschaftler.
Derzeit ist die Zahl der Wissenschaftler in Russland auf einen historischen Tiefstand gesunken. Beim Zusammenbruch der UdSSR gab es in Russland etwa eine Million Forscher, Anfang 2024 waren es nur noch 338 900. Laut der „Novaya Gazeta Europe“ hatten bereits Ende 2023 mindestens 2500 Wissenschaftler Russland verlassen. Die Zeitung bezeichnet diese Schätzung als konservativ, die tatsächliche Zahl könnte höher sein.
Militarisierter Patriotismus und traditionelle Werte
Von den heute im russischen Wissenschafts- und Bildungssystem zugelassenen und sich entwickelnden Trends gibt es nur zwei mit globaler Bedeutung: militarisierter Patriotismus und traditionelle Werte. So finden sich im Lehrplan der einst liberalsten russischen Universität, der Wirtschaftshochschule Moskau, in diesem Jahr neue Forschungsthemen: „der kollektive Westen“ und „traditionelle geistige und moralische Werte“. Bei den traditionellen Werten gab es jedoch einige Verwirrung: Vor kurzem hieß es noch, Russland kämpfe gegen den gesamten Westen um eben diese Werte, und nun stellt sich heraus, dass niemand die Definition dessen kennt, wofür gekämpft wird. Mit Trumps Amtsantritt muss nun obendrein auch der „kollektive Westen“ neu definiert werden. Daher ist geplant, bis September 2025 ein normatives, erklärendes Wörterbuch mit einer Beschreibung dieser Werte zu entwickeln. Laut Justizminister Konstantin Tschuitschenko werden die Bestimmungen des Wörterbuchs künftig bei der Ausarbeitung von Rechtsakten verwendet. „Es ist notwendig, eine solche gesetzliche Regelung zu schaffen, die unsere Werte vor zerstörerischen Einflüssen von außen schützt. Um diese Arbeit zu erleichtern, muss das Recht mit den moralischen Richtlinien in Einklang gebracht werden.“ So ist auch die Rechtswissenschaft in Russland in Vergessenheit geraten.
Außerdem wurde an allen Hochschulen ein Lehrmodul zur zivilen, „patriotischen“ und „geistig-moralischen Erziehung junger Menschen“ mit dem Titel „Der Große Vaterländische Krieg: Ohne Verjährung“ eingeführt. Das Modul wurde von der Staatlichen Universität Pskow entwickelt, um „die historische Erinnerung an die Tragödie der sowjetischen Zivilbevölkerung – Opfer von Kriegsverbrechen der Nazis und ihrer Komplizen während des Großen Vaterländischen Krieges – zu bewahren“.
Um die Narrative des Kremls stärker in den Köpfen junger Menschen zu verankern, haben die Behörden zudem ein neues Lehrbuch über die „Grundlagen der russischen Staatlichkeit“ für Studenten herausgegeben. Dieses Fach wird seit 2023 an allen russischen Universitäten gelehrt. Im Lehrbuch wird die Annexion der Krim und anderer ukrainischer Regionen als „Rückgabe eines Teils des einst unrechtmäßig entfremdeten Territoriums Russlands“ bezeichnet. Außerdem stellen die Autoren „westliche“ und „traditionelle russische“ Werte einander gegenüber und bezeichnen Abtreibung, Veganismus, Sterbehilfe und freiwillige Kinderlosigkeit als „Todeskulte“, die der Bevölkerung von „ultraliberalen Ideologien“ aufgezwungen werden. Der Krieg, den Russland gegen die Ukraine entfesselt hat, ist nach Ansicht der Autoren nichts anderes als die „Wiederherstellung der Einheit des russischen Volkes“.
Generell ist der Unterricht in Geschichte und anderen geisteswissenschaftlichen Fächern unter die vollständige Kontrolle des Staates geraten. Seit September 2023 müssen alle Universitäten dem vom Bildungsministerium vorgelegten Konzept einer einzigen „wahren Geschichte“ folgen. Im Block über das moderne Russland werden die Studenten über „die Osterweiterung der Nato“ und „die Weigerung der USA, der Nato und der EU, über die Bedrohung der nationalen Sicherheit Russlands zu diskutieren“ sowie über „bewaffnete Provokationen und Vorbereitungen des ukrainischen Regimes, die Donbass-Republiken gewaltsam zu besetzen“ informiert.
Im August 2024 stellte das Bildungsministerium ein neues Lehrbuch „Russische Geschichte“ für Studenten aus dem nicht-historischen Bereich vor. Darin wird die Version des Kremls über den Verlauf der russischen Geschichte von der Antike bis zur Gegenwart dargestellt. Enthalten sind auch die „Militärische Spezialoperation“, die „Annexion neuer Regionen durch Russland“, der Terroranschlag in der Krokus-Cityhall und die Explosionen an der Nord-Stream-Pipeline.
Das Hauptinteresse in den Geschichtsbüchern gilt natürlich dem Großen Vaterländischen Krieg von 1941 bis 1945, angefangen von der „heldenhaften Verteidigung des Vaterlandes“ und dem Leiden des „sowjetischen Volkes“ bis hin zu „den ruhmreichen Taten des Russischen Frühlings und der speziellen Militäroperation“ in der Gegenwart, die als Fortsetzung des Themas „Kampf gegen den Faschismus“ gedeutet werden.
Ähnliche Geschichtslehrbücher wurden auch für Oberstufenschüler entwickelt. Und ab September 2025 wird es entsprechende Schulbücher für die Klassen fünf bis neun geben. Sie werden nicht nur in russischen Bildungseinrichtungen, sondern auch in den besetzten Gebieten der Ukraine eingeführt. Gleichzeitig bezeichnen russische Beamte ukrainische Schulbücher, die aus zerbombten und zerstörten Schulen nach Moskau gebracht werden, als „Nazi-Propaganda“. „In Wirklichkeit haben die Ukrainer ihren Kindern eine falsche Geschichte aufgetischt und jahrhundertealte Wurzeln beschnitten“, sagte der russische Bildungsminister Sergej Krawzow.
Studenten auf den Krieg vorbereiten
Längst werden russische Studenten aktiv auf den Krieg vorbereitet: Das russische Ministerium für Bildung und Wissenschaft hat empfohlen, dass die Universitäten seit September 2023 einen Kurs mit der Bezeichnung „Grundlagen der militärischen Ausbildung“ in ihre Lehrpläne aufnehmen sollen, der für junge Männer obligatorisch und für Frauen freiwillig ist. Im Rahmen dieses Kurses bauen die Studenten ein Kalaschnikow-Sturmgewehr zusammen, bereiten sich auf den Kampfeinsatz von Granaten vor, studieren die Satzung der Streitkräfte und die Grundlagen der Formationsausbildung. Sie hören auch Vorlesungen über „Russlands Platz in einer multipolaren Welt“ und lernen, „militärische und politische Ereignisse aus der Sicht eines Patrioten des Vaterlandes“ zu beurteilen.
Die meisten russischen Universitätslehrpläne beinhalten zudem das Studium der „Elemente von Theorie und Praxis der hybriden Kriegsführung“. So begann der Fachbereich Politikwissenschaft der Staatlichen Universität Moskau im September 2022 mit der Ausbildung von Spezialisten für die „Bekämpfung der Technologien moderner Informations-, Hybrid- und Handelskriege sowie der Farbrevolutionen“. Dort lernen die Studenten pseudowissenschaftliche neurolinguistische Programmierung, „die Praxis von Informationsoperationen“, „den Kampf gegen Fälschungen“ und Informationsunterstützung für „militärische Operationen“.
Ein weiteres nationales Bildungsprojekt „Unbemannte Flugsysteme“ wurde 2024 gestartet. Seine Aufgabe ist es, die Ausbildung in der Drohnensteuerung auf allen Ebenen in das Bildungssystem einzuführen. Viele renommierte Universitäten, darunter das Moskauer Institut für Physik und Technologie und die St. Petersburger Nationale Forschungsuniversität für Informationstechnologien, Mechanik und Optik, eröffnen Bachelor- und Masterstudiengänge, die sich ausschließlich mit Drohnen befassen. In Tatarstan werden minderjährige Studenten an der Polytechnischen Universität Alabuga gezwungen, Shahed-Drohnen zu montieren, die in Russland unter iranischer Lizenz hergestellt werden – die Studenten werden für die Überstunden nicht bezahlt und haben durch die Arbeit weniger Zeit zum Lernen. Die russischen Behörden planen, die Zahl der Studenten, die die Entwicklung von Drohnen erlernen, bis 2030 auf 180 000 zu erhöhen.
Die Situation in den Schulen ist nicht besser. Dort finden „Gespräche über Wichtiges“ statt, in denen es um die angebliche Notwendigkeit eines Krieges in der Ukraine geht, und es werden die Organisation der sowjetischen Pioniere und militärische Ausbildungsinitiativen wiederbelebt. Überall wird den Kindern beigebracht, in Formation zu marschieren, Tarnnetze zu weben, Drohnen zu bedienen, medizinische Hilfe zu leisten und mit Waffen umzugehen. All diese zusätzliche Ausbildung geht auf Kosten von Physik, Mathematik, Chemie, Fremdsprachen und anderen Schulfächern.
Schießstände und Granatattrappen
Zur Förderung traditioneller Werte wurde vergangenes Jahr an russischen Schulen ein neues Fach eingeführt, „Familienkunde“. Im März dieses Jahres wurden Lehrbücher für die fünfte bis siebte und die achte bis neunte Klasse zu diesem Thema vorgestellt. Der erste Abschnitt beschreibt die Familienstruktur in der Vergangenheit und die „traditionelle Lebensweise“, bei der die Frau für Haushalt und Kinder zuständig ist und der Mann für „harte Arbeit und Handwerk“. Es folgt ein Auszug aus dem Domostroi, einem Gesetzeskodex aus dem 16. Jahrhundert, der bis ins 19. Jahrhundert in Gebrauch war und auf Befehl von Iwan dem Schrecklichen erstellt wurde. Darin heißt es, dass Frauen mit der Peitsche geschlagen werden dürfen, dass sie zu Hause bleiben und sich ganz „ihren Männern und Gott“ widmen sollen.
Bislang wurden 57 russische Schulen gerichtlich angewiesen, Karten der annektierten Regionen Russlands im Geografieunterricht auszulegen, wie „Wjorstka“ nach Durchsicht der bei Gericht vorgelegten Kartenkataloge herausfand. Auf diesen Karten müssen die Krim sowie die ukrainischen Regionen Cherson, Saporischschja, Donezk und Luhansk als russische Gebiete ausgewiesen werden. Nach Ansicht der Staatsanwaltschaft verstoßen Schulen, die nicht über „aktuelle“ geografische Karten verfügen, gegen die Verfassung und das föderale Gesetz „Über die grundlegenden Garantien der Rechte von Kindern“. Die Staatsanwaltschaft befürchtet, dass die alten Karten den Kindern „ungenaue Kenntnisse über die Grenze und die territoriale Integrität Russlands“ vermitteln, was „nicht den Aufgaben der Sicherung des Friedens und der Harmonie zwischen den Völkern entspricht“.
Die Staatsanwaltschaft klagt auch gegen Schulen, denen es an Ausrüstung für den Unterricht „Grundlagen der Landesverteidigung“ mangelt. Das Fehlen dieser Ausrüstung verletzt angeblich das Recht der Schüler, sich auf die Armee vorzubereiten. Allein im vergangenen Jahr wurden nahezu 200 solcher Klagen eingereicht. Von einigen Schulen verlangten die Staatsanwälte lediglich die Einrichtung eines Schießstandes oder die Installation eines elektronischen Schießsimulators, von anderen den Kauf einer langen Liste von Gegenständen, darunter Magazine für Kalaschnikows mit Übungspatronen, Granatattrappen, Simulatoren für Wunden und Verletzungen. Die Staatsanwaltschaft hat fast alle Klagen erfolgreich abgeschlossen. Die meisten Bildungseinrichtungen haben jedoch nicht einmal das Geld, um Karten zu kaufen, erst recht nicht für spezielle Ausrüstung. Um sich vor den Klagen der Staatsanwaltschaft zu schützen, müssen die Schulen bei den Lehrbüchern sparen oder zusätzliches Geld von den Eltern eintreiben. Bei der Finanzierung neuer Fächer, die neue Bücher, Lehrer und manchmal auch speziell ausgestattete Klassenräume erfordern, vergisst der Staat, dass 6000 Schulgebäude in Russland kein Abwassersystem haben, 5600 keine Wasserversorgung und 5000 keine Zentralheizung – und dass jede vierte Schule größere Reparaturen benötigt. Die föderalen Ausgaben für die allgemeine Bildung werden im nächsten Jahr voraussichtlich um mehr als 7,5 Prozent gekürzt, unter Berücksichtigung der Inflation werden es sogar etwa 15 Prozent sein.
Die „Moscow Times“ berichtet, dass auch die staatlichen Ausgaben für die zivile Wissenschaft auf ein 20-jähriges Rekordtief sinken sollen. Nach Berechnungen von Experten wird die Finanzierung der Wissenschaft im nächsten Jahr um 25 Prozent gekürzt. Unter die Axt der Haushaltskürzungen fallen insbesondere die Ausgaben für den Kauf von Instrumenten und Ausrüstungen für Labors, die Einrichtung großer wissenschaftlicher Zentren sowie die Bildungsarbeit. So werden die Ausgaben für das föderale Projekt „Schaffung des nationalen Zentrums für Physik und Mathematik“, das nach den Vorstellungen der russischen Behörden „zu einer fortschrittlichen Plattform für die Ausbildung von Wissenschaftlern höchster Qualifikation und die Stärkung des wissenschaftlichen Potenzials des Landes“ werden soll, werden um ein Viertel gekürzt.
Kritik und Strafe
Im heutigen Russland müssen Studenten und Schüler das Lehrbuch auswendig lernen, um Prüfungen zu bestehen, unabhängiges kritisches Denken wird nicht nur abgelehnt, sondern kann ein Grund für eine Bestrafung sein. So können für Vergehen nach dem Artikel „Rehabilitierung des Nazismus“ bis zu fünf Jahren Haft verhängt werden. Auf „die Verbreitung absichtlich falscher Informationen über die Aktivitäten der UdSSR während des Krieges und die Erniedrigung der Ehre der Veteranen des Großen Vaterländischen Krieges“ stehen bis zu drei Jahren Haft. Bestraft werden kann auch die Verbreitung von Fälschungen über die Armee, die Beleidigung der Gefühle von Gläubigen, und eine Person kann als ausländischer Agent eingestuft werden – weil sie „unter ausländischem Einfluss“ steht.
So kehrt das moderne russische Bildungs- und Wissenschaftssystem zur sowjetischen Praxis zurück. Dabei erfüllt der Putinismus dieselbe Funktion wie einst der „wissenschaftlichen Kommunismus“. Unter dessen Ägide hatten selbst die exakten Wissenschaften ihre Entdeckungen mit marxistisch-leninistischer Theorie untermauert.