Ausgabe August 2022

»Eins, zwei, drei, viele Kinder«: Chinas neue Bevölkerungspolitik

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Mit dem harten Lockdown in Schanghai und anderen Städten während der jüngsten Omikron-Welle hat der chinesische Staat einmal mehr seine Biomacht gezeigt – nämlich die Macht über Leben und Sterben. Die Zentralregierung in Peking übernahm die Regie mit dem Anspruch, die chinesische Null-Covid-Strategie sei – wie zwei Jahre zuvor in Wuhan – der westlichen Pandemiebekämpfung überlegen. Dabei setzte sie auf eine paramilitärisch organisierte, ständige Kontrolle von Gesundheit und Mobilität der Bevölkerung, was durch digitale, algorithmisierte und roboterisierte Überwachung unterstützt wurde. Das stieß durchaus auf Gegenwehr. Zwar sind einzelne und verstreute Proteste gegen staatsautoritäres Vorgehen in China an der Tagesordnung, doch dieses Mal war die Kritik an der Unverhältnismäßigkeit der Maßnahmen in den chinesischen sozialen Medien ungewöhnlich breit und heftig: Shanghaier Bürger*innen klagten über Versorgungsmängel mit Lebensmitteln, sogar über Hunger und alarmierende Zustände in Quarantänezentren, den Autoritäten wurde willkürlicher Umgang mit Ausgangssperren, Infektionsverdacht und Infizierten vorgeworfen. Wütende Stimmen aus verschlossenen Wohnungen beschuldigten Offizielle, für den Tod von Verwandten verantwortlich zu sein, weil überlebensnotwendige Medikamente nicht geliefert oder Kranke nicht in Hospitäler gebracht wurden. Die autoritär-staatliche Fürsorglichkeit forderte einen hohen sozialen Preis.

Gleichzeitig kommunizieren Regierung und Stadtverwaltungen auch über Apps und Websites mit den Bürger*innen, um sie so zu beeinflussen und zu steuern. Und sie stellen online Petitions- und Beschwerdeformate bereit, um Konsens und Partizipation zu erzeugen und die Menschen ins Krisenmanagement einzubinden. Nachbarschaftskomitees, die unterste Verwaltungsebene, und viele Freiwillige wurden für die flächendeckende Überwachung mobilisiert, um die chaotische Logistik an der Basis wettzumachen.[1] In der Vergangenheit ließ die Regierung eine erste Welle des Widerspruchs und der Empörung zu, sperrte dann aber Internet-Portale, zensierte und zerschlug die Proteste. Nun aber wird immer deutlicher, dass der autoritäre Staat die zum Pandemiemanagement eingeführten Apps und individuellen Gesundheitscodes nutzt, um seine digitalisierte Alltagsüberwachung engmaschiger zu gestalten. Zugleich dienen sie ihm als Mittel zur Kontrolle sämtlicher Bewegungen und zur Unterdrückung von Dissens.[2] Dies hat wiederum in den chinesischen sozialen Medien eine Debatte darüber ausgelöst, was Privatsphäre in China unter diesen verschärften überwachungsstaatlichen Bedingungen überhaupt noch bedeutet.

Mit den drakonischen Anti-Covid-Maßnahmen nahm der sich kommunistisch nennende Staat seinen alten Gleichheitsanspruch auf und versuchte, alle Bürger*innen gleich zu behandeln. Doch zuvor erlebten die Bürger*innen in den jüngsten Jahrzehnten, in denen die Wirtschaft privatisiert und kapitalisiert wurde, eine massive Rekonstruktion von Klassenverhältnissen und sozialer Ungleichheit. Zudem litt während der Pandemie durch die Erfahrungen mit korrupten und handlungsunfähigen Behörden auch das Vertrauen ins offizielle Selbstverständnis Chinas als kommunistischer Wohlfahrts- und Versorgungsstaat. Dieses hatte der Staat seit der großen Hungersnot Ende der 1950er Jahre mit dem Versprechen auf die „eiserne Reisschüssel“, mit Landzuteilung an Bauern und später mit Ansätzen sozialer Sicherung und von Rentensystemen gepflegt.

Sind die Versorgungsschwierigkeiten in Schanghai und die jüngsten Proteste also ein Zeichen, dass brüchig wird, was aus westlicher Sicht als die chinesische Variante eines Gesellschaftsvertrags erschien? Demnach verspricht der Staat „Wohlstand für alle“, und die Bürger*innen nehmen dafür Überwachung, Repressionen und Zwänge in Kauf. Wie entwickelt sich das Verhältnis von autoritärer Staatlichkeit und gesellschaftlichem Konsens – oder aber Widerstand?

Mittel zum Zweck des Wirtschaftswachstums

Als die chinesische Führung in der Covid-19-Pandemie argumentierte, zum Wohle des gesamten Volkes müsse sie individuelle Freiheiten einschränken und unerbittlich ein- und durchgreifen, setzte sie auf ein bekanntes Legitimationsnarrativ. Neu war allerdings, dass dem jetzt auch die Wirtschaft und das Wachstum – zumindest kurzfristig – untergeordnet wurden. Die Regierung nahm sogar einen Stau von Hunderten von Fracht- und Containerschiffen in und vor dem Hafen von Shanghai sowie dramatische Einbrüche und Engpässe in den transnationalen Lieferketten in Kauf.

Während der chinesische Staat in diesem Fall das Primat der Politik gegenüber der kapitalistischen Wirtschaft hochhielt, handelt er bei seiner autoritären Bevölkerungskontrollpolitik gänzlich anders. Diese ist seit Jahrzehnten funktional am Wirtschaftswachstum ausgerichtet. Demographie galt in China stets als Teil der ökonomischen Entwicklung, demographische Statistiken werden zusammen mit Wirtschaftsstatistiken präsentiert. Mao war noch davon ausgegangen, dass eine ständig wachsende Zahl junger Arbeitskräfte eine wirtschaftliche und nationale Stärke garantieren würde. Unter Deng Xiaoping erfolgte dann die drakonische Wende zur Ein-Kind-Familie, die 1980 verbindlich für die städtische Bevölkerung eingeführt und mit einem repressiven System umgesetzt wurde: Der Staat setzte auf Überwachung, die Genehmigung von Schwangerschaften, Sanktionen und auf gewaltförmige Eingriffe in die Privatheit und sogar die Körper mittels Zwangsabtreibungen und -sterilisationen. Damit eignete er sich die Kontrolle über Körper, Sexualität und (Re)Produktionskraft der Bürger*innen an. Durch diese rücksichtslose Politik gegenüber persönlichen Bedürfnissen und Freiheiten sank die Geburtenrate nach einigen Jahren dramatisch, von durchschnittlich über 6 Geburten pro Frau 1970 auf 1,7 im Jahr 2000. Allerdings gab es Ausnahmeregelungen auf dem Land, beispielsweise für Familien mit einer Tochter als erstem Kind und für ethnische Minderheiten. In der Bevölkerung prägte sich eine Vielzahl von subversiven und widerständigen Taktiken aus: Wohlhabende Familien zahlten Geldstrafen oder Bestechungsgeld, andere verheimlichten Schwangerschaften und versteckten Kinder.

Die Ein-Kind-Familie entsprang einer zutiefst patriarchalen Biopolitik: Zum einen trugen Frauen, weil wenig Sexualaufklärung geleistet wurde und kaum Verhütungsmittel verfügbar waren, durch häufige Abtreibungen[3] auch zu einem späten Zeitpunkt und durch Sterilisationen das Gros der physischen und psychischen Kosten dieser schonungslosen Politik. Zum anderen setzte dieser Kurs das konfuzianische Patriarchat mit seiner Präferenz von Söhnen als Erben und Altersversorgern fort und verstärkte es. Nach massenhaften Abtreibungen weiblicher Föten „fehlen“ heute geschätzt 40 Millionen Frauen. Chinas Geschlechterverteilung gehört derzeit zu den weltweit ungleichsten, mit einem „Männerüberschuss“ von fast 35 Millionen, von denen Millionen Heiratswillige keine Frau finden. Das löste eine Welle von Frauenrauben in den ländlichen Regionen des Nordens aus sowie die Rekrutierung tausender junger Frauen aus Kambodscha, Laos, Vietnam, Nepal, Nordkorea, Pakistan und Myanmar, die mit falschen Versprechungen nach China gelockt wurden.

Seit 2000 gilt China durch sinkende Geburtenraten und steigende Lebenserwartung demographisch als „alternde Gesellschaft“ mit einem rasch wachsenden Anteil von über Sechzigjährigen. Das bedeutet einen zunehmenden Mangel an jungen Arbeitskräften und einen steigenden Bedarf an Altenbetreuung. Viele Karikaturen zeigen das 4:2:1-Verantwortungsmodell, wo auf dem geplagten Einzelkind Sorgepflichten gegenüber seinen Eltern und zwei Großelternpaaren lasten. Denn als sich Berichte über verwahrloste alte Menschen häuften, führte der Staat 2013 eine Besuchspflicht für Kinder und Enkel sowie ein Recht für Alte ein, von ihren Angehörigen einen Unterhalt einzuklagen.

Angesichts dieser zunehmenden demographischen Probleme vollzog Peking ab 2016 mit der Ausrufung der Zwei-Kind-Familie einen Politik- und Legitimationswechsel von einer anti-natalistischen zu einer pro-natalistischen Politik. Das alte Narrativ, wonach Bevölkerungswachstum wirtschaftliche Entwicklung behindere, wurde geradewegs umgekehrt: Bevölkerungswachstum fördere das Wirtschaftswachstum, heißt es nun. Gleich geblieben ist jedoch der instrumentelle Blick auf Bevölkerungsgruppen als politisch form- und steuerbare Ressource mit dem Ziel, die Ökonomie anzukurbeln. Ideologisch wurde – mehr als zwei Jahrzehnte nach der Liberalisierung der Wirtschaft – die Zwei-Kind-Politik als Liberalisierung der Geburtenkontrolle gefeiert. Waren seit 1980 die Ein-Kind-Eltern „gute“ Bürger*innen, so sind es jetzt die Zwei-Kind-Eltern. Nicht nur die Quantität der Kinder wird dabei offiziell gefeiert, sondern auch deren vermeintliche Qualität gepriesen: Im Vergleich mit dem genauso bevölkerungsreichen, aber wirtschaftlich schwächeren Indien hebt der staatliche Diskurs jetzt als demographische Dividende Chinas die „Qualität“ der Bevölkerung in Bezug auf „Bildung, Gesundheit und Produktivität“ hervor.

Bevölkerungskontrolle gegenüber den Uigur*innen

Diese biopolitische Wende zeigt sich auch bei der Bevölkerungskontrolle gegenüber den Uigur*innen. In der Ära der Ein-Kind-Politik für Han-Chines*innen war es der uigurischen Bevölkerungsgruppe im Rahmen einer Politik des Minderheitenschutzes erlaubt, zwei bis drei Kinder zu bekommen. Wie bei den Tibeter*innen wurde gleichzeitig eine Assimilation an das konfuzianistische Han-Chines*innentum gefördert, durch Ansiedlung von Han-Chines*innen in den „autonomen“ Regionen der Minderheiten, durch Verbreitung han-chinesischer Bildung und Kultur sowie durch Mischehen. Nach den gewaltsamen Protesten und Anschlägen von Uigur*innen und der Eskalation des ethno-religiösen Konflikts in Xinjiang seit 2016 höhlte die Zentralregierung den Minderheitenschutz und den Autonomieanspruch jedoch zunehmend aus, die Uigur*innen wurden – wie zuvor die Tibeter*innen – rassifiziert als „Andere“ dargestellt und ihre Privilegien beim Zugang zu höherer Bildung und bei der Kinderzahl eingeschränkt. Die Geburtenkontrolle in Xinjiang wurde engmaschiger und durch Zwangsabtreibungen, Massensterilisationen und das erzwungene Einsetzen von Spiralen repressiver. In der Folge fiel seit 2016 die Bevölkerungskurve der Uigur*innen steil ab. Das ehemalige Privileg, drei Kinder haben zu dürfen, dient nun als Vorwand zur Internierung in einem der „Umerziehungslager“, wo laut Berichten massiv sexuelle und reproduktive Gewalt ausgeübt wird, ebenfalls mit Zwangsmaßnahmen zur Geburtenkontrolle. So eignet sich der chinesische Staat Körper und Territorium der Uigur*innen an.

Galt die Privilegierung von Minderheiten zuvor als sozial gerecht und ausgleichend in Bezug auf ungleiche Ausgangsbedingungen, so herrscht jetzt ein Gleichheitsprinzip, das die uigurisch-muslimische Bevölkerungsgruppe gezielt schwächt und ihre Persönlichkeitsrechte dramatisch missachtet. Han-Chines*innen beobachten teils mit Genugtuung, dass dieselben Methoden, mit denen ihre Fortpflanzung mehr als drei Jahrzehnte brutal kontrolliert und ihre reproduktiven Rechte durch Gewalt und Zwang verletzt wurden, jetzt bei Uigur*innen angewendet werden. Biopolitisch werden so verschiedene Bevölkerungsgruppen gegeneinander ausgespielt.

Tatsächlich steht jedoch auch die Zwei-Kind-Politik nicht im Dienst der Persönlichkeitsrechte der Han-Chines*innen, sondern ist ein mehrheits- und wirtschaftspolitisches Kalkül staatlicher Biomacht. In den sozialen Medien häufen sich bittere Kommentare, dass nun das erzwungen werden soll, was Generationen vorher verwehrt wurde. Nicht-genehmigte und versteckte Kinder berichten, welche Qualen und Ängste ihre Mütter während der Schwangerschaft und nach der Geburt durchleiden mussten. Großeltern schimpfen über die verwöhnten „kleinen Kaiser“ – Einzelkinder, in die enorme Investitionen an Bildung und Konsumgütern erfolgt sind. 2021 folgte als nächster „Liberalisierungsschritt“ die Drei-Kind-Familie, begründet mit der Furcht, dass 2022 die Geburtenrate unter die Sterberate fallen könnte – erstmalig seit der Zeit der großen Hungersnot zwischen 1959 und 1961. Tatsächlich bewegt sich die Bevölkerung auf ein Nullwachstum zu und könnte bald schrumpfen, die arbeitende Bevölkerung wird immer älter. Knapp die Hälfte der „Wanderarbeiter*innen“ sind schon jetzt über 50 Jahre alt.

Individualisierung und Wertewandel

Es gehorcht einer bizarren politischen Logik, dass der Grund für die Ausrufung der Drei-Kind-Familie die Erfolglosigkeit der Zwei-Kind-Politik seit 2016 war. Denn nach anfänglich leichtem Ansteigen fiel die Geburtenrate auf den aktuellen Tiefstand von 7,5 Geburten pro 1000 Einwohner*innen. Das resultiert auch aus einer sinkenden Zahl von Eheschließungen und einer kontinuierlichen Steigerung der Scheidungsquote. Viele Paare vertagen auch das Heiraten und leben unverheiratet und kinderlos zusammen.

Zugleich wird auf dem Land die patriarchal-konfuzianische Norm, dass die Fortsetzung der blutsverwandtschaftlichen Linie eine unveräußerliche familiale Pflicht von Männern und Frauen ist, weiterhin befolgt. Dementsprechend üben die Familien starken sozialen Druck auf die junge Generation in den Städten aus. In den 2000er Jahren erzeugte das eine Panik bei den „sitzengebliebenen“ Frauen über 30. Doch dieser Druck stößt zunehmend auf den Widerspruch von jungen Frauen und Paaren. Diese sind angesichts von steigenden Lebenshaltungskosten, aber auch aufgrund ihrer Ansprüche an Mittelklasselebensformen sowie wegen der hohen Bildungskosten für die Kinder und der Belastung durch den 9:9:6-Alltag (Jobs von 9 Uhr morgens bis 9 Uhr abends an 6 Tagen der Woche) mit einem Kind zufrieden und ausgelastet.

Auf dem Arbeitsmarkt machen Frauen der Einzelkind-Generation, die so viele Bildungschancen hatten wie nie zuvor, die Erfahrung, dass Wirtschaft und Arbeitsalltag immer noch patriarchal strukturiert sind, auch wenn die Diskriminierung von Frauen, insbesondere Müttern, offiziell verboten ist. In vielen Betrieben gibt es eine Warteschlange, um eine Schwangerschaft genehmigt zu bekommen, damit nicht zu viele Beschäftigte auf einmal ausfallen. Vielfältige Diskriminierungen während der Schwangerschaft in den Betrieben gelten als „Fruchtbarkeitsstrafe“. Auch die Beschäftigung von Müttern mit kleinen Kindern ist gesunken. Wo in Staatsbetrieben beide Ehepartner arbeiten, wird den Frauen oft eine Kündigung zur Sicherung der Männerjobs nahegelegt, informelle Arbeit von Frauen vor allem im Servicebereich hat zugenommen. Daher wollen Frauen, die einen guten Job haben, diesen nicht wegen Mutterschaft und Sorgepflichten aufgeben und sehen Kinder oft als Karrierehindernis.

Schon auf die staatlichen Zwei-Kind-Forderungen haben Frauen aus der Einzelkind-Generation mit drei Reproduktionsstrategien reagiert, so die Soziologin Ye Liu: Eine erste Gruppe passte sich der neuen Zwei-Kind-Norm an und bezog einen Selbstwert daraus, gehorsame Tochter und Bürgerin zu sein. Die Rebellinnen stellen eine zweite Gruppe dar, ihnen ist ihre berufliche Karriere wichtiger und ihr Selbstwertgefühl beruht auf ihrer Produktivität und ihrer Einkommenssicherheit. Die dritte Gruppe schwankt zwischen Karriere und den eingeforderten weiblichen Tugenden der Unterordnung und verschiebt ein zweites Kind.[4]

Zunehmend entwickeln sich in China neue weibliche Subjektivitäten, die sich weder den alten konfuzianischen Normen noch autoritär-staatlichen Vorgaben unterwerfen, wie die Untersuchungen von Angela Xiao Wu und Yige Dong zeigen: Als neuer Frauentypus tritt die aufstiegsorientierte, gut ausgebildete und karrierebewusste Frau auf den Plan, die ein selbständiges Subjekt im Markt und in ihrer Lebensplanung ist. Junge Feministinnen wehren sich gegen das „Heiratsbombardement“ ihrer Familie besonders zu Neujahr, haben eine Kampagne „single and happy“ gestartet und wollen ihre Sexualität aus den Zwängen der Heiratsmärkte befreien.[5] Sie nehmen sich die Freiheit, die Grenzen patriarchaler und autoritär-staatlicher Kontrolle zwischen Fortpflanzungspflicht und erkämpfter individueller Intimität neu auszuhandeln und verschieben die Grenzen zwischen Privatem und Öffentlichem. Lange hatte die staatliche Bevölkerungspolitik Sexualität und Reproduktionsverhalten zu einer öffentlichen Angelegenheit gemacht. Die jungen selbstständigen Frauen aber reprivatisieren und intimisieren sie.

Einige Frauen überlegen, ob sie alleinerziehende Mütter werden, ohne zu heiraten. Andere, eher unternehmerisch und neoliberal orientierte Feministinnen, setzen gutes Aussehen und Sexualität gezielt für einen sozialen Aufstieg ein und richten hohe Erwartungen an die Job- und Einkommenssicherheit von Männern. Work-ife-Balance wird als großes Problem gesehen. Wo bei berufstätigen Müttern nicht die Großmutter die Kinderbetreuung übernimmt, muss eine Kinderbetreuerin, meist Wanderarbeiterinnen vom Land, angeheuert oder eine private Kita bezahlt werden.

Jedenfalls reflektieren diese Subjektivitäten eine Individualisierung, die offenbar durch die Biographien von Einzelkindern, Bildungsaufstieg und Joberfolg in der liberalisierten Wirtschaft eine Eigendynamik entfaltet hat. Dieser kulturelle Wandel bedeutet ein Aufbrechen überlieferter Geschlechterrollen und der sozialen Ordnung, vor allem aber der Familienstrukturen – und ist damit auch ein Affront gegenüber dem traditionellen Konfuzianismus und der älteren Generation.

Der Backlash gegen diese autonomen Frauen ließ denn auch nicht lange auf sich warten. In den sozialen Medien wird ihnen ein Heirats- und Gebärstreik vorgeworfen, in Shitstorms werden sie als „Huren einer männlichen Elite“ und „feministisches Krebsgeschwür“ beschimpft oder als egoistisch, verschlagen, unehrlich und geldgeil niedergemacht. Es sind vor allem Männer aus der unteren Mittelschicht, die solche Angriffe fahren und dabei ein Konkurrenzverhalten an den Tag legen. Denn die Frage, wer es schafft, aus ländlichen Verhältnissen zum „Phönix“ aufzusteigen und dann eine gutverdienende Frau zu ergattern, ist auch eine neue Form von Klassenkampf in der Sphäre sozialer Reproduktion.

Work-Life-Balance und Kinderbetreuung

Der Staat hat auf diesen gesellschaftlichen Wandel reagiert und die Ausrufung der Drei-Kind-Familie mit sozial- und finanzpolitischen Maßnahmen flankiert. Dazu zählen ein längerer Mutterschutz, Elternzeit für drei Monate, besserer Zugang zu adäquaten Wohnungen, ein Bonus für das dritte Kind beim Aufnahmeexamen an der Uni und Steuervergünstigungen für Kinderbetreuung; einige Provinzen führten zudem Mutterschutz für das zweite und dritte Kind ein. Diese Werbe- und Anreizmaßnahmen sind eingebettet in eine bisher ungekannte Lobpreisung der Mehr-Kind-Familie, die während der Kulturrevolution der 1970er Jahre stark von der Partei abgewertet worden war. Zudem sollen öffentlich organisierte Heiratsmärkte mit Schaulaufen der Kandidat*innen der Vermählungsunlust entgegenwirken, und eine zwangsverordnete Bedenkzeit vor der Genehmigung einer Scheidung soll die Zahl der Trennungen senken. Plötzlich entdeckt der Staat auch Geschlechtsselektion und Femizide als Unrecht.

Verheirateten, ungewollt kinderlosen Paaren werden zudem Reproduktionstechnologien wie In-vitro-Fertilisation zur Verfügung gestellt. Der Staatsrat hat überdies im Juni 2022 eine Richtlinie veröffentlicht, wonach er in Zukunft das Recht auf Abtreibung beschränken will und nur noch medizinisch notwendige Abbrüche zulässig sein sollen. Leihmutterschaft wiederum ist offiziell verboten, ebenso wie die Abgabe von Eizellen und Spermien. Dahinter steht die Furcht vor Kommerzialisierung, gleichwohl gibt es Agenturen, die Leihmütter sowohl im Land, mehr aber noch im Ausland wie Kambodscha, den USA und – vor dem Krieg – der Ukraine vermitteln.[6] Als sich 2020 wegen der Corona-Pandemie in Kiew, der bis dato weltweit zentralen Drehscheibe für Leihmutterschaft, bestellte, aber nicht abgeholte Babys stauten, hatten geschätzt die Hälfte von ihnen genetische Eltern aus China. Bei der zentralen Frage der Kinderbetreuung hat der Staat einen Ausbau von Kindergärten zugesagt und zudem vorgeschlagen, die Immigration von drei Millionen Kinderbetreuerinnen und Hausangestellten aus Südost- und Südasien nach dem Modell Hongkong zuzulassen. In Hongkong betragen die Mindestlöhne nur ein Drittel derjenigen in Peking. Dadurch – so das Kalkül – könnten die Kosten für das Großziehen eines Kindes erheblich gesenkt werden und Mütter könnten im Arbeitsmarkt bleiben.

Dieser neue Familismus und die Vergünstigungen für das Kinderkriegen gelten jedoch nur für die heterosexuelle Familie und schließen immer noch Alleinerziehende und gleichgeschlechtliche Paare aus. Singles haben auch keinen Zugang zu reproduktiven Technologien und zum sogenannten Social Freezing, bei dem Frauen eigene Eizellen in jungen Jahren entnommen und eingefroren werden, um sie später zu verwenden. Offizielle Statistiken über die Zahl von Alleinerziehenden und außerehelichen Kindern gibt es zwar nicht, aber bei diesen Themen fliegen in den sozialen Medien die Fetzen, immer häufiger wird auch vor Gericht wegen Diskriminierung geklagt.

Das radikale Gegenmodell zu dieser staatlichen Politik bildet die neue Aussteiger*innen-Bewegung „Lying Flat“. Sie verweigert sich dem Überarbeitungs-, Leistungs- und Konsumstress der kapitalistischen Ökonomie, aber auch der biopolitischen Staatsräson. Ihr Slogan lautet: „Leg Dir kein Eigentum zu. Kauf kein Auto. Heirate nicht. Bekomm keine Kinder. Und konsumiere nicht.“ Sie personifizieren die Eigendynamik, die Individualisierungsprozesse, aber auch Widerstandspotentiale gegen den kontroll- und regulierungsbesessenen staatlichen Machtapparat und die wachstumsbesessene Wirtschaft entfalten. In den 2000er Jahren hatte bereits eine Generation von „Shamate“, „Bauernpunks“, die als Wanderarbeiter*innen vom Land kamen und wie ihre Eltern für schlecht bezahlte Jobs in den Fabriken schufteten, einen solchen Normen- und Regelbruch öffentlich zur Schau gestellt.[7]

Einstweilen noch unberührt davon zeigt der chinesische Staat mit der Drei-Kind-Politik und seinem demographisch-biopolitischen Kurs bei der Pandemiebekämpfung und der Repression gegenüber den Uigur*innen, dass er verstärkt auf autoritäres, oft gewaltförmiges Ein- und Durchgreifen setzt. Auch in der Bevölkerungspolitik versucht er, Steuerungskompetenz und Kontrolle zu behalten. Sein neuer Familismus soll zwischen der repressiven Liberalisierung der Reproduktion und autoritärer Fürsorglichkeit vermitteln und einen Gegenpol zur Individualisierung konstruieren. Doch diese autoritär-repressiven Herrschaftstechniken erzeugen nicht nur Subjektivitäten, die sich anpassen, sondern auch widerständige. Lückenlose Überwachung und Regulierung wie auch der breite und diverse Widerstand dagegen eskalieren immer weiter zu einer brisanten und vielleicht sogar explosiven Mischung.

[1] Vgl. „Ein Flickenteppich an Macht“. Interview mit dem Chuang-Kollektiv über die Covid-19-Pandemie und State-Building in China, in: „iz3w“, Juli/August 2022, S. 13-15.

[2] Vgl. Fabian Kretschmer, Gesundheitscodes und Nachbarschaftskomitees, in: „die tageszeitung“, 20.6.2022.

[3] Seit 1953 ist Abtreibung in China legal und leicht zugänglich. Die Volksrepublik gehört weltweit zu den Ländern, in denen Abtreibung am häufigsten als Mittel der Geburtenkontrolle genutzt wird.

[4] Vgl. Ye Liu, As the Two-Child Policy Beckons: Work-Family Conflicts, Gender Strategies and Self-Worth among Women from the First One-Child Generation in Contemporary China, in: „Work, Employment and Society“ 2021, S. 1-19.

[5] Vgl. Angela Xiao Wu und Yige Dong, What is made-in-China feminism(s)? Gender discontent and class friction in post-socialist China, in: „Critical Asian Studies“, 4/2019, S. 471-492.

[6] Vgl. Qian Tang, Surrogacy in China: Public opinion, Litigations, and Court Rulings, in: „Asian Social Sciences“, 10/2019, S. 84-104.

[7] Vgl. Frédéric Dalléas, Chinas Arbeiterpunks, in: „Le Monde diplomatique“, 2/2022.

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