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Die Corona-Pandemie ist eine Naturkatastrophe, aber sie ist zugleich weit mehr als das. In ihr spiegeln sich die Stärken und Schwächen der Gegenwartsgesellschaften. Sie erinnert die Menschen daran, dass sie Naturwesen sind und der Naturbeziehung verhaftet bleiben. Einerseits konnten sie ihre Spielräume in der Natur mittels Wissenschaft und Technik erheblich erweitern, andererseits steigerten sie gerade dadurch jene Naturvergessenheit, die der blinde Fleck in der Weltwahrnehmung des überkommenen, aber längst global hegemonialen Industrialismus ist. Corona offenbart eine regelrechte Verwahrlosung der Vernunft und untergräbt das Vertrauen in die Handlungsfähigkeit von Staaten und Regierungen.
Mit der Pandemie sehen Politik und Gesellschaft sich wieder auf eine ursprüngliche, sozusagen sokratische Position zurückverwiesen. Corona zeigt, wie abhängig sie von der Natur sind. Und wie begrenzt ihr Wissen ist. Und wie sehr die Gesellschaft auf Erkenntnisse einer Wissenschaft angewiesen ist, die ihrerseits vor neuen Herausforderungen steht und sich erst mühsam vorantasten muss. Damit ist die Corona-Krise zum Feld eines Kampfes um die Vernunft geworden, der heute weltweit tobt.
Gleichzeitig sind die Entscheidungen, die Politik gegenwärtig treffen muss, denkbar weitreichend. In der Pandemie reichen sie bis hin zu massiven Einschränkungen der Freiheitsrechte, also zentralen Werten der Demokratie. Es geht um prekäre Entscheidungen zwischen unbequemen Alternativen: Strikter oder weniger strikter Lockdown? Oder das schwedische Modell der freiwilligen Selbstbeschränkungen – das offensichtlich nicht ausreichend war? Klar ist nur eines: Blindheit und Taubheit gegenüber den Mahnungen der Wissenschaft führen geradewegs ins Desaster. Aber auch ein bloß technokratisches oder szientistisches Politikverständnis reicht unter den Bedingungen der eingeschränkten Vorhersehbarkeit nicht aus. Die unsichere Wissensbasis ist alles andere als gemütlich für das Handeln von verantwortlicher Politik in der Pandemie.
Gegenwärtig studiert Wissenschaft auch schon Resultate der Maßnahmen, die ergriffen wurden – vor allem in Ländern, die zunächst relativ glimpflich davon kamen. Als Zwischenstand zeigt sich: Die relativen Erfolge waren nicht bloß Ergebnis eines Glücksspiels, sondern auch eines guten Zusammenspiels von Politik und Wissenschaft – trotz oder auch wegen der unsicheren Fakten- und Wissenslage. Wichtig war und ist schnelles Lernen aus den Erfahrungen anderer Länder sowie ein fortwährendes Überprüfen und Bewerten der Situation – also ein kluges Fahren auf Sicht, das Schutzregeln den sich verändernden Bedingungen immer wieder anpasst. Und natürlich ein angemessen konsequentes Handeln – also das Gegenteil von „too less, too late“.
Die Erkenntnisse zu den ergriffenen Maßnahmen liefern aber auch gute Gründe für Demut im weiteren Umgang mit Corona, und zwar auch bei denen, die bisher relativ glimpflich davon gekommen sind. Denn auch sie standen knapp vor der Katastrophe. Und die Krise ist – wie der dramatische Anstieg der Zahlen zeigt – alles andere als vorbei. Gerade mit Blick auf die kommende lange Herbst- und Winter-Phase drohen weitere Pandemiewellen alle erreichten Erfolge unter sich zu begraben.
»Corona-Kritik« als Ausdruck einer radikalen Ego-Freiheit
In Deutschland wurden die Maßnahmen bisher von der großen Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger unterstützt. Mehr als 80 Prozent waren einverstanden mit dem, was geschah oder hätten sogar noch striktere Maßnahmen befürwortet. Nur etwa zehn Prozent der Bevölkerung gingen die Maßnahmen zu weit. Man könnte meinen, dass das in einer Demokratie eine bemerkenswerte Einmütigkeit ist und man eben damit leben muss, dass einige es anders sehen. Aber reicht das als Antwort?
Eine solche Antwort ist insofern nicht abwegig, als sie tatsächlich für etwas Erwartbares steht, etwa für das Agieren der rechtspopulistischen AfD, die bundesweit auf rund zehn Prozent der Wählerstimmen kommt und die während der Corona-Proteste das für sie Normale tat und sich ins Lager der „Corona-Kritiker“ einreihte. Dafür musste sie allerdings ihrem autoritären Reflex, der für sie stets der naheliegendste ist, zumindest dem Schein nach Zügel anlegen. Denn anfangs hatte sie noch striktere Corona-Maßnahmen gefordert, wendete ihre Position dann aber rasch um 180 Grad, um sich als Speerspitze eines vermeintlichen Freiheitskampfes wider die Corona-Einschränkungen und die dafür verantwortlichen „Freiheitsfeinde“ in den etablierten demokratischen Parteien profilieren zu können.
Viele Rechtsextreme, die auch in der AfD reichlich vertreten sind, folgten der Linie und gerierten sich als Kämpfer für die liberalen Freiheitsrechte. Allerdings verstanden sie darunter nicht zuletzt die Ablehnung des Tragens von Alltagsmasken und offenbarten damit ein tief verwahrlostes Freiheitsverständnis. Denn der so verstandene „Freiheitskampf“ gründet in einer rein selbstbezüglichen Idee von Freiheit, einer Ego-Freiheit ohne Rücksicht auf soziale Verluste. Die Klassiker des Freiheitsdenkens hätten ein solches Verständnis als Willkürfreiheit bestimmt – also als das genaue Gegenteil von dem, was Hegel als konkrete Freiheit in einer entfalteten Sittlichkeit anvisiert oder Kant mit seinem Anspruch auf normative Universalisierbarkeit von Handlungsmaximen: Die Freiheit, andere nach Gutdünken gefährden zu dürfen, taugt nicht zum allgemeinen Gesetz. Sie meint den Regress in das Recht des Stärkeren.
Regressiv agierten auch die selbsternannten Reichsbürger unter den Corona-Kritikern, die die Existenz der Bundesrepublik nicht anerkennen und stattdessen den Mythos eines fortbestehenden, von den Errungenschaften der liberalen Demokratie unberührten Deutschen Reichs pflegen, in das sie sich zurücksehnen. Beinahe wäre es ihnen gelungen, während der Anti-Corona-Demonstration am 29. August 2020 symbolträchtig das Reichstagsgebäude als Sitz des Deutschen Bundestags, der demokratisch gewählten Legislative, in Berlin zu stürmen.
Gegen die These von der Erwartbarkeit dieser regressiv-radikalegoistischen Art „Corona-Kritik“ spricht allerdings eine Erfahrung, die viele Menschen in Deutschland machen mussten, die sich einem sozial-liberalen und weltoffen-ökologischen Lager zurechnen. Sie mussten erleben, wie Menschen auch aus ihrem weiteren Bekanntenkreis geistig sozusagen auscheckten und sich in das Umfeld der Corona-Kritiker verabschiedeten, um dort mehr oder weniger offen wissenschaftsfeindliche und verschwörungsmythische Positionen zu vertreten. In sozialen Medien oder im persönlichen Gespräch verbreiteten sie Erzählungen über fantastische Konspirationen, die von YouTubern, Impfgegnern, einem obskuren veganen Koch, einem Popmusiker oder einem ehemaligen Radiosprecher lanciert worden sind. Und bei den Demonstrationen bildeten sie zusammen mit Populisten und Neonazis eine bunt-blau-braune Mischung – ein politisches Farbenspiel, das man so noch nicht gesehen hatte.
Dieser Vorgang veranlasste wiederum rechtskonservative Medien dazu, hier das Aufgehen einer Saat des Irrationalismus zu diagnostizieren, der von naiven Gutmenschen, Multikulturalisten oder Ökologinnen gesät worden sein soll. Unabhängig davon, dass die Medien, die so argumentierten, zuvor selbst nicht immer als die verlässlichsten Freunde der Aufklärung in Erscheinung getreten waren – was ist von einer solchen These zu halten? Ist der hier geäußerte Irrationalismusvorwurf mehr als nur ein Ladenhüter des alten, antiliberalen und antiökologischen Denkens aus den 1980er und 90er Jahren? Oder steckt ein Funken Wahrheit in ihm? Kommt in der „Corona-Kritik“ tatsächlich die Kehrseite eines originär progressiven und emanzipatorischen Gedankenguts ans Tageslicht – ein schlummernder reaktionärer Unterboden, ein in der Mitte der Gesellschaft aufflammender Irrationalismus?
Ökologie und die Dialektik der Aufklärung
Prinzipiell sind die allermeisten Anhänger der politischen Mitte in Deutschland – auch die der linken Mitte – dem modernen Wissenschaftsverständnis verbunden. Im Unterschied zum mittelalterlich-scholastischen Verständnis erkennt dieses gerade keine unhinterfragbaren Sätze an. Die Geltungsansprüche der modernen Wissenschaft sind keine fest ausgeprägten Münzen, die man sich vorgängig und blind in die Tasche stecken kann. Erst in Verfahren von Kritik und Gegenkritik werden sie verifiziert oder falsifiziert.
Jeder Geltungsanspruch, wenn er denn wissenschaftlich sein will, muss sich der Nachprüfung durch die Wissenschaft stellen. Wobei auch nachträgliche Korrekturen stets möglich sind. Und auch Paradigmenwechsel, die weitgehende Spezifikationen und Einschränkungen der Geltungsbereiche von zunächst als gültig angesehenen wissenschaftlichen Aussagen beinhalten, sind möglich.
Die Grünen und die Ökologiebewegung verfügen sogar über eine besondere Sensibilität für solche Paradigmenwechsel, weil das ökologische Paradigma, das sie vertreten, selbst zunächst nur für eine Minderheitenmeinung stand – für eine im Verhältnis zum Mainstream der Zeit alternative Sicht auf die moderne Wissenschaft und Technik und auf die Stellung des Menschen in der Natur. Das Wissen darum, dass Wissenschaft sich irren und Technik viel Unheil anrichten kann, haben die allermeisten ökologisch Sensibilisierten mit der Muttermilch eingesogen – und damit die Skepsis gegenüber einer technokratisch-wissenschaftsgläubigen Politik, die glaubt, dass sie sich einfach darin erschöpfen kann, die Hervorbringungen von Wissenschaft und Technik in die Gesellschaft zu implementieren.
Die ökologische Perspektive impliziert somit eine vertiefte Einsicht in die Dialektik der Aufklärung, also in die vielfältigen und keinesfalls nur positiven und vernünftigen Folgen jenes Prozesses der Rationalisierung und Entzauberung der Welt, wie Max Weber ihn beschrieben hat. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno haben in ihrem einflussreichen Text gleichen Titels deutlich gesehen, dass die Herrschaft einer instrumentell verkürzten Rationalität neue Irrationalismen und ungeahnte Vernichtungspotentiale in sich birgt –und auch neue Formen von Manipulation, Mystifikation, Unterdrückung und technokratischer Herrschaft und sogar die Möglichkeit des Faschismus.
Doch erst mit der ökologischen Einsicht kommt diese Dialektik der Aufklärung auf den Punkt. Denn die ungezügelte instrumentelle Rationalität schafft nicht „bloß“ Waffenpotentiale, die die Welt vernichten können. Und sie verschmutzt die Umwelt auch nicht bloß nebenbei. Nein, die ökologischen Krisen der Gegenwart, die Klimakrise und das Artensterben zeigen, wie instrumentelle Vernunft in der Form eines naturzerstörerischen Industrialismus die ökologischen Lebensgrundlagen der Menschen aus einer eigenen, naturvergessenen Logik heraus untergräbt. Hier erst liegt die eigentliche Pointe der Dialektik der Aufklärung. Und hier hat die wirkliche Entwicklung selbst die Befürchtungen ihrer Autoren noch einmal weit überholt.
Das oberste Ziel: Die Sicherung der Lebensgrundlagen
Gleichzeitig muss mit dieser Entwicklung aber auch das überholt werden, was Horkheimer und Adorno in praktisch-kritischer Hinsicht vor Augen stand – oder vielmehr: nicht vor Augen stand, ja auch in der heutigen Dramatik nicht vor Augen stehen konnte. Die Vernichtungspotentiale, die in Klimawandel und Artensterben sichtbar werden, sind heute so massiv, dass eine ökologische Kritik der instrumentellen Vernunft sich auch nicht auf residuale Felder der ästhetischen Erfahrung oder das Absenden von intellektueller Flaschenpost an nachfolgende Generationen beschränken kann, wie Adorno und Horkheimer das noch meinten. Vielmehr geht es erst einmal um die Sicherung der Lebensgrundlagen nicht nur der nachfolgenden, sondern der heute bereits lebenden jüngeren Generationen.
Der Handlungsdruck ist zu groß, um sich nur mit der bloßen Sensibilität für eine Falschheit des Ganzen der instrumentell durchrationalisierten Moderne oder ihrer kulturindustriellen Verblendungen zufriedenzugeben. Ein gemeinsames Handeln auf globaler Stufenleiter tut not. Das genau ist die Politik, die ökologische Kritik heute ins Werk setzen will. Es gilt, aus der Einsicht in die Dialektik der Aufklärung eine praktische wirksame Kritik des menschlichen Naturverhältnisses zu formulieren, die die blinden Voraussetzungen des alten Industrialismus tiefgreifend und wirksam hinterfragt. Eine solche Kritik muss klarmachen: Natur ist keine tote Materie, die bedingungslos einer industriellen Vernutzung überantwortet werden darf. In einem vertieften Durchgang durch die Dialektik der modernen Aufklärungsgeschichte wird Ökologie selbst zu einer Erweiterung und praktisch-kritischen Neujustierung von Aufklärung.
Die Umweltbewegung auf dem Weg zur Wiederverzauberung der Welt?
Und weil die Umweltbewegung selbst Akteur einer solchen erweiterten Aufklärung ist, darum weiß sie auch, dass die Irrationalität unserer Tage nicht ihrer folgenreflexiven Kritik des alten Industrialismus entspringt – wie man es ihr im Fall der „Corona-Kritik“ erneut nachsagt –, sondern dass diese Irrationalität ihren Ort dort hat, wo ein menschengemachter Klimawandel noch immer geleugnet wird und wo der ungebremste Einsatz von Pestiziden, die fortschreitende Versiegelung und Homogenisierung von Landschaften und wahnwitzige Programme der Abholzung und Brandrodung das größte Artensterben seit dem Ende der Dinosaurier verursachen.
Das Verständnis von Wissenschaft und Technik in der politischen Ökologie ist nicht irrational, sondern im Vernunftsinne alternativ zum alten, ökologievergessenen Industrialismus. Es steht für eine vernünftige Mensch-Natur-Beziehung. Es ist zum alten Industrialismus aber auch insofern alternativ, als es den Pfad des einsinnigen Technikdeterminismus verlassen hat, dem zufolge die Entwicklung von Wissenschaft und Technik stets auf einem linearen und mehr oder weniger alternativlosen Pfad verlaufen würde – einem Pfad, dem dann alle zu folgen hätten. Ein im ökologischen Sinne alternatives Denken führt stattdessen zur Entwicklung alternativer Technologien, etwa zu jener anderen, auf erneuerbaren Energien beruhenden energetischen Basis, die heute einen weltweiten Siegeszug erlebt. Es setzt das Projekt einer umfassenden Transformation der Volkswirtschaft auf Basis von ökologisch verantwortbaren Technologien auf die Tagesordnung.
Ökologisches Denken reflektiert Wissenschaft und Technik kritisch. Es tut dies in der Perspektive einer ökologischen Aufklärung und nicht der einer prinzipiellen Wissenschafts- und Technikfeindlichkeit – oder gar einer Umdeutung der Naturkatastrophe Corona in eine menschengemachte Verschwörung. Hier liegt die tiefe Differenz zu jenem Irrationalismus, wie er in der „Corona-Kritik“ sichtbar wird.
Wenn dagegen ökologische Kritik feststellt, dass die Naturzusammenhänge, die die Lebensgrundlage der Menschen bilden, unendlich viel komplexer sind als vom Naturbild des Industrialismus vorausgesetzt, dann versinkt sie weder in Melancholie ob der Aporien der Moderne noch begibt sie sich auf den Weg einer Wiederverzauberung der Welt. Sie braucht keine neuen Elfen und Naturgeister für ihre praktischen Anliegen.
Die Corona-Verschwörung – säkulare Form magisch-mythischen Denkens
Gleichzeitig muss die ökologische Kritik feststellen, dass gegenwärtig ein weiterer und noch verschärfter Rationalitätsverlust auf Seiten der alten, von ihrer Eigenlogik längst desavouierten instrumentellen Vernunft festzustellen ist. Dieser Rationalitätsverlust besteht nicht mehr in der bloß passiven Blindheit für die Folgen ihres Tuns. Er geht über zum aktiven Verdrängen und zu massiver antiökologischer Ideologiebildung. Denn dass die Dialektik der instrumentellen Vernunft gegen die Existenzgrundlagen der Menschheit im Ganzen zurückschlägt, ist angesichts der zunehmenden ökologischen Katastrophen heute derart offensichtlich, dass die Trumps und Bolsonaros dieser Welt die alte Praxis nur noch um den Preis offensichtlicher Unwahrheiten und im Sinne eines regelrechten Zombieindustrialismus aufrechterhalten können.
Dabei handelt es sich um einen Industrialismus, der sich nicht nur über ein paar mehr oder weniger periphere Kollateralschäden seines Tuns hinwegzusetzen braucht, sondern der sich den vor aller Augen liegenden und von der Wissenschaft weithin aufgezeigten und verifizierten Fakten und Evidenzen entziehen muss, um in seinem naturzerstörerischen Tun fortfahren zu können. Er befindet sich längst auf dem Standpunkt jenes erratischen und weithin argumentationsfreien Leugnens, mit dem Trump etwa den von der Wissenschaft aufgewiesenen Zusammenhängen zwischen Klimawandel und den verheerenden Waldbränden in Kalifornien zurückweist: „I don‘t think science knows.“
Dieser neue Zombieindustrialismus steht im Bunde mit weiteren wissenschaftsfeindlichen Tendenzen, zum Beispiel mit religiösen Rechten und Evangelikalen, die die moderne Wissenschaft und Aufklärung durch den Rekurs auf mittelalterliche Denkformen zurückweisen. Sie wollen die wissenschaftlichen Einsichten der Moderne durch eine Wiederauflage des Kreationismus und eine biblische Apokalyptik rückabwickeln. Dem Krisenszenario der Jetztzeit sollen demnach keine menschengemachten Fakten wie der Klimawandel zugrundeliegen, sondern ein in Gottes Ratschluss längst beschlossenes und in Kürze zu erwartendes Armageddon. Die religiösen Fundamentalismen zielen auf eine magisch-religiöse Wiederverzauberung der Welt.
Aber wir sehen auch säkulare Formen des magisch-mythischen Denkens – gerade auch in den blame games einer vermeintlichen Corona-Verschwörung. Verschwörungsmythen unterschiedlichster Prägung und Provenienz machen heute die Runde. So sollen Regierungen etwa mit Chemtrails ihre Bevölkerungen sedieren und vergiften. Und bei Corona soll es sich um einen Trick von Bill Gates handeln, um der Weltbevölkerung Mikrochips einimpfen zu können. Durch paranoide Denkformate werden hier nicht nur Feinde ausgedeutet, sondern ganze Erzählungen ausgesponnen, die dann einem als bedrohlich empfundenen Weltgeschehen einen zusammenhängenden, narrativen Sinn unterlegen sollen. Bei QAnon nimmt der Prozess sogar die Form einer höchst perfiden digitalen Schnitzeljagd an. Die Anhängerschaft des Q, eines angeblich hohen Offiziellen aus dem Umfeld des US-Präsidenten, erhält in kryptischen Internetposts Botschaften über den Superhelden Trump und seinen Kampf mit dem Deep State sowie einer Clique von Kinderschändern und US-Demokraten. Q animiert seine Follower, die Botschaften mit detektivischer Neugier zu entschlüsseln und fortzuspinnen, um am Drehbuch eines angeblichen mythischen Kampfes zwischen Gut und Böse mitzuschreiben. Ein Drittel der Trump-Anhänger soll bereits an die Wahrheit dieser nach dem Schema von Superheldencomics gestrickten Story glauben.
Die Verpixelung der Wahrheit
Der Nährboden einer solchen Schnitzeljagd wird nicht zuletzt mit einer Verpixelung der Wahrheit gelegt, die immer mehr zur Epochenbestimmung gerät. Die Wirklichkeit erscheint darin so, als befände man sich zu nahe an einem grob auflösenden Bildschirm und solle nun aus den vereinzelten Punkten ein zusammenhängendes Bild entwerfen. Im Unterschied zur Wissenschaft oder auch zum kriminalistischen Spürsinn, der ja ebenfalls aus einzelnen Anhaltspunkten auf Zusammenhänge schließt, geht die Suche nach Evidenzen hier gerade nicht in alle Richtungen und auf die Verifikation respektive Falsifikation von Annahmen gleichermaßen, sondern nur auf die Bestätigung eines vorbestehenden sowie in aller Regel grundlosen und unbelegten Verdachts.
Da die Zusammenhänge zwischen den einzelnen Markierungen und Hinweisen fehlen, erfolgt die „Beweisführung“ der Q-Detektive nach dem Schema magischer Analogien, wie sie aus archaischen Praktiken bekannt ist: Ähnliches soll Ähnliches bewirken und motivieren. Und Gegensätzliches – also die vorbestehenden Pole von Gut und Böse in der Welt – soll einander bekämpfen. Der Spürsinn der Verschwörungsmystagogen wird nicht von rational-kritischen, sondern von magisch-intuitiven Denkformaten instruiert. Entlastungszeugen wider die magische Intuition kommen nur dem Schein nach zu Wort. Sie dienen allenfalls als Feigenblätter zur Kaschierung der leitenden Vorurteilsstruktur. Und auch die unter Verdacht Stehenden können, was auch immer sie tun, sich nur noch mehr reinreiten. So erscheinen etwa Hillary Clinton oder die Künstlerin Marina Abramovic´ in einer solchen Nachforschung wie Hexen in einem Schauprozess – geschlagen mit einer substantiellen Bosheit, die sich mit jedem Wort und jeder Geste nur noch weiter offenbart. Dort, wo „Beweise“ dann allerdings einem Faktencheck unterzogen werden können – wie zum Beispiel bei der vermeintlichen Wunderdroge Adenochrom, die Trumps Gegner den von ihnen verschleppten Kindern abzapfen sollen – brechen sie wie ein Kartenhaus in sich zusammen.
Die Pandemie des Geistes durch permanente Bullshit-Produktion
Doch es gibt nicht nur die magisch-intuitive Weltkonstruktion aus einer verpixelten Bildoberfläche, sondern auch eine tieferliegende Verwahrlosung der Vernunft, die ihr vorausgeht. Sie entsteht nicht zuletzt durch eine Aufspaltung und Zertrümmerung des gemeinsamen öffentlichen Diskurses. Und sie vollzieht sich als eine Art Pandemie des Geistes – als Infodemie, die zum Beispiel durch eine Überschwemmung der Öffentlichkeit mit Bullshit erzeugt wird.
Bullshit erfordert – wie der Philosoph Harry G. Frankfurt gezeigt hat – weniger Geschick als die Lüge, da er sich nicht unbemerkt und dauerhaft in einen gemeinsam geteilten Wahrheitshorizont einschmuggeln will.[1] Der Bullshitter biegt sich die Fakten und Zusammenhänge ziemlich krude und nach tagesaktuellen Interessen zurecht, um das Gesagte und Behauptete dann auch schnell wieder zu vergessen. Es geht um das opportunistische bullshit your way through des windigen Tricksers. In eine ähnliche Richtung wirkt auch die von Trump in den vergangenen Jahren bis zum Exzess betriebene Vertwitterung der Wahrheit durch zahllose Tweets, die dann wie bunte Ballons den Himmel der öffentlichen Augenblicksaufmerksamkeit bevölkern, um ohne alle Zeit für Faktencheck sowie tiefere Nachforschung und Debatte schnell im Nirgendwo zu entschwinden.
Der übermächtige Verblendungszusammenhang, den Horkheimer und Adorno bereits in einer von Hollywoodkino und Radioshows bestimmten US-Unterhaltungsindustrie der 1940er Jahre oder gar in der Jazzmusik ihrer Zeit ausmachen wollten, mutet dagegen noch recht harmlos an. Tatsächlich kommt auch ein solcher Verblendungszusammenhang erst heute, in der verpixelten und vertwitterten Öffentlichkeit unserer Tage, auf den Begriff – mit einer Medienwirklichkeit, in der sich alles in einzelne Bildpunkte auflöst, die dann im Gegenzug einem magisch-intuitiven Konstruktivismus überantwortet werden, der ihn auf seine Weise wieder zusammensetzt. Auch hier haben Horkheimer und Adorno – ähnlich wie schon bei der ökologischen Frage – nur erst die Anfangsgründe einer Entwicklung beschrieben, die dann die ursprüngliche Diagnose weithin überbieten sollte.
Zu befürchten steht, dass auch wir heute die Endpunkte dieser Entwicklung noch nicht überblicken. Was wir sehen, ist in vielen Ländern des Westens die Zerstörung einer gemeinsamen geteilten Öffentlichkeit, die mit ihren Debatten eigentlich ein rationales Element der liberal-demokratischen Selbststeuerung sein müsste. Stattdessen besetzen Clownspolitiker wie Trump und Boris Johnson die Szene – und vor ihnen schon Silvio Berlusconi oder Nicolas Sarkozy –, die nicht nur Rationalität und Wahrheitsstandards zertrümmern, sondern gleich auch noch Teile des politischen Systems und der vierten Gewalt, der unabhängigen Medien.
Das Potential für einen neuen Totalitarismus
Es war Hannah Arendt, die darauf hingewiesen hat, dass die wahren Feinde der Demokratie nicht einfach jene sind, die Lügen erzählen, sondern die, die gleichzeitig die Faktenbasis und die gemeinsam anerkannte Realität zerstören – also die Realität, in der wir über Probleme in einer gemeinsamen Sprache reden können. Roger Berkowitz vom New Yorker Hannah-Arendt-Center ist zuzustimmen, wenn er die langfristige Gefahr beschreibt, die von einer Politik wie der von Trump ausgeht: „Die Gefahr, der wir uns gegenübersehen, ist Trumps gänzliche Gleichgültigkeit gegenüber der Realität und der Bedeutung von Worten. Er kann heute etwas sagen und dann morgen etwas ganz anderes und gleichzeitig das bestreiten, was er gestern gesagt hat. Dadurch entsteht das Risiko einer zynischen Einstellung gegenüber dem öffentlichen Diskurs und einer gemeinsamen öffentlichen Welt. Es ist so durchaus möglich, dass nach Trump jemand auftaucht, der viel schlimmer als Trump ist.“
Ein Risiko, vor dem auch Europa in keiner Weise gefeit ist: Tatsächlich liegt das einstige moderate Mitte-Rechts-Lager in Frankreich und Italien nach Sarkozy und Berlusconi darnieder. Rechtsextreme und Faschisten haben das zuvor rechtsbürgerliche Feld besetzt. Und die Konservativen in Großbritannien und den Vereinigten Staaten sind ohnehin seit Johnson und Trump nicht wiederzuerkennen. Die verbliebene liberale Öffentlichkeit macht sich um diese epochale Krise des überkommenen Mitte-Rechts-Spektrums zu wenig Gedanken, obwohl gerade dieses, wie die Geschichte des 20. Jahrhunderts lehrt, ein zentrales Bollwerk wider die antidemokratischen Absichten des Rechtspopulismus und -extremismus sein muss.
Die Verwahrlosung der Vernunft in einer doppelten Gestalt, mit der wir heute konfrontiert sind, nämlich die Schleifung der Standards von kommunikativer Rationalität sowie die Verweigerung und Zurückweisung von ökologischer Vernunft im Naturumgang, birgt das Potential für einen neuen Totalitarismus, der den Bullshit und die vielen Unwahrheiten von Politclowns durch größere Formate von magisch-mythischer Verblendung ersetzt. Nötig ist daher eine neue Aufklärung, die diese Gefahren erkennt und ihnen wirksam entgegentritt – nicht zuletzt auch mit einem Gespür für die demokratiepolitisch entscheidende Grenzlinie zwischen Mitte-Rechts und Rechtsaußen. Also für das, was in einer freien, liberalen Gesellschaft immer noch gesagt werden können muss – aber auch für das, was als antidemokratisch und tendenziell totalitär mit aller Entschiedenheit zu bekämpfen ist.
[1] Vgl. Harry G. Frankfurt, Bullshit, Frankfurt a. M. 2014.