Zum Streit zwischen Zentrum und nicht-russischer Peripherie der Sowjetunion
Der "Nervenkrieg um Litauen" ist vorläufiger Höhepunkt in einer Reihe unausgetragener Verfassungskonflikte zwischen der Sowjetunion und ihrer nationalen Peripherie, im Gegeneinander beschwörender Zusammenhaltsappelle aus Moskau und wachsender Unabhängigkeitsbestrebungen einzelner Unionsrepubliken. Dem ging die Entwicklung der seit 1987 virulenten Nationalitätenfrage in die politische Dimension voraus, kulminierend in der Forderung nach Revision sowjetischer Nationalitätenpolitik und einer Perestroika des bislang nur formal existierenden Sowjetföderalismus. Dabei muß eines zum Verständnis der Moskauer Reaktionen in diesem Prozeß klargestellt werden: Im Unterschied zu anderen Aktionsfeldern der Reformpolitik Gorbatschows bildet die Nationalitätenpolitik keinen Teil jener "Revolution von oben", sondern ist Reaktion auf vehemente Aktionen und Herausforderungen "von unten". Gorbatschow gab auf dem ZK-Plenum zur Nationalitätenfrage im September 1989 die Verspätung reformerischen Denkens in diesem für die Sowjetunion existentiell wichtigen Bereich zu.
Von allen inneren Lebenslügen der Sowjetunion war die Fiktion von der "grundsätzlich gelösten nationalen Frage" und der "supra-nationalen Sowjetgemeinschaft" die zählebigste.