Europäische Union zwischen Evolution und revolutionärer Umgründung
Der Verfassungsentwurf der Europäischen Union ist Ende letzten Jahres auf der Regierungskonferenz in Brüssel gescheitert. Ob er eine zweite Chance haben wird, ist keineswegs gewiss. Steht die Union kurz vor der Erweiterung jetzt ohne Verfassung da? Juristisch blockiert, politisch durch nationale Sonderinteressen der Polen und Spanier entmachtet, handlungsunfähig, identitätslos, ungeliebt, auf ewig unverfasst? Ohne Außenminister, ohne Präsident, ohne symbolisches Kleid. Aus der Traum der europäischen Bürgergesellschaft – und nächstens wieder Krieg?
Zu Horrorszenarien dieser Art, zuhauf entworfen nach dem Scheitern des Verfassungsgipfels, besteht kein Anlass. Die Bürger Europas haben das Scheitern ihrer Verfassung kaum registriert. Schon der Wunsch nach einer europäischen Verfassung war eine Kopfgeburt; jedenfalls kam sie nicht aus der Mitte der Bürgerschaft. Für ein Verfassungsfieber, wie einst im 18. und 19. Jahrhundert, gab und gibt es keine Anzeichen: keine Spur eines constitutional moment (Charles Ackermann), der die Massen ergriffen hätte. Der letzte Termin, der in die europäische Revolutionsgeschichte gepasst hätte, wurde 1989 versäumt. Doch die Verfassungsbegeisterung jener Tage ist längst verflogen; und die Verfassung der Union ist keine Einlösung des impliziten Verfassungversprechens von damals.