Ausgabe Juli 1994

Aufruf für einen Wahlkampf gegen Rassismus

In den vergangenen Jahren wurden wir Zeugen einer beispiellosen Reihe von Angriffen und Mordanschlägen auf Angehörige unterschiedlicher Minderheiten, vor allem auf Flüchtlinge, Einwanderer und als "andersartig" eingestufte Menschen. Dem Anstieg und offenen Auftreten des Rassismus und der rechtsextremen Gewalt hat nicht zuletzt die "Asyldebatte" mit der darauffolgenden Grundgesetzänderung den Boden bereitet. Vor diesem Hintergrund erfüllen uns die Aussichten für das "Superwahljahr 1994" mit Sorge: Wenn wie in den Unionsparteien - die Einschätzung handlungsleitend ist, daß die Wahlen "rechts von der Mitte" gewonnen werden, dann droht die Fortsetzung dieser Anpassung nach rechts auf erweiterter Stufenleiter. Die Nähe zu rechtsextremen Positionen und Vokabeln hat am deutlichsten die CSU mit ihrer Ankündigung erkennen lassen, die angebliche "Überfremdung" der Bundesrepublik zum Wahlkampfthema zu machen. Ein Wahlkampf, der irrationale Ängste vor ohnehin benachteiligten Minderheiten schürt oder mit "völkischen" Kategorien Stimmung machen will, schafft das Klima für weitere Anschläge.

Doch nicht nur mit der Warnung vor der "Überfremdung" wird das Geschäft der rechtsextremen Ideologen betrieben. Innere Sicherheit, organisierte Kriminalität und die Warnung vor dem politischen Chaos mit dem Hinweis auf "Weimarer Verhältnisse" sind weitere Themen, mit denen reale Ängste und diffuse Unsicherheit auf gefährliche Weise mißbraucht werden. Wer solche Stimmungen zu Wahlkampfzwecken instrumentalisiert und mit Scheinlösungen, die einen starken Ordnungsstaat nahelegen, auf Stimmenfang geht, gräbt am Fundament der Demokratie. Wer mit Scheindebatten von den tatsächlichen wirtschaftlichen Schwierigkeiten und einer unsozialen Politik abzulenken versucht, statt die Probleme mit ihren komplexen Ursachen anzugehen, arbeitet den Rechtsextremisten in die Hände. Er braucht sich nicht zu wundern, wenn er sich in der Rolle des Zauberlehrlings wiederfindet, der die Geister nicht mehr los wird, die er rief.

Statt im Wahlkampf mit Rassismus und Rechtsanpassung zu operieren, fordern wir alle Parteien dazu auf, sich offensiv für eine Politik einzusetzen, die ein demokratisches und gleichberechtigtes Miteinander ermöglicht. Dazu gehört die Anerkennung der Tatsache, daß die Bundesrepublik ein Einwanderungsland ist. Voraussetzung für ein gleichberechtigtes Zusammenleben ist, daß alle Mitglieder einer Gesellschaft über die Geschicke des Staates mitbestimmen können. Um dies zu gewährleisten, brauchen wir wirksame Maßnahmen gegen Diskriminierung und ein neues Staatsbürgerrecht. Der in allen westlichen Verfassungsstaaten gültige Grundsatz, daß Geburt oder Wohnsitz im jeweiligen Land für das Recht auf Staatsbürgerschaft ausreichen (ius soli), muß auch in Deutschland das Blutsprinzip der "Abstammungsgemeinschaft" ablösen (ius sanguinis). Einbürgerungen müssen erleichtert, die generelle Möglichkeit der doppelten Staatsbürgerschaft muß eingeführt werden. Wer die Folgen politischer Entscheidungen zu tragen hat, muß an deren Zustandekommen gleichberechtigt teilhaben können - auch wenn er oder sie keinen deutschen Paß hat. Das unabdingbare Minimum demokratischer Mitwirkung ist das Wahlrecht - auch für "AusländerInnen".

Wir rufen alle Parteien und PolitikerInnen dazu auf, nicht mit rechtsextremen Positionen und Vokabeln Wahlkampf zu betreiben und sich für eine solidarische und demokratische Gesellschaft stark zu machen. Alle Wählerinnen und Wähler rufen wir auf, keine Parteien zu wählen, die mit Angst und Ausgrenzung Wahlkampf führen, sondern sich für solche Programme zu entscheiden, die glaubwürdig gegen Rassismus und für ein gleichberechtigtes Zusammenleben stehen.

Initiatoren und UnterzeichnerInnen (Stand: 27.5.94):

Elmar Altvater, Hochschullehrer; Karl-Otto Apel, Hochschullehrer; Nasrin Bassiri, Autorin, Vorsitzende des Vereins Iranischer Flüchtlinge; Ulrich Beck, Hochschullehrer; Ellsabeth Beck-Gernsheim, Hochschullehrerin; Almuth Berger, Ausländerbeauftragte des Landes Brandenburg; Dagmar Birkelbach, Frauenbeauftragte; Micha Brumlik, Hochschullehrer; Hauke Brunkhorst, Hochschullehrer; Susanne Deufel-Herbolte, Sprecherin Pax Christi (Bistum Berlin); Eugen Drewermann, Schriftsteller; Helmut Esslnger, Hochschullehrer; Klaus Farin, Autor; Iring Fetscher, Hochschullehrer; Peter Franck, Richter; Manfred Frank, Hochschullehrer; Helmut Frenz, Flüchtlingsbeauftragter der Nordelbischen Kirche; Hajo Funke, Hochschullehrer; Ralph Giordano, Schriftsteller; Günter Grass, Schriftsteller; Hans-Martin Gutmann, Theologe; Jürgen Habermas, Hochschullehrer, Winfried Hartwig, Geschäftsführer Pax Christi (Bistum Berlin); Helmut Heißenbüttel, Schriftsteller; Eckhard Henscheid, Schriftsteller; Stephan Hermlin, Schriftsteller; Hanne Hiob-Brecht, Schauspielerin; Klaus Holzkamp, Hochschullehrer; Axel Honneth, Hochschullehrer; Walter Hornstein, Hochschullehrer; Annetta Kahane, Leiterin der RRA Berlin; Alfred Kernd'l, Archäologe, Historiker; Dietrich Ittner, Kabarettist; Rainer Land, Philosoph, Sozialwissenschaftler; Herbert Leuninger, Pro Asyl; Bahman Nirumand, Schriftsteller, Journalist; Ute Osterkamp, Hochschullererin; Andreas Pangritz, Theologe; Bernd Rabehl, Hochschullehrer; Ruth Rehmann, Schriftstellerin; Horst-Eberhard Richter, Psychoanalytker, Leiter des Sigmund-Freud-Instituts; Birgit Rommelspacher, Hochschullehrerin; Wolfgang Scheffler, Hochschullehrer; Gerhard Schoenberner, Autor; Lothar Schrelner, Hochschullehrer; Gesine Schwan, Hochschullehrerin; Eberhard Seidel-Pielen, Autor; Luis Serglo, Gewerkschaftssekretär der IG Metall Berlin; Dorothee Sölle, Schriftstellerin; Traudl Vorbrodt, Kommission Asyl/Flüchtlinge Pax Christi BRD; Peter Weber, Richter; Albrecht Wellmer, Hochschullehrer.

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