Ausgabe September 2015

Die Metamorphose des Liberalismus

Vom Reich des kleineren Übels zur schönen neuen Welt

Wie kann man dem Krieg aller gegen alle entkommen, wenn die Tugend nur eine Maske für Selbstliebe ist, wenn man niemandem trauen und sich nur auf sich selbst verlassen kann? So lautet letztlich die Eingangsfrage der Moderne, jener merkwürdigen Zivilisation, die als erste der Geschichte ihren Fortschritt auf ein systematisches Misstrauen, die Angst vor dem Tod und die Überzeugung von der Unmöglichkeit des Liebens und Gebens gründet. Es ist die Stärke der Liberalen, die einzige mit dieser verzweifelten Anthropologie vereinbare politische Lösung anzubieten. In der Tat unterstellen sie sich dem einzigen Prinzip, das weder lügen noch enttäuschen kann: dem Eigeninteresse des Individuums.[1] Der „natürliche“ Egoismus des Menschen, seit den Moralisten des 17. Jahrhunderts das Kreuz der modernen Philosophien, wird mit dem Triumph des Liberalismus zum Prinzip aller denkbaren Lösungen.[2]

Der Liberale verstand sich also anfangs als einen realistischen und illusionslosen Menschen. Sicher, er konnte zwischen dem Zynismus von Mandeville, der gelassenen Humeschen Skepsis oder der Melancholie Constants schwanken. Aber unabhängig von seinem persönlichen Gleichgewicht bestand er stolz auf seinem Empirismus und seiner Mäßigung.

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