In den letzten 30 Jahren galt Chile bei Anhängern der neoklassischen Ökonomie als Vorzeigemodell und „Wirtschaftswunderland“ Lateinamerikas. Doch seit mehr als sechs Monaten wird das Land von Protesten erschüttert, wie es sie seit den 80er Jahren zu Zeiten des Massenwiderstands gegen die Pinochetdiktatur nicht mehr erlebt hat. Hunderttausende Studentinnen und Studenten, Oberschülerinnen und Oberschüler und mit ihnen Eltern wie Lehrende halten das Land mit Massenaktionen in Atem. Sie setzen damit die Regierung des rechtskonservativen Präsidenten Sebastián Piñera zunehmend unter Druck.
Die Demonstrationen richten sich in erster Linie gegen ein hochgradig ungerechtes Bildungssystem. Der chilenische Staat beteiligt sich mit nur knapp einem Viertel an der Finanzierung des Bildungswesens, den Rest der Kosten müssen Eltern und Studierende tragen. Nur noch 16 der insgesamt 61 Universitäten des Landes gehören dem Staat; alle erheben Studiengebühren in Höhe von 250 bis 600 Euro monatlich. Bei einem Durchschnittseinkommen von weniger als 800 Euro im Monat sind diese für viele Chilenen kaum aus eigenen Mitteln bezahlbar. Aus diesem Grund nehmen 70 Prozent der Studierenden private Kredite auf. Viele der Studenten aus einkommensschwachen Elternhäusern sind sogar gezwungen, ihr Studium abzubrechen.