Ausgabe Mai 2002

Berlusconitis

Indro Montanelli war ein weiser Mann. Er konnte auf ein äußerst bewegtes Leben im Dienste des Journalismus zurückblicken: geboren in der liberalen Giolitti-Ära, Erster Weltkrieg, groß geworden mit den Schwarzhemden Mussolinis, Zweiter Weltkrieg, demokratischer Neuanfang, Systemwechsel von der Monarchie zur Republik, 68er Revolten, die "bleiernen Jahre" 1) des Links- und Rechtsterrorismus, die "Jahre des Schlamms" 2), in dem sich die Parteien suhlten, die Tangentopoli-Krise des "Schmiergeldstaats" und der vermeintliche Aufbruch in die zweite italienische Republik. Viele sahen in dem hoch gewachsenen und spindeldürren Alten Italiens letzte Stimme des Gewissens, die mit seinem Tod vor knapp einem Jahr verstummte. Er war der Nestor des italienischen Journalismus schlechthin, ein Intellektueller, versteht sich, beileibe aber kein Linker. Zu guter Letzt hat er sich noch mal als Arzt versucht. Seine Diagnose lautete: "Berlusconitis".

An dieser heimtückischen Krankheit leide sein Land, und nur ein einziger Impfstoff verspreche Heilung: eine Überdosis Berlusconi! Ob Krankheit, Anomalie oder Faktor B - wie immer man das Phänomen Berlusconi auch nennen mag: Italien ist schon fast daran gewöhnt, aus dem Raster westlicher Demokratien zu fallen.

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In der Dezember-Ausgabe ergründet Thomas Assheuer, was die völkische Rechte mit der Silicon-Valley-Elite verbindet, und erkennt in Ernst Jünger, einem Vordenker des historischen Faschismus, auch einen Stichwortgeber der Cyberlibertären. Ob in den USA, Russland, China oder Europa: Überall bilden Antifeminismus, Queerphobie und die selektive Geburtenförderung wichtige Bausteine faschistischer Biopolitik, argumentiert Christa Wichterich. Friederike Otto wiederum erläutert, warum wir trotz der schwachen Ergebnisse der UN-Klimakonferenz nicht in Ohnmacht verfallen dürfen und die Narrative des fossilistischen Kolonialismus herausfordern müssen. Hannes Einsporn warnt angesichts weltweit hoher Flüchtlingszahlen und immer restriktiverer Migrationspolitiken vor einem Kollaps des globalen Flüchtlingsschutzes. Und die Sozialwissenschaftler Tim Engartner und Daniel von Orloff zeigen mit Blick auf Großbritannien und die Schweiz, wie wir dem Bahndesaster entkommen könnten – nämlich mit einer gemeinwohlorientierten Bürgerbahn. 

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