Ausgabe Juli 1999

Die stumme Melancholie der Grünen

Unter den verschiedenen Formen der Depression gilt die stumme Melancholie als die am meisten gefürchtete. Den Patienten scheint ihre Lebensenergie verloren gegangen zu sein. Sie finden keine Sprache für ihr Leid. Statt dessen versuchen sie es zu verstecken, indem sie in den alten Bahnen weiterlaufen. Dabei wirken sie merkwürdig leer und angestrengt. Man spürt, daß ihnen längst die Puste ausgegangen ist. Ganz ähnlich scheint es um die Grünen zu stehen. Ihr innerer Antrieb ist offenbar erloschen. Bei der Europawahl ging fast die Hälfte der Wähler verloren. Trotzdem gaben sich alle erleichtert. Hauptsache es geht weiter. Blicken wir zurück: Die Grünen waren stark und glaubwürdig, als es darum ging, gegen die Schmidtsche und Kohlsche Restauration eine radikale Erweiterung des Politikhorizontes durchzusetzen. Die im alternativen Szenemilieu leidlich gelungene "Umwälzung der Werte" sollte auch im großen versucht werden.

Dabei handelte es sich nicht so sehr um bestimmte Reform- oder Revolutionsprojekte. Die waren - das hatten die meisten zu Beginn der 80er längst begriffen und praktisch gelebt - durchaus austauschbar. Es ging um die Reichweite des Politischen überhaupt.

Juli 1999

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