Bei keinem Staatsbesuch und bei keiner Unterzeichnung eines Vertrages darf die Floskel von der "Wende in den Beziehungen" oder dem "neuen Kapitel im Buch der Geschichte" fehlen. Sie gibt der Zeremonie ein pathetisches Flair, das dem Anlaß oft gar nicht zukommt. Es ist der Herren eigener Geist, der in den Zeiten sich bespiegelt, würde Goethes Faust sagen.
Doch der erste Besuch des sowjetischen Präsidenten Michail Gorbatschow im vereinten Deutschland könnte tatsächlich ein neues Kapitel im Buch der Geschichte aufgeschlagen haben. Zunächst fiel eine große Nüchternheit auf, mit der dieser Staatsbesuch abgewickelt wurde. Keine Kranzniederlegungen und - die unselige jüngste Vergangenheit wurde kaum erwähnt. Das muß betont werden: Es waren die sowjetischen Gäste, die den Nazi-Terror und den Überfall der deutschen Wehrmacht auf sich beruhen ließen.
Dieses fast schon saloppe Nicht-Erwähnen war kein Zudecken mit dem Mantel des Vergessens, sondern eine großzügige Geste, die so etwas ausdrückte wie "lassen wir's gut sein", oder "ziehen wir einen Schlußstrich". Natürlich werden die Sowjets ihren Vaterländischen Krieg und seine Opfer nicht vergessen, so wie die Deutschen gut beraten wären, die Geste Gorbatschows nicht als Ermutigung mißzuverstehen, ihre Geschichte für bewältigt zu halten.