
Bild: Ja- und Nein-Plakate zu einem Volksentscheid, Zürich, 23.1.2022 (IMAGO / Geisser)
Das politische System der Schweiz ist reich an besonderen Merkmalen. Recht bekannt sind Volksentscheide per Referendum und Initiative[1]; die siebenköpfige, Bundesrat genannte Landesregierung, in der die vier wählerstärksten Parteien vertreten sind; und eine Bundespräsidentin oder ein Bundespräsident als Prima/Primus inter Pares, die oder der vom Parlament aus dem Kreis der Bundesratsmitglieder für die Dauer eines Jahres gewählt wird. Doch es gibt ein weiteres, weit weniger bekanntes und gleichwohl bemerkenswertes Charakteristikum: das Fehlen einer Verfassungsgerichtsbarkeit.
In der Schweizerischen Bundesverfassung (BV) heißt es im Artikel 190: „Bundesgesetze und Völkerrecht sind für das Bundesgericht und die anderen rechtsanwendenden Behörden maßgebend.“[2] Diese Bestimmung geht bereits auf die Revision der Bundesverfassung im Jahr 1874 zurück und hat erhebliche Konsequenzen: Bundesgesetze müssen auch dann angewendet werden, wenn sie verfassungswidrig sind.[3]
Verschiedene Akteure haben immer wieder versucht, die Verfassungsgerichtsbarkeit auf Bundesgesetze auszudehnen: Parlamentsmitglieder, aber auch Regierungsvertreter von Kantonen, die eine Kontrolle derjenigen Bundesgesetze forderten, die mutmaßlich die verfassungsmäßigen Kompetenzen der Kantone verletzen.