Ausgabe August 2022

Raus aus der Grauzone: Für eine humane Migrationspolitik der EU

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Mit Beginn des Kriegs gegen die Ukraine haben Fluchtbewegungen innerhalb Europas wieder deutlich zugenommen – und mit ihnen rückt auch die Migrationspolitik der Europäischen Union wieder in den Fokus. Doch während die mehr als drei Millionen Geflüchteten aus der Ukraine in der EU zumeist mit offenen Armen empfangen werden, machen Migrantinnen und Migranten[1] an den Südgrenzen der EU nach wie vor gänzlich andere Erfahrungen. Ende Juni häuften sich die Nachrichten über Menschen, die beim Versuch, die Grenze zur EU zu passieren, zu Tode kamen oder schwere Rechtsverletzungen erleiden mussten. Als etwa 2000 Migranten versuchten, die spanische Exklave Melilla in Marokko zu erstürmen, kamen zahlreiche Menschen unter bisher teils ungeklärten Umständen ums Leben; kurz darauf legten Medienrecherchen unter anderem des „Spiegels“ nahe, dass der griechische Staat Migranten für illegale Push-Backs einsetzt, sie also andere Migranten über die türkische Grenze zurückdrängen lässt – als Belohnung soll ihnen dafür eine 30tägige Aufenthaltsgenehmigung in Griechenland angeboten worden sein.[2] Derweil sich derartige menschenrechtliche Katastrophen ereignen, entschied man sich in Deutschland angesichts des Personalmangels an den Flughäfen, für die Urlaubszeit kurzfristig ausländische Arbeitskräfte einzusetzen.

Kurzum: Während für das eigene grenzenlose Reisen schnell und unkompliziert ausländisches Personal angeworben wird, gelingt es Europa und der westlichen Welt weiterhin nicht, einen konstruktiven Umgang mit Schutzsuchenden zu finden. Nach wie vor fehlen Garantien für sichere Asylverfahren, internationales Recht wird nicht umgesetzt, und nicht zuletzt werden auch die besonders von der Migration betroffenen Grenzregionen nicht ausreichend entlastet.

Seien es Lesbos, Libyen, Weißrussland oder Polen, die Befunde sind klar: Erstens fehlt Europa eine konstruktive, kohärente und funktionierende Migrationspolitik. Die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) liegt auf Eis, da einige Staaten verstärkten Grenzschutz und die Rückführung von Migranten priorisieren, andere dagegen deren solidarische Verteilung und verbesserte Aufnahmemechanismen. Zweitens nimmt die EU, wenn sie weiter stillschweigend klare Menschenrechtsverletzungen an ihren Außengrenzen duldet, auch weiterhin humanitäre Krisen in Kauf. Drittens schaffen die Folgen des Ukraine-Kriegs in den Gesellschaften der EU neue Verteilungskämpfe. Diese machen es beispielsweise für die Bundesregierung schwieriger, ihre Agenda zur Migration umzusetzen, die vorsieht, mehr legale Zugänge für Einwanderung zu ermöglichen – auch in den Arbeitsmarkt, wo Migrantinnen und Migranten benötigt werden. Fest steht: Europa kann sich langfristig eine inkohärente Migrationspolitik nicht mehr leisten. Denn angesichts von Kriegen, Klimawandel und Hungerkrisen wird Migration zu einer der zentralen politischen Herausforderungen für die Gesellschaften der EU werden.

Im Graubereich des Rechts

An den Außengrenzen Europas werden seit Jahren bewusst Situationen geschaffen, die sich der öffentlichen Wahrnehmung und häufig auch der juristischen Aufarbeitung entziehen. Medien und Nichtregierungsorganisationen werden daran gehindert, in die eingerichteten Sonderzonen zu reisen. Tatsächlich sind Ländergrenzen für die Migrationspolitik nicht länger die klar definierten Linien, die man aus Atlanten kennt. Ob ein Migrant beispielsweise in den spanischen Exklaven europäischen Boden erreicht oder nicht, hängt nicht in erster Linie von den Grenzzäunen ab, sondern wesentlich vom Einsatzgeschehen vor Ort – und von den veränderlichen Vorgaben für den Einsatz der Grenzpolizei. Im Mittelmeer variieren Zuständigkeiten, Hoheits- und Einsatzgebiete je nach Küste. Polen wiederum konnte zum Schutz vor unliebsamen Bildern eine Zone an seiner Grenze schaffen, die selbst Parlamentariern aus dem europäischen Ausland verschlossen blieb, ganz zu schweigen von humanitären Helfern, Medien oder Menschenrechtsorganisationen.[3] Und in der Bundesrepublik erfand die schwarz-rote Koalition 2018 für die große Zahl von Asylbewerbern die juristische „Fiktion der Nichteinreise“. Schutzsuchende in Durchgangszentren auf deutschem Boden haben in dieser Fiktion das Land formaljuristisch nicht betreten und verfügen deshalb auch nicht über die bei Einreise zu gewährenden Rechte. Manche Grenzregionen in Europa sind mittlerweile Graubereiche der Justiz und der Einhaltung der Menschenrechte – und damit letztlich Ausdruck einer Abschreckungspolitik, die ein staatliches Handeln in nahezu rechtsfreien Räumen ermöglicht.

Politisch werden die Schutzsuchenden dabei allein gelassen und immer wieder ihrer Rechte beraubt. Da es keinen funktionierenden Mechanismus zu transparenten Asylprüfungsverfahren für Schutzsuchende gibt und von der Politik einseitig auf Sicherheitskräfte und restriktive Maßnahmen gesetzt wird, entscheiden sich Migranten immer öfter für die Angebote von Schmugglern und wählen immer gefährlichere Routen. Die verschärften Sicherheitsmaßnahmen führen somit zu immer größeren Risiken für alle Beteiligten und zu höheren Preisen der Schleuser. Die Folge: Die Grenzen Europas sind mittlerweile die weltweit tödlichsten für Migranten.[4] Auch für die Bewohnerinnen und Bewohner der Grenzregionen werden die rechtlichen Graubereiche zu einer wachsenden Belastung, denn sie sind unmittelbar von der Einrichtung von Durchgangslagern oder informellen Camps, von Aktionen der Sicherheitskräfte und vom Grenzverkehr betroffen.

Insgesamt ist die Migrationspolitik der EU-Staaten davon gekennzeichnet, die Migration zu externalisieren, also beispielsweise Migranten und Rechtsverfahren in Drittstaaten auszulagern, und Verfahrensweisen zu verletzen, die dem Menschenrechtsschutz dienen. Die politischen Reflexe seit dem Sommer der Migration im Jahr 2015 manifestieren sich in einer weiter ausgebauten Sicherheitsstruktur. So agiert etwa die europäische Grenzschutzbehörde Frontex heute an deutlich mehr Orten als zuvor. Zudem reagiert Brüssel kaum mehr bei illegalen Push-Backs, wenn etwa Griechenland eigenmächtig den Asylschutz aussetzt, Häfen die Einfahrt für Schiffe mit Geretteten verweigern oder Nichtregierungsorganisationen für ihre Arbeit kriminalisiert werden.

Es ist mittlerweile zur zynischen Routine geworden, Todesopfer an den europäischen Außengrenzen zu verkünden. Doch kann mitnichten einfach hingenommen werden, dass Menschen beim Versuch, nach Europa zu migrieren, sterben. Genau das aber ist zumindest teilweise eine politisch gewollte Realität.

Die gespaltene EU

Ende Mai fand in New York die größte UN-Konferenz zu Migration seit vier Jahren statt. Ohne jede Medienaufmerksamkeit verhandelten die Delegierten über ein rechtlich nicht bindendes Dokument zum Schutz von Migranten und für mehr Engagement bei ihrer Integration, das schließlich angenommen wurde. Die EU fand dabei allerdings keine gemeinsame Position. Mindestens drei Haltungen zeichneten sich ab: jene EU-Staaten, die Migration und den Prozess der Konferenz rundweg ablehnen; jene, die eine Weiterentwicklung von Schutzmechanismen für Migranten und mehr legale Zugänge fordern – zu diesen gehörte auch Deutschland –; und jene, die sich nicht positionieren wollen oder eine Zwischenposition einnehmen. Die Vertreter Ungarns betonten etwa, dass sich das Land in keine der drei internationalen Kategorien – Herkunfts-, Transit- und Zielländer – einordnen lassen würde, und stellten es damit quasi außerhalb des Migrationsgeschehens. Doch selbst linke Regierungen in der EU setzen verstärkt auf den Sicherheitsdiskurs, wie auch an der Reaktion Spaniens auf die 37 zu Tode gekommenen Migranten in Melilla deutlich wurde. Regierungschef Pedro Sánchez lobte die Grenzschutzbeamten für ihren Einsatz, ohne die Todesopfer zu bedauern. Modelle wie das von Großbritannien angestrebte, Asylprüfungen nach Ruanda auszulagern, werden mittlerweile auch von manchen EU-Mitgliedstaaten interessiert verfolgt. All das zeigt: Der internationale Flüchtlingsschutz bröckelt.

Die Mittelmeeranrainer, die lange Zeit die Hauptlast der Ankommenden getragen haben, sind durch ihre Lage an den Außengrenzen der EU in besonderer Weise gefordert. Ihre politischen Antworten sind daher oft besonders restriktiv. Zugleich sind es aber gerade Länder wie Italien und Griechenland, die absehbar eine überalterte Bevölkerung haben werden. Mittelfristig werden sie also Zuwanderung brauchen, um ihr Wirtschaftswachstum und ihre Gesundheitssysteme zu sichern. Alternde und schrumpfende Bevölkerungen davon zu überzeugen, dass Migration wertvoll und notwendig ist, dürfte eine neue Herausforderung für die europäische Migrationspolitik werden. Und nicht zuletzt die Personalnotlage an deutschen Flughäfen in diesem Sommer zeigt, dass auch in Mitteleuropa der Bedarf an Arbeitskräften steigt. Die Konkurrenz um eine bestimmte Zuwanderung in die Arbeitsmärkte wird zunehmen. Damit werden in der Migrationspolitik auch faire Anwerbungsverfahren aus Drittstaaten wichtiger werden, ebenso wie – insbesondere bei Migranten aus Ländern des Globalen Südens – Kompensationen für geleistete Ausbildungsaufwendungen an die sogenannten Entwicklungsländer.

Die Folgen des Ukraine-Kriegs

Allerdings erzeugen die wirtschaftlichen Folgen des Ukraine-Kriegs auch in den Aufnahmeländern ökonomische Unsicherheiten. Damit werden die Spielräume für eine Politik der Aufnahme in nächster Zeit vermutlich enger und die Ressourcen knapper. Bisher zeigen sich die Bevölkerungen offen für Flüchtende aus der Ukraine, und die EU wendet über die temporäre Schutzgewährungsrichtlinie eine Rechtsform an, die eine schnelle Integration ermöglichen soll. Sie sieht weder eine langwierige Prüfung des Status vor noch Einschränkungen beim Zugang zum Arbeitsmarkt, zu Bildung oder Sozialleistungen.

Auch außerhalb Europas sind die Kriegsfolgen zu spüren. Eine Migrationsbewegung von Hungernden Richtung Europa, wie sie mancher heraufbeschwört, ist jedoch eher unwahrscheinlich.

Denn die am stärksten betroffenen Ärmsten sind zugleich jene, die am wenigsten mobil sind. Sie migrieren daher seltener – und wenn, dann meist nur über kürzere Strecken und innerhalb ihrer Herkunftsregionen. Mittelfristig sind jedoch Szenarien wie vor dem „Arabischen Frühling“ möglich, wenn in Ländern mit fragilen politischen Systemen und jungen Bevölkerungen die Lebensmittelpreise steigen und die wirtschaftlichen Perspektiven noch weiter schwinden. Migration wird dann wahrscheinlicher, weniger aufgrund von Hungersnöten, sondern vielmehr aufgrund von politischer Instabilität.

Die Migrationspolitik der Zukunft

Wie kann angesichts dieser Herausforderungen sichergestellt werden, dass die Menschenrechte von Migranten und Asylsuchenden geschützt werden? Weltweit stehen diese seit Jahren unter enormem Druck. Europa ist da keine Ausnahme. Doch angesichts des eigenen Anspruchs, Menschenrechte zu achten, muss gerade die EU gewährleisten, dass der Zugang zu Asylverfahren und fairen Prüfungsverfahren allen Schutzsuchenden offensteht. Zugleich müssen die Staaten an den Außengrenzen entlastet werden. Dies wird jedoch nur gelingen, wenn die EU bereit ist, auch im Bereich Migration Vertragsverletzungsverfahren entschlossen zu verfolgen. Frontex muss nach den Skandalen der jüngeren Vergangenheit[5] dringend einem Menschenrechts-Monitoring unterzogen werden, das eine parlamentarische Kontrolle der Grenzschutzagentur ermöglicht. Die Kooperation mit Herkunfts- und Transitstaaten muss ausgebaut werden. Vor Ort sollten die Möglichkeiten für reguläre Wege der Einwanderung transparent vorgestellt werden – Deutschland hat dafür bereits in einigen Staaten Zentren aufgebaut.[6] Die Einbindung der Herkunfts- und Transitländer in Migrationspartnerschaften muss dabei politisch viel umfassender als bisher gestaltet werden. Die jüngsten Erfahrungen mit der Integration ukrainischer Staatsbürger sollten begleitet und evaluiert werden, um daraus Best Practices für andere Gruppen abzuleiten.

In ihrem Koalitionsvertrag hat die Bundesregierung insbesondere in Bezug auf Integration einige ambitionierte Projekte formuliert, etwa den Übergang von Duldungstiteln in reguläre Aufenthaltstitel bei guten Integrationsleistungen oder die Ausweitung von Familienzusammenführungen auf Geschwisterkinder. Mit Blick auf Seenotrettung, Außengrenzen und Kooperation mit Drittstaaten bleibt der Vertrag jedoch vage. Und es gibt auch Verschärfungen wie die Ausweitung der Abschiebungshaft.[7] Bei der UN-Konferenz hat Deutschland für einen Aufbruch zu einer offeneren Migrationspolitik geworben. Richtig so! Auch wenn die Zeiten schwierig sind, sollte Deutschland auch innerhalb der EU eine Vorreiterrolle für eine offene und humane Migrationspolitik einnehmen.

[1] Ich verwende Migranten als Sammelbegriff für alle Schutzsuchenden, unabhängig von ihrem Status. Es fallen also auch Flüchtende und Asylsuchende darunter.

[2] Giorgos Christides, Klaas van Dijken, Bashar Deeb u.a., Griechische Polizei setzt Flüchtlinge gegen Flüchtlinge ein, www.spiegel.de, 28.6.2022.

[3] Vgl. Maximilian Pichl, Europas Abschied vom Asylrecht: Das Drama an Polens Grenze, in: „Blätter“, 1/2022, S. 17-20.

[4] Vgl. International Organization for Migration, Missing Migrants Project, www.missingmigrants.iom.int/data.

[5] Steffen Lüdke, Ein Rücktritt reicht nicht. Frontex-Skandal, www.spiegel.de, 29.4.2022.

[6] Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, Angebote für sichere, geordnete und reguläre Migration machen, www.bmz.de, 2022.

[7] Dinah Riese, Von Paradigmenwechsel weit entfernt. Migrationspaket der Ampel, www.taz.de, 7.7.2022.

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