Ausgabe Mai 1990

Erklärung des Direktoriums der Staatsbank der DDR vom 2. April 1990 (Wortlaut)

 Wie die Staatsbank aus Veröffentlichungen der Medien in der BRD entnehmen mußte, hat der Zentralbankrat der Bundesbank im Beisein des Bundesministers der Finanzen sich dafür entschieden, der Bundesregierung für die Einführung der DM in der DDR einen Umtauschsatz von 2:1 zu empfehlen. Der Text dieses Beschlusses zu einem Umtauschsatz, der bisher in offiziellen Verhandlungen nicht diskutiert wurde, liegt bis zur Stunde der Staatsbank der DDR nicht vor. Angesichts der dadurch geschaffenen Lage und der Besorgnis der Bürger der DDR erklärt das Direktorium der Staatsbank, daß in allen bisherigen Experten- und Fachberatungen folgende Position vertreten und begründet wurde:

1. Die Wahrung des Realwertes der Ersparnisse der Bürger der DDR rechtfertigt eine Umstellung im Verhältnis von 1:1. Das entspricht der derzeitigen Kaufkraftparität auf der Grundlage von Berechnungen über den durchschnittlichen Verbrauch eines kompletten Warensortiments. Diese Relation wurde auch gleichermaßen von westlichen wissenschaftlichen Instituten ermittelt. Den ohnehin in der Höhe wesentlich bescheideneren Spareinlagen der Bürger der DDR liegen differenzierte Sparmotive, wie das Sparen als Vorsorge für das Lebensalter, für die Anschaffung langlebiger Konsumgüter, für Ersatzbeschaffung und Reparaturen sowie Urlaubsreisen zugrunde. Zu den Ersparnissen der Bevölkerung als bisher ausschließliche Form einer Anlage von Geldvermögen rechnen wir die Barbestände, Sparguthaben und die Guthaben der Lebensversicherung. Die von der westlichen Seite vorgesehene breite Abwertung der Sparguthaben wäre für den überwiegenden Teil der Bevölkerung mit unzumutbaren sozialen Auswirkungen verbunden. Denkbar ist, daß für größere Sparguthaben zur Vermeidung eines Kaufkraftschubs eine zeitliche stufenweise Freigabe erfolgt.

2. Eine Umstellung von Löhnen, Gehältern und anderen Einkommen ist nur im Verhältnis 1:1 annehmbar. Ein anderes Umstellungsverhältnis ist weder politisch, ökonomisch noch sozial begründet. Bereits jetzt beträgt das Einkommensgefälle zwischen den Beschäftigten in der DDR und der BRD auch unter Berücksichtigung notwendiger personenbezogener Ausgleichszahlungen bei Wegfall von Preissubventionen und anderen sozialen Ausgleichszahlungen mehr als 50%. Das heißt, faktisch existiert bereits eine Relation von mindestens 2:1. Jede weitere Senkung würde die Leistungsmotivation für eine Tätigkeit in der DDR empfindlich beeinträchtigen und das Realeinkommen unbegründet vermindern. Notwendige Einkommenssteigerungen müssen auf dem Wege von Produktivitätswachstum und einer Rentenanpassung erreicht werden.

3. Für die Umstellung von Krediten und Guthaben im Bereich der Wirtschaft sind auf Grund des Produktivitätsabstandes andere Umstellungsbedingungen notwendig. Ein mögliches Umstellungsverhältnis von 2:1 in diesem Bereich muß zur Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen in Verbindung mit der notwendigen Anpassung von Produktionsstrukturen, Kostensenkungen und Qualitätsverbesserungen beitragen. Das Direktorium der Staatsbank der DDR wird die vorliegenden detaillierten Berechnungen und Vorschläge der neu zu bildenden Regierung als Empfehlung für die Fortführung der Verhandlungen und den Abschluß eines völkerrechtlichen Vertrages unterbreiten.

Aktuelle Ausgabe September 2025

In der September-Ausgabe plädiert Lea Ypi für eine Migrationsdebatte im Sinne der Aufklärungsphilosophie. Cinzia Sciuto fordert, der zunehmenden Aushöhlung des Völkerrechts mit einer entschiedenen Verteidigung desselben zu begegnen – und nicht mit Resignation und falschem Realismus. Für Georg Diez markieren die Kriegsverbrechen in Gaza und die fehlenden Reaktionen darauf einen Epochenbruch; sie stünden für nicht weniger als den Verrat des Westens an der Humanität. Herfried Münkler analysiert, wie Kriege historisch endeten und Friedenszeiten begannen und was das mit Blick auf den Ukrainekrieg bedeutet. Simone Schlindwein deckt auf, wie Russland junge Afrikanerinnen mit falschen Versprechen für die Kriegswirtschaft rekrutiert. Warum die grüne Digitalisierung ein Mythos ist und was der KI-Boom den Globalen Süden kostet, erläutern Ingo Dachwitz und Sven Hilbig. Und Eva-Maria Klinkisch sowie Markus Rieger-Ladich zeigen auf, wie Long Covid-Betroffene von der Gesellschaft und dem Gesundheitssystem systematisch ignoriert werden – und was dagegen zu tun ist. 

Zur Ausgabe Probeabo

Weitere Artikel zum Thema

Flucht vor der Verantwortung: Lieferkettengesetze am Ende?

von Merle Groneweg

Der 11. September erinnert nicht nur an den Einsturz des World Trade Centers in New York, sondern auch an eine der schwersten Katastrophen in der Textilindustrie: den Brand in der Fabrik Ali Enterprises in Karatschi, Pakistan.

Ohne EU-Mindestlohn kein soziales Europa

von Roland Erne

Nach Jahren antisozialer Politik infolge der Finanzkrise von 2008 standen soziale Fragen in der vergangenen Legislatur der EU wieder weiter oben auf der Agenda. Zwischen 2022 und 2024 verabschiedeten das EU-Parlament und der Rat seit langem wieder mehrere soziale EU-Gesetze, darunter die Richtlinie über „angemessene Mindestlöhne in der Europäischen Union“.

Drei Millionen ohne Abschluss: Was tun?

von Maike Rademaker

Die Zahl war lediglich einen Tag lang einige Schlagzeilen wert: Rund 2,9 Millionen junge Menschen zwischen 20 und 34 Jahren hierzulande haben keinen Berufsabschluss. Maike Rademaker analysiert Gründe und Lösungsansätze.