Ausgabe November 2025

Sudan: Mit Basisdemokratie gegen den Horror des Krieges

Sudanesische Flüchtlinge an der Grenze in der tschadischen Stadt Tine, 26.6.2025 (IMAGO / Xinhua)

Bild: Sudanesische Flüchtlinge an der Grenze in der tschadischen Stadt Tine, 26.6.2025 (IMAGO / Xinhua)

Wenn Mohamed al-Tahir das Internet benutzen will, braucht er das Weltall. Genauer gesagt: eine Verbindung über Starlink, das Satellitennetzwerk des US-amerikanischen Milliardärs Elon Musk. „Kostet ein Dollar pro Stunde“, sagt er im Gespräch auf WhatsApp. Reden ist teuer, er muss jeden Cent zweimal umdrehen. Al-Tahir, 30 Jahre alt, ist Finanzkoordinator für die „Emergency Response Rooms“ (ERR) in der sudanesischen Hauptstadt Khartum. Diese lokalen Selbsthilfeorganisationen haben am 2. Dezember in Stockholm den „Right Livelihood Award“, den „alternativen Nobelpreis“, bekommen. Das dürfte ihrem Land endlich etwas mehr internationale Aufmerksamkeit einbringen.[1] Nicht nur für die derzeit schlimmste humanitäre Katastrophe weltweit, sondern auch für die vielleicht mutigste und revolutionärste Antwort darauf. 

Der Krieg in dem ostafrikanischen Land geht ins dritte Jahr. Was im April 2023 als blutiger Machtkampf zwischen den nationalen Streitkräften (SAF) und den paramilitärischen „Rapid Support Forces“ (RSF) begann, ist längst ein internationaler Konflikt geworden, befeuert von Nachbarländern und Regionalmächten. Die SAF wird unterstützt von Ägypten, der Türkei, Iran und, wenn auch verhalten, von Saudi-Arabien. Wichtigster Verbündeter der RSF sind die Vereinigten Arabischem Emirate. Es geht um Rohstoffe und Land, es geht um geostrategischen Einfluss in Afrika. Den Preis zahlen die Sudanesinnen und Sudanesen. Zwölf Millionen sind vertrieben, über 25 Millionen von Hunger bedroht. Die Zahl der Toten wird mittlerweile auf 150 000 geschätzt. Die Kriegsparteien belagern Städte, beschießen Krankenhäuser, bombardieren Flüchtlingslager. Bei allem Hass aufeinander eint sie eine immense Zerstörungswut gegenüber der eigenen Bevölkerung.

Aber die wehrt sich. Nicht mit Waffen, sondern mit „nafeer“. Das Wort bedeutet im Sudan „Aufruf zum gemeinschaftlichen Handeln“. Gleich nach Kriegsbeginn hatten sich die Vereinten Nationen und internationale NGOs aus der Hauptstadt und fast allen Regionen des Landes zurückgezogen. In Khartum häuften sich Explosionen, Häuserkämpfe, Plünderungen. Inmitten des Horrors blinkten auf den Handys der Menschen immer mehr WhatsApp-Nachrichten wie diese auf: „Habe Notrationen für 70 Familien.“ „Wer sichere Schlafplätze und Trinkwasser braucht, hier anrufen.“ „Für Evakuierung aus Khartum hier melden.“

Mohamed al-Tahir half am dritten Tag des Krieges zusammen mit Nachbarn, die Notaufnahme im Krankenhaus seines Stadtteils geöffnet zu halten. Sie organisierten Diesel für einen Generator, weil der Strom ausgefallen war. So begann die Arbeit seines lokalen „Emergency Response Room“. Al-Tahir, gelernter Buchhalter, besorgte Nachschub an Medikamenten. Viele Apotheken waren bereits von Kämpfern überfallen und ausgeplündert worden, „da durfte ich mitnehmen, was liegen geblieben war“. Zweieinhalb Jahre später ist aus al-Tahir ein gewiefter Kassenwart für Khartums über 160 ERRs geworden – und aus den einzelnen Initiativen ein landesweites Netz. Die ersten Spenden kamen aus der sudanesischen Diaspora, inzwischen geben auch westliche Regierungen und internationale Hilfsorganisationen Geld. Die ERRs betreiben Gemeinschaftsküchen, evakuieren Familien aus umkämpften Gebieten, verteilen Seife, Zahnpasta und Monatsbinden, reparieren zerschossene Wasserpumpen, betreuen Überlebende der massenhaften Vergewaltigungen. Bereits in den ersten Kriegsmonaten halfen sie rund 2,7 Millionen Menschen – darunter vielen in heftig umkämpften und unzugänglichen Gebieten.[2]

Die Fortführung der Revolution

Dass Zivilgesellschaften im Katastrophenfall eine enorme Tatkraft entwickeln und staatliche Aufgaben übernehmen können, kennt man auch aus Syrien, der Ukraine, Myanmar oder dem Jemen. Der Fall des Sudan ist außergewöhnlich, weil sich die Initiativen binnen kurzer Zeit eine nationale basisdemokratische Struktur gegeben haben. 

Angehörige eines lokalen ERR, zuständig für einige Wohnblöcke oder eine Nachbarschaft, wählen eine Vertreterin oder einen Vertreter für ein Bezirkskomitee. Dieses wiederum entsendet ein Mitglied in ein Komitee auf Ebene des jeweiligen Bundesstaates. Ein nationaler Koordinierungsrat vernetzt die ERRs aus allen Bundesstaaten mit anderen sudanesischen Organisationen der Zivilgesellschaft und mit internationalen NGOs. Welche Art der Hilfe wo geleistet wird, bestimmen die Nothelferinnen und -helfer an der Basis – und natürlich die engen Grenzen der finanziellen Ressourcen.[3]

„Wir arbeiten nur humanitär“, betont Mohamed al-Tahir. „Wir sind nicht politisch.“ Was einerseits stimmt, denn die ERRs verhalten sich im Krieg zwischen SAF und RSF strikt neutral. Nur sind sie andererseits in deren Augen alles andere als unpolitisch. Denn was die Nachbarschaftsinitiativen im Sudan seit April 2023 aufgebaut haben, ist eine Fortführung jener Revolution, die längst gescheitert schien. 

2019 hatten hunderttausende Sudanesinnen und Sudanesen mit Massenprotesten den damaligen Diktator Omar al-Baschir gestürzt. Zu den Organisatoren des gewaltfreien Aufstands zählten tausende von „Neighborhood Resistance Committees“. Ihre meist jungen Mitglieder organisierten Demonstrationen, prangerten korrupte Politiker an und dokumentierten die oft tödliche Gewalt von Armee und RSF – damals waren diese noch vereint in dem Bestreben, die Proteste niederzuschlagen. Nach Baschirs Sturz beteiligten sich die Komitees an der Verwaltung ihrer Wohnviertel und mobilisierten für freie Wahlen. Die aber fanden nie statt. Zuerst putschten Armee und Paramilitärs gemeinsam gegen eine Übergangsregierung. Dann begruben sie den demokratischen Aufbruch endgültig mit ihrem mörderischen Machtkampf. So dachte man jedenfalls. Doch die lokalen Widerstandskomitees waren nicht verschwunden. Mit Beginn des Krieges benannten sich viele in „Emergency Response Rooms“ um und nutzen ihre Strukturen nun, um so viele Landsleute wie möglich vor dem Terror der Kriegsparteien zu schützen – und um ihr basisdemokratisches Experiment zu retten. 

Für Armee wie Paramilitärs ist das eine Bedrohung. Über 100 ehrenamtliche ERR-Helferinnen und -Helfer sind seit April 2023 getötet worden. Andere wurden verschleppt und misshandelt. Mohamed al-Tahir ist bereits zweimal verhaftet worden, als die paramilitärischen RSF Khartum kontrollierten. Zu seiner Sicherheit ist sein Name geändert. Im vergangenen Frühjahr hat die Armee die zerstörte Hauptstadt eingenommen. Auch sie betrachtet die ERRs als Gegner. Genau wie die RSF braucht sie die Kontrolle über Nothilfe, um staatliche Autorität zu reklamieren, den Gegner unter Druck zu setzen und die eigenen Kassen aufzufüllen. 

Zweigeteilter Sudan 

De facto ist der Sudan heute geteilt. Die Armee kontrolliert den Osten, die Hauptstadt Khartum und die Mitte des Landes. Die RSF beherrschen die westliche Region Darfur und den größten Teil der Region Kordofan. Beide Seiten haben Regierungen aufgestellt. Die der Armeeführung, von den Vereinten Nationen anerkannt, sitzt größtenteils noch in Port Sudan, der Hafenstadt am Roten Meer. Dorthin haben sich auch die UNO und andere internationale Hilfsorganisationen zurückgezogen. Die Regierung der RSF befindet sich in Nyala, der größten Stadt in Darfur. 

Beide Seiten haben Nothilfe immer wieder als Waffe eingesetzt und Lieferungen für Zivilisten in Gebieten unter Kontrolle des Gegners blockiert. Gleichzeitig verdienen beide Kriegsparteien an der Nothilfe, so sie diese zulassen. Die Armee, indem sie der UNO und internationalen NGOs in Port Sudan für jeden Hilfstransport exorbitante Gebühren abfordert. Die Paramilitärs, indem sie den humanitären Konvois an Checkpoints „Wegzölle“ in Höhe von mehreren tausend Dollar abnehmen. Und beide Seiten wollen, dass sich unabhängige lokale Initiativen wie die „Emergency Response Rooms“ ihrer Aufsicht unterordnen. Wie groß deren Spielraum bleiben wird, hängt nicht zuletzt von ihren Geldgebern ab – vor allem von großen internationalen NGOs und westlichen Staaten. Auch von Deutschland.

Der Bottom-up-Ansatz der Nachbarschaftsinitiativen widerspricht der jahrzehntelangen Praxis im globalen System der humanitären Hilfe. Internationale Hilfsgelder werden meist von „oben nach unten“ durchgereicht. Zuerst an große internationale NGOs, von dort weiter an lokale, staatlich registrierte Organisationen, die wiederum von den internationalen kontrolliert werden. Das soll Transparenz und Professionalität garantieren, führt aber auch oft zu Projekten, die mehr den Vorstellungen der Geber entsprechen als den Bedürfnissen der Bevölkerung in Not. Und es führt zu erheblichen Kosten bei den internationalen Hilfsorganisationen – unter anderem für die Finanzierung von Leitungspersonal, das oft aus dem Globalen Norden stammt.

Entkolonisierte Hilfe

„Dieses Drehbuch haben wir auf den Kopf gestellt“, sagt Alsanosi Adam, wie Mohamed al-Tahir ein ERR-Aktivist der ersten Stunde. Adam, ein Dokumentarfilmer, agiert als einer der Pressesprecher für seine Bewegung aus dem kenianischen Exil, weswegen man seinen richtigen Namen verwenden kann. „Lokalisierung der Hilfe“ heißt die Praxis der ERRs im Expertenjargon. „Decolonised aid“, entkolonisierte Hilfe, nennt sie die Jury des „Right Livelihood Award“, weil sie den direkt betroffenen Menschen die Möglichkeit gebe, ihre eigenen Prioritäten zu definieren. „Und jeder Dollar, der gespendet wird“, sagt Adam, „kommt auch bei den Leuten an“, denn die ERRs haben keine Kosten für Gehälter, Büros oder Autos. 

Einer der ersten großen Geber, der sich mit Kriegsbeginn auf dieses Modell einließ, war USAID. Unter der Administration von Joe Biden versorgte die Behörde für internationale Entwicklung mehr als jedes andere Land die ERRs mit Geld und – soweit möglich – Hilfsgütern. Mit dem Amtsantritt von Donald Trump im Januar wurde USAID abgewickelt, und zwar von Elon Musk. Die Behörde sei ein „Schlangennest radikaler Marxisten“, erklärte der reichste Mann der Welt, vom neuen Präsidenten mit „Bürokratieabbau“ beauftragt. Von einem Tag auf den anderen mussten hunderte Gemeinschaftsküchen der ERRs im Sudan schließen. 

Dass Musk auch noch durch Starlink an der Not der sudanesischen Bevölkerung verdient, stößt vielen Mitgliedern der ERRs bitter auf. „Aber was bleibt uns anderes übrig“, sagt al-Tahir, der Finanzkoordinator in Khartum. Die Infrastruktur ist in vielen Teilen des Landes zerstört, Armee wie Paramilitärs erzwingen immer wieder Blackouts der lokalen Internetanbieter. Also gehören Starlink-Stationen und Solarpaneele heute zur Ausstattung vieler ERRs, auch um Geld zu empfangen oder zu versenden. Bezahlt und eingekauft wird meist über die App einer Bank. Mit Bargeld herumzulaufen, sei zu gefährlich, so al-Tahir. Und die meisten Banken sind ohnehin geschlossen. 

Gekürzte Hilfsbudgets, fehlende Diplomatie

Bisher hat niemand die Löcher stopfen können oder wollen, die mit der Zerschlagung von USAID entstanden sind. Zum einen tun sich Geberländer immer noch schwer mit lokalen Netzwerken wie den ERRs, die autark agieren, nicht staatlich registriert sind und denen man in Kriegszeiten nicht eben mal einen Berater zur Evaluierung ihrer Arbeit vorbeischicken kann. 

Zum anderen kürzen europäische Staaten, auch Deutschland, schon seit Jahren ihre Budgets für internationale Hilfe und haben ihre schrumpfenden Mittel in andere Krisenregionen verteilt, vor allem die Ukraine. Im Fall des Sudan bleibt die Finanzierung weit hinter dem zurück, was gebraucht würde. Für 2025 hat die UNO 4,2 Mrd. Dollar veranschlagt. Bis Ende September waren gerade einmal 25 Prozent der Summe eingegangen.[4] Nur ein Bruchteil dieser Gelder geht bislang an die „Emergency Response Rooms“. Je schwächer sie finanziell dastehen, desto mehr ist auch ihr demokratisches Experiment in den Zeiten des Krieges in Gefahr. Dessen Ende ist vorerst nicht abzusehen. Im September schien sich kurz ein Fenster für Verhandlungen zu öffnen: Trumps Berater für Afrika, Massad Boulos, hatte die Hauptverbündeten der Kriegsparteien – Ägypten, Saudi-Arabien und die VAE – zu einem gemeinsamen Statement genötigt, in dem eine humanitäre Waffenruhe gefordert und der Stopp jeglicher Waffenlieferungen an die Kriegsparteien für „unabdingbar“ erklärt wurde.[5] Doch der Vorstoß scheint bereits wieder zu verpuffen. Armee und Paramilitärs kämpfen unvermindert weiter, ohne Nachschubprobleme und ohne jede Rücksicht auf die Zivilbevölkerung. 

Weitgehend unbemerkt von der Weltöffentlichkeit belagern die RSF seit über einem Jahr Al-Faschir, die einzige noch von der Armee gehaltene Stadt in Darfur mit rund 260 000 Einwohnern. Fast täglich werden Dutzende von ihnen durch Drohnenangriffe getötet, Nahrungsmittel gibt es kaum noch, auch die meisten Küchen der ERRs mussten schließen. Die Menschen ernähren sich von Tierfutter.[6] Nur gibt es keinen internationalen Aufschrei, keine Kampagne für eine Luftbrücke, keine diplomatischen Initiativen, um massiven Druck auf die VAE auszuüben, den Hauptsponsor der Paramilitärs, auch nicht seitens der EU oder Deutschlands. Und auch in Khartoum ist Mohamed al-Tahir im dritten Jahr des Krieges wieder auf der Suche nach Medikamenten. 

[1] Awarded 2025. Emergency Response Rooms, rightlivelihood.org.

[2] Nicholas Noe, Accelerating Localization: A Roadmap for The Sudan Humanitarian Fund, refugeesinternational.org, 19.9.2025.

[3] Khartoum State ERR, khartoumerr.org.

[4] Key facts and figures for the Sudan crisis (As of 30 September 2025), reliefweb.int, 30.9.2025.

[5] U.S. Department of State, Joint Statement on Restoring Peace and Security in Sudan, state.gov, 12.9.2025.

[6] Global Center for the Responsibility to Protect, Joint Statement: Safe Passage: Protection for Civilians Under Siege in El Fasher. Open Letter, globalr2p.org, 1.10.2025.

Aktuelle Ausgabe Dezember 2025

In der Dezember-Ausgabe ergründet Thomas Assheuer, was die völkische Rechte mit der Silicon-Valley-Elite verbindet, und erkennt in Ernst Jünger, einem Vordenker des historischen Faschismus, auch einen Stichwortgeber der Cyberlibertären. Ob in den USA, Russland, China oder Europa: Überall bilden Antifeminismus, Queerphobie und die selektive Geburtenförderung wichtige Bausteine faschistischer Biopolitik, argumentiert Christa Wichterich. Friederike Otto wiederum erläutert, warum wir trotz der schwachen Ergebnisse der UN-Klimakonferenz nicht in Ohnmacht verfallen dürfen und die Narrative des fossilistischen Kolonialismus herausfordern müssen. Hannes Einsporn warnt angesichts weltweit hoher Flüchtlingszahlen und immer restriktiverer Migrationspolitiken vor einem Kollaps des globalen Flüchtlingsschutzes. Und die Sozialwissenschaftler Tim Engartner und Daniel von Orloff zeigen mit Blick auf Großbritannien und die Schweiz, wie wir dem Bahndesaster entkommen könnten – nämlich mit einer gemeinwohlorientierten Bürgerbahn. 

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