Ausgabe Februar 1991

Von der Evaluation zur Liquidation.

Zur aktuellen Hochschul- und Wissenschaftspolitik in den neuen Bundesdesländern. Eine Studie des Bundes demokratischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler (BdWi) (Wortlaut)

"Evaluation" und "Abwicklung" (früher hieß das "Liquidation") sind die Fachbegriffe neudeutscher Wissenschafts- und Hochschulpolitik in der ehem. DDR. Der "Bund demokratischer Wissenschaflerinnen und Wissenschaftler" hat dazu im November 1990 ein umfangreiches Papier vorgelegt, das einen komprimierten Überblick über die Instrumentarien, Mechanismen und Folgen dieser Art von "Kahlschlagsanierung" gibt; hier bieten sich Parallelen zur wirtschafts- und industriepolitischen "Abwicklung" via Treuhandanstalt an, die einer vergleichbaren Logik verpflichtet ist (vgl. dazu den Beitrag von Jan Priewe in diesem Heft). An den ostdeutschen Hochschulen ist diese Politik inzwischen auf heftigen Widerstand gestoßen; vgl. dazu den Bericht des Ostberliner Wissenschaftlers Klaus Labsch in diesem Heft. Bei dem im folgenden abgedruckten Text handelt es sich um eine gekürzte und für die "Blätter" aktualisierte Fassung. Verantwortlich für den Inhalt ist Rainer Rilling. D. Red.

1. Ziele und Methoden der Wissenschaftspolitik

Die Versuche in der DDR im ersten Halbjahr 1990, durch Wissenschafts- und Hochschulreform in Autonomie, Selbstverwaltung, Modernität und Bedarfsorientierung umzusteigen, scheiterten nach wenigen Monaten. Das vorhandene Wissenschaftskapital konnte weder gesichert noch umgebaut werden, es fehlte an Bewegung, Macht, Geld, Expertise, Zeit und einer wissenschaftsfreundlichen Umwelt. Gezielt wurden dann - nach Vorgeplänkeln in einzelnen Branchen und Sektoren - seit April/Mai flächendeckend die eigenständigen Machtressourcen der alten DDR-Wissenschaftselite beseitigt, im wesentlichen durch die Haushalts- und Fiskalpolitik, dann aber auch durch Verordnung, Gesetz, Tarifrecht. Das ging weit hinaus über die Entfernung politisch kompromittierter, eng mit der alten politischen Ordnung aggregierter Wissenschaftselitegruppen und ihrer institutionellen Basis und über die Verhinderung eines alternativen ("dritten") forschungs- und technologiepolitischen Weges, für den ohnehin nicht einmal entwickelte konzeptionelle Voraussetzungen bestanden. Abgezielt wurde vielmehr auf einen Zustand, aus dem den Hauptakteuren der westdeutschen Wissenschaftspolitik kurz- und mittelfristig keine Konkurrenten erwachsen konnten. Es sollen keine neue Fraunhofer-Gesellschaft, keine neue Max-Planck-Gesellschaft, keine neue Deutsche Forschungsgemeinschaft, kein neuer Wissenschaftsrat entstehen.

Alle Bemühungen um welterreichende institutionelle Innovationen wurden in den letzten Monaten abgeblockt, kein einziges neues Steuerungsinstrument entstand: es geht um A b s o r pt i o n. Über Schließung oder Umbau westdeutscher Institute wurde keine Sekunde nachgedacht. Die erfolgreiche Durchsetzung dieser Politik zeigt, wie außerordentlich stabil das Machtgefüge des Wissenschaftssystems der "alten" Bundesrepublik ist, dessen Grundkonfiguration seit Mitte der 70er Jahre unverändert ist. Die Erklärung des Wissenschaftsrates vom Juli 1990 ("Vielmehr bietet der Prozeß der Vereinigung auch der Bundesrepubhk Deutschland die Chance, selbstkritisch zu prüfen, inwieweit Teile ihres Bildungsund Forschungssystems der Neuorientierung bedürfen") erweist sich als bloße Augenwischerei.

Der Königsweg dieser Politik der D e r e g u l i e r u n g ist die B r u c h l a n d u n g. Während das wissenschaftliche N e t z w e r k der DDR-Wissenschaft rasch zerstört und somit mangels politischer Steuerung und ökonomischer Fundierung schon früh zusammenbrach, dauert die Arbeit an den E l e m e n t e n dieses Netzwerks seine Zeit. Die Zerstörung der Akademie der Wissenschaften, die Halbierung der Industrieforschung, und die Beseitigung einer Reihe einflußreicher Institute an den wie außerhalb der Hochschulen wird sich bis frühestens 1992 hinziehen; der Personalaustausch wird durch Entlassungen, Selektion, Transfer, Kooperation und Neurekrutierung aus dem Nachwuchssektor bis 1993 vorläufig abgeschlossen sein. Ökonomische (Massenarbeitslosigkeit) bzw. fiskalische und rechtliche (politische Überprüfung) Regulierungen sollen den paßgerechten Übergang in den "Wissenschaftsüberbau" altbundesdeutschen Zuschnitts modellieren, in dem etwa Positionen aus der Tradition der Bürgerbewegungen - geschweige denn aus den marxistischen Traditionen - nur marginalen Platz haben. Über die Ziele und die Wahl der wesentlichen Verfahren verständigten sich die beteiligten Akteure bis Mitte 1990. Die wenigen erreichten Ansätze demokratischer Umgestaltung haben in dieser Zukunft kaum Platz.

Die R e k o n s t r u k t i o n eines östlichen Wissenschaftssystems besteht aus nur zwei Elementen: der sektoralen, disziplinären und branchenbezogenen A u s w e i t u n g d e r D o m ä n e n der politischen Hauptakteure der alten BRD-Wissenschaft (Industrie, BMFT, DFG, MPG, FhG, AIF, BMVg usw.) und der Entwicklung einer r e g i o n a l e n, durch die neuen politischen Eliten straff kontrollierten Hochschul- und Forschungspolitik auf L ä n d e r e b e n e.

Während Forschungsminister Riesenhuber das "Zusammenwachsen zu einem deutsch-deutschen Forschungssystem... von unten her" deklamierte, wurde die materielle Umsetzung der formellen Wissenschaftseinheit "von oben" arrangiert - wie ja das ganze Unternehmen der Vergrößerung der BRD. "Das Wissenschaftssystem wird nur um den Raum und die Bevölkerung der DDR vergrößert, nicht aber qualitativ verbessert." (Dieter Simon, Vorsitzender des Wissenschaftsrates, TAZ 10.10.1990). Daß der Wissenschaftsrat noch am 6. Juli 1990 formuliert hatte, es könne "nicht einfach darum gehen, das bundesrepublikanische Wissenschaftssystem auf die PDR zu übertragen", sah der Präsident der Fraunhofer-Gesellschaft Syrbe wenig später nur noch als "Formulierungen der Höflichkeit gegenüber der DDR-Seite" an. Es gibt keine Fusion oder gegenseitiges Lernen. Derlei Procedere ist vertraut aus der Geschichte obrigkeitsstaatlich organisierter Wissenschaft in Deutschland.

So ist die f o r m e l l e Wissenschafts e i n h e i t seit dem 3.10.1990 ein Faktum. Der Weg zur realen Einheit geht jedoch auch in der Wissenschaft durch das gerade Gegenteil hindurch: der Herstellung des U n t e r s c h i e d s. Was sich im Prozeß vollzieht, sind L ö s u n g s v a r i a t i o n e n v o n W i d e r s p r ü c h e n: eine ordinarienzentrierte Struktur ohne einen Teil der vorhandenen Ordinarien aufzubauen; die soziale und politische Struktur eines Wissenschaftssystems zu zerstören und zugleich einen Teil seines kognitiven Potentials und seiner institutionellen Form beizubehalten. Dies ist nur möglich durch trennscharfen Einsatz differenzierter Instrumente, deren Entwicklung Zeit benötigt. Ziel wie Verlaufsform des Prozesses ist die Modellierung neuer, tiefer sozialer und politischer Spaltungen in der Wissenschaftsrepublik - nicht nur zwischen Ost und West.

2. Die "Abwicklung" der DDR-Wissenschaft

1989/90 arbeiteten in der DDR in 2913 Einrichtungen ca. 140 000 WissenschaftlerInnen. Davon kamen etwa 8200 aus den Gesellschaftswissenschaften (5,9%). In der Industrie waren über 53%, an der AdW ca. 14% und an den Hochschulen ca. 12% beschäftigt. Rund ein Drittel des Wissenschaftspotentials liegt in Sachsen, etwa ein Fünftel in Berlin. Das Wissenschaftssystem war überzentralistisch, personalintensiv, wirtschaftsnah, regional unausgewogen, technisch rückständig, vernachlässigte die G r u n d l a g e nf o r s c h u n g zugunsten der Substitutionsforschung und Nachentwicklungen. Problematische P r i o r i t ä t e n der westdeutschen Forschungspolitik wie Nuklear-, Rüstungs- oder hypertrophierte Weltraumforschung finden sich vergleichsweise kaum - nebenbei auch nicht die oft behauptete Überdimensionierung der Gesellschaftswissenschaften.

Doch ebensowenig besteht eine Paßfähigkeit für eine Forschungs- und Technologiepolitik, die ökologisch-sozialstaatliche Problemlösungen akzentuiert. Die wesentliche gesamtdeutsche Rechtsgrundlage der Wissenschaftspolitik im Gebiet der DDR ist durch Art. 38 des Einigungsvertrags gegeben. Er spricht zwar von der "notwendigen Erneuerung von Wissenschaft und Forschung unter Erhalt leistungsfähiger Einrichtungen (in dem Gebiet der ehemaligen DDR)" (Art. 38). Sein wesentlicher Inhalt ist jedoch simpel eine einjährige Bestandsgarantie der Akademie der Wissenschaften bis Ende 1991, finanziert aus Haushaltsmitteln des Bundes und der Länder; soweit sie fortbesteht, gilt sie als Einrichtung der Länder. Der Einigungsvertrag ist insofern der Versuch, sich sozusagen mit einer Jahresrate aus dem Problem herauszuschwindeln: er ist ein Vertrag zu Lasten Dritter, nämlich der mittellosen Länder. Die BMFT-Politik hat sich stark auf die AdW konzentriert und Bereiche wie die Industrieforschung oder die Errichtung bundes- oder ländereigener staatlicher Anstalten vernachlässigt. Es war zunächst davon ausgegangen, daß auch für die Institute der AdW als der größten staatlichen Forschungseinrichtung eine Weiterarbeit finanzierbar sei. Auch die DDR-Regierung glaubte das nicht aber die Länder, die riesige finanzielle Belastungen auf sich zukommen sahen. Das M o r a t o r i u m der DDR-Regierung ließ sich nicht durchsetzen - doch sie bekam auf dem großen Bonner Treff der Wissenschaftspolitik am 3. Juli 1990 dafür die E v a l u a t i o n.

Während Richard von Weizsäcker der "Welt" am 2. November 1990 versicherte "Kosten sind nicht das Problem" und programmatisch feststellte: "Es darf nicht sein, daß ein paar Spitzenkräfte gut dotiert in westliche Einrichtungen abgeworben werden und der rest dann sehen kann, wo er bleibt", setzte sich in der konkreten Wissenschaftspolitik Bonns gegenüber den neuen Bundesländern "immer stärker ein Sanierungsdenken durch, das trivialmarxistische Züge trägt. Der kulturelle und wissenschaftliche Überbau der ehemaligen DDR wird als bloßer Appendix ihrer ökonomischen und politischen Basis angesehen" (Wolf Lepenies in der "Zeit", 23.11.1990). Die fiskalpolitisch begründete Inszenierung von Kahlschlägen "Abwicklung" ist der dafür geprägte Begriff - begann im Sommer, als die Schließung zahlreicher politiknaher Einrichtungen eingeleitet wurde. Daneben geht es um die "Einpassung" (BMFT-Pressemitteilung 8.11.1990) bzw. die "Übernahme" (Wissenschaftssenatorin B. Riedmüller-Seel, Berlin) und "Überführung" (Einigungsvertrag) der Restbestände in das BRD-System, die im übrigen damit operieren kann, daß wissenschaftlich qualifizierte Arbeitskraft, die nach Maßgabe der westlich arrangierten Evaluation internationalen Standards bzw. denen der alten BRD entsprechen soll, beträchtlich unter Wert bezahlt wird - bezieht doch z.B. der Rektor der Humboldt-Universität mit 2800 DM Monatsgehalt weniger als eine Sekretärin der Freien Universität im Westteil der Stadt und kostet der Jahresarbeitsplatz in der Industrieforschung der ehemaligen DDR nur ein Drittel.

Nachdem die ordnungspolitischen Grundentscheidungen gefallen sind, konzentriert sich die Politik auf V e r f a h r e n, nicht auf Programme und Prioritäten. Die Übertragung von Strukturen, so wird angenommen, ist flexibel genug, um neue kognitive Situationen zu bewältigen und für alte eine adäquate Form zu bilden. Das erste ist zweifelhaft, das zweite richtig, aber problematisch. Die Form des Prozesses sieht aus wie Selbstorganisation: Wissenschaftliche Gesellschaften fusionieren, Zeitschriften verändern ihre Herausgeberschaft, Autorenkreise und Distributionsmuster, Stellen werden gesamtdeutsch ausgeschrieben, Forschungseinrichtungen und -gruppen kooperieren. In das Entwicklungsmuster dieser Selbstorganisation freilich sind selektive Filter eingebaut; die Übernahmen von umgeformten Institutionen, der Einbau in Projektförderung, die Weiterführung von Beschäftigungsverhältnissen, die Übernahme westlicher Entscheidungsverfahren mit zentralistischem Bias z.B. im Hochschulwesen, wo überall Mehrheiten der HochschullehrerInnen statuiert werden mit dem verläßlichen Kalkül, daß zukünftig neues oder gewendetes Personal agieren wird.

3. Die Politik des BMFT

Der T r a n s f e r v o n S t r u k t u r e n u n d  V e r f a h r e n soll die Übertragung kognitiver Felder, wissenschaftlicher Programme und Schwerpunktsetzungen sichern. Die erste zentrale Programmatik des BMFT ("8-Punkte-Programm für die neuen Bundesländer - Perspektiven der Forschung und Entwicklung im geeinten Deutschland" vom 11.10.1990) dehnt schlicht vorhandene Forschungsschwerpunkte aus und beschränkt sich auf die Reaktivierung einiger brachliegender wirtschaftsorientierter Förderungsinstrumente: FuE-Personalzuwachsförderung in der Wirtschaft, Förderung von Auftragsforschungsprojekten; Förderung technologieorientierter Unternehmensgründungen; Förderung von Technologiezentren (15); Förderung der Materialforschung (2 Stellen); Fertigungstechnik (4 CIM-Transferstellen); Innovationsberatung bei IHK's und Unterstützung deren Arbeit; Mikroelektronik (Einbezug in JESSI); Meerestechnik; Lasertechnik; Biotechnologie und nachwachsende Rohstoffe. Im Zentrum der BMFT-Aktivität steht die Forderung ö k o n o m i s c h ausgerichteter Forschung: das BMFT habe im Bereich der Industrieforschung flankierende Maßnahmen im Wert von rd. 200 Mio. DM auf den Weg gebracht. Es ruft die Industrie dazu auf, "5% ihres FuE-Budgets für marktorientierte Forschung und Entwicklung in den neuen Ländern einzusetzen. Diese 5% würden mehr als 2 Mrd. DM mobilisieren". (BMFT, 11.10.1990) Nichts spricht dafür, daß die Industrie dies 1991 tun wird. Das BMFT legt zugleich intensiv der Wissenschaft die Kooperation mit der Wirtschaft nahe. Vergleichbare Aufforderung zur Wissenschaftskooperation auf anderen Feldern gibt es nicht. Für die im 8-Punkte-Programm des BMFT ebenfalls aufgeführten Bereiche der Vorsorgeforschung ("Verbesserung der Lebensqualität für die Menschen") wie medizinische Forschung, Arbeit und Technik, Ökologische Forschung, Umwelttechnologien, Energieerzeugung und -verwendung, Technikfolgenabschätzung, Erhaltung von Kulturbauten / Bauforschung sowie Geisteswissenschaften wird nicht einmal ansatzweise ein vergleichbarer Betrag ausgewiesen.

Doch immerhin finden sich auch sehr nützliche Projekte wie die Analyse der Schadstoffkonzentration und -verteilung in der westlichen Ostsee. Endlich kontinuieren auch die Vorschläge zum Einbau der ostdeutschen Wissenschaften in internationale Forschungskooperationen durchweg vorhandene Schwerpunkte der BMFT-Politik: Als Beispiele der Kooperation mit den osteuropäischen Staaten werden ausgerechnet die "Mitwirkung am sowjetischen Kernforschungszentrum ... oder die Zusammenarbeit mit der UdSSR in der Weltraumforschung" (BMFT, 11.10.1990) genannt, als Beispiele der Kooperationen im EG-Rahmen, die als bereits institutionalisiert in dieser Erklärung genannt werden, hebt das BMFT vor allem hervor EUREKA, die Einbeziehung der geowissenschaftlichen Forschung beim Kontinentalen Tiefbohrprogramm sowie die Einbeziehung in Großgeräteforschung vor allem in den Bereichen Elementarteilchenphysik, Kern- und Schwerionenforschung sowie Festkörperforschung. Daß die vom BMFT bislang praktizierte einfache Ausweitung der Förderungspolitik und Programme auf die neuen Länder keine ausgewogene Forschungslandschaft erreichen kann, bestätigt eine Studie des BMFT selbst: "Ein solches Ziel läßt sich nicht ohne weiteres mit den bisher in der Bundesrepublik geläufigen forschungspolitischen Instrumenten ansteuern. Sie sind zweckmäßiger Weise auf die wirtschaftlichen Bedingungen in der ... Bundesrepublik und nicht auf diejenigen in der bisherigen DDR ausgerichtet."

4. Außeruniversitäre Forschung: Abwicklung oder abhängige Entwicklung

Zum a u ß e r u n i v e r s i t ä r e n, nichtindustriellen staatlichen Sektor der Forschung gehörten rund 120 Einrichtungen der Akademien bzw. Ministerien, in denen rund 27% der FuE-Beschäftigten - etwa 38 400 Personen - arbeiten. Wollte man den in der bisherigen BRD vorhandenen öffentlichen Sektor entsprechend dem Bevölkerungszuwachs auf die neuen Länder ausdehnen, würde dies eine Beschäftigtenzahl von ca. 15 000 Personen bedeuten, also auf eine Reduzierung des gegenwärtigen Personalbestands um über 23 000 Personen - also um 60% - hinauslaufen; die Kosten eines so reduzierten Potentials würde sich auf ca. 2 Mrd. DM jährlich belaufen, wobei der Bund etwa 1,5 Mrd. und die neuen Länder 500 Mio. DM zu tragen hätten (so H. Krupp, Oktober 1990). Angesichts der starken Konzentration des Wissenschaftspotentials der ehemaligen DDR auf Berlin sprach die Berliner Wissenschaftssenatorin Riedmüller davon, man könne die Hälfte von 40 000 WissenschaftlerInnen in Ostberlin "übernehmen" (SZ 20./21.10.1990) für die andere Hälfte ist danach kein Platz im neuen Wissenschaftssystem mehr, was Frau Riedmüller nicht sagte. Außeruniversitäre Forschungseinrichtungen der Ressortforschung wie das "Institut für Politik und Wirtschaft" (IPW) werden gleichsam ersatzlos beseitigt.

Während verschiedene weitere Institutionen wie etwa die Akademie pädagogischer Wissenschaften mit 700 WissenschaftlerInnen oder das Zentralinstitut für Jugendforschung ohne jegliche wissenschaftliche Beurteilung oder öffentliche politische Verhandlung - und auch ungeachtet rascher Neustrukturierung und substantieller Demokratisierungsprozesse k u r z w e g l i q u i d i e r t werden/wurden, ungeachtet der Tatsache, daß in der DDR der 80er Jahre nicht wenige v e rg l e i c h s w e i s e r e a l i t ä t s b e z o g e n e r e Wissenschaftsprojekte in Institutionen durch geführt werden konnten, die Bestandteil der Bürokratie waren oder ihr nahe standen, hieß es noch im Sommer 1990, die Akademie der Wissenschaften könne aufgrund der für das 2. Halbjahr 1990 zugewiesenen Mittel alle Angehörigen bis Ende 1990 weiterbeschäftigten bzw. die vorzeitige Verrentung von 3000 Leuten vorbereiten und 5000 Beschäftigte aus den produzierenden Bereichen ausgliedern.

Ende November 1990 waren bereits um 15% der Stellen verschwunden ("Welt", 24.11.1990). In dem 8-Punkte-Programm spricht das BMFT von einer Reihe von Aktivitäten: - Beteiligung mit "einem maßgeblichen Anteil" (BMFT, 11.10.1990) an der Finanzierung der AdW (erwarteter Mittelbedarf 800 Mio. DM) - Evaluierung - unter Einschluß der Fa. Roland Berger und Partner bzgl. der Ausgliederung der Produktions- und Dienstleistungsbetriebe der AdW - Einrichtung einer Abwicklungsstelle - "Ziel der Umgestaltung ist eine Stärkung der Hochschulforschung über die Rückführung von Forschungskapazitäten an die Hochschulen und die Schaffung von Instituten in Trägerschaft der neuen Länder - der Aufbau überregional tätiger Forschungseinrichtungen in gemeinsamer Bund/Länder-Finanzierung" (BMFT 11.10.1990).

Nach Schätzungen auf der Tagung des Instituts für Gesellschaft und Wissenschaft zur Wissenschaftsfusion vom 7.-9. November 1990 würden von den rund 1720 Geistes-, Sozial- und KulturwissenschaftlerInnen der AdW rund 30% in den Vorruhestand gehen, etwa 500 könnten an den Hochschulen weiterarbeiten und 500-700 würden entlassen. Seit Juni gibt es Verhandlungen zwischen der AdW und den Hochschulen - doch es gebe "bis zum heutigen Tage keine wesentlichen Erfolge", "im Grunde genommen ist das Ergebnis gleich Null" (So AdW-Präsident Klinkmann am 7.11. auf o.e. Tagung des IGW in Bonn). Auch das Konzept der "An-Institute" ließ sich bislang nicht realisieren. Für eine Reihe prominenter Einzelvorhaben mit Langzeitcharakter - z.B. Editionen MEGA, Leibniz, Humboldt, Kant - gibt es keine klare Zukunft. Völlig offen ist der Mechanismus, der Hochschulen dazu zwingt, Forschungsressourcen der AdW aufzunehmen; besonders auch dann, wenn sie interdisziplinär sind; dabei droht die Gefahr, daß moderne Formen - z.B. Wissenschaftsforschung - zugunsten traditionaler Formen - z.B. Wissenschaftsgeschichte - geopfert werden. Die großen außeruniversitären Wissenschaftseinrichtungen der alten BRD folgen in diesem Sektor der Politik, die auf die I n s t a l l i e r u n g e i n e s M u s t e r s a b h ä ng i g e r W i s s e n s c h a f t s e n t w i c k l u n g zielt.

Die Fraunhofer-Gesellschaft übernimmt, für 3 Jahre befristet, 14 Arbeitsgruppen (700-800 WissenschaftlerInnen) aus 13 Instituten, "z.T. als Außenstellen bestehender Fraunhofer-Institute" (BMFT 11.10.1990). Herausgesucht wurden "Filetstücke" (AdWPräsident Klinkmann): neun Institute der AdW, das Dresdner Ardenne-Institut, drei Kombinatsinstitute. Die MPG plant nach Angaben des BMFT die Einrichtung "von bis zu 20 Außenstellen bestehender MPIs an Hochschulen in den neuen Bundesländern sowie bis zu 15 befristeter Projektgruppen, die sich später zu MPIs entwickeln könnten" (BMFT 11.10.1990). Die geplanten, für fünf Jahre finanzierten sog. "Arbeitsgruppen" der MPG an den Hochschulen (5-10 sollen 1991 etabliert werden) sind A u ß e ns t e l l e n vorhandener MPG-Institute bzw. -Abteilungen; die Leiter solcher Gruppen werden von der MPG vorgeschlagen. Gebildet werden sollen sie n u r auf solchen Feldern, die in der MPG nicht existieren - d.h. ihr inhaltlicher Bezug geht auf die w e s t l i c h e MPG, nicht auf die östlichen Institutionen, Probleme oder Potentiale. Eine Einfügung vorhandener Institute wird abgelehnt.

5. Die Evaluierung

Bei der Beseitigung oder Überführung dieser Einrichtungen spielt die E v a l u i e r u n g eine Rolle. Sie hat als wissenschaftspolitisches Instrument unterschiedliche Bedeutung: - sie ist vielleicht ein S i c h e r h e i t s k o r r i d o r im Chaos für die einen, Z e i t- u n d L e g i t i m a t i o n sk a u f für die anderen, S e l e k t i o n s i n s t r um e n t für die dritten und P r o f i l i e r u n g s i ns t r u m e n t für die Macher. Artikel 38 des Einigungsvertrages kündigt "eine Begutachtung von öffentlich getragenen Einrichtungen durch den Wissenschaftsrat (an), die bis zum 31. Dezember 1991 abgeschlossen sein wird, wobei einzelne Ergebnisse schon vorher umgesetzt werden sollen". In einem Schreiben an die Institute der Akademie der Wissenschaften vom 26.10.1990 gibt BM Riesenhuber seine Darstellung der "breit angelegten Evaluierung".

Es sei notwendig, "so bald wie möglich, spätestens aber zum Ende des Jahres 1991, Ihre Institute auf Wettbewerbsfähigkeit unter den Bedingungen eines offenen Forschungsmarktes zu prüfen, umzubauen und in die gemeinsame deutsche Forschungslandschaft ... einzugliedern... Unter der Schirmherrschaft des Wissenschaftsrates sollen alle AdW-Institute und ihre Arbeitsgruppen von Wissenschaftlern überprüft werden - ein Verfahren, das bei der Wissenschaft in der Bundesrepublik üblich ist und sich bewährt hat. Wir haben gemeinsam entschieden Wert darauf gelegt, daß in den Evaluationsgruppen Wissenschaftler, sowohl aus den alten als auch aus den neuen Ländern Deutschlands arbeiten, und Wissenschaftler aus anderen Ländern Europas... Die Evaluation und die neuen Konzeptionen für die Institute brauchen Zeit ... der Wissenschaftsrat arbeitet so schnell, wie dies überhaupt möglich ist.

Dennoch wird es ganz wichtig sein, daß die Institute aus eigener Verantwortung auch schon vor der Evaluation des Wissenschaftsrates solche R a t i o n a l i s i e r u n g sm a ß n a h m e n ergreifen, die zu einer Modernisierung der Forschungsarbeiten führen" (Hervorh. d. Verf.).

Während das BMFT den politisch-bürokratischen Transfer vom alten ins neue System organisiere, sei der Wissenschaftsrat für die kognitive Seite zuständig: "Die inhaltliche Gestaltung des Übergangs wird weitgehend durch die Evaluierungs- und Empfehlungstätigkeit des Wissenschaftsrates bestimmt" (BMFT, 11.10.1990). Auch die Pläne der FhG und MPG "werden Gegenstand der Evaluation durch den Wissenschaftsrat sein. Der Wissenschaftsrat wird seine Empfehlungen schrittweise in dem Umfang abgeben, wie dies nach den Institutsbereisungen und Beratungen möglich ist. Eine Reihe von Voten werden bereits Ende November beraten werden" (BMFT, 11.10.1990). Neun Arbeitsgruppen des Wissenschaftsrates hatten bis Ende November 1990 etwa die Hälfte der 60 wissenschaftlichen AdW-Institute evaluiert, im Januar 1991 sollen 40% aller Einrichtungen, bis Ostern 1991 mehr als die Hälfte evaluiert sein (BMFTPressemitteilung, 23.11.1990). Nach abschließenden Beratungen im Januar und Mai gehen die Empfehlungen an die Bund-Länder-Kommission. Nicht überführte Einrichtungen werden geschlossen - also "abgewickelt".

6. Die Evaluierung: Grundmerkmale und -probleme

Die Bewertung der Leistungen, die in Wissenschaft und Hochschule erbracht werden, ist ein alltäglicher Vorgang, ob Prüfungen abgehalten, Seminarleistungen beurteilt oder Gutachten über Projektanträge oder eingereichte Artikel abgegeben werden. Das Urteil der FachkollegInnen (Peer Review) ist das gängige Bewertungsverfahren in der Wissenschaft. Daß Evaluation und neuerdings auch Evaluationsforschung in den letzten zwei Jahrzehnten eine neue Dringlichkeit erhalten und eine zunehmende Bemühung um quantitative Bewertungsverfahren spürbar wurde, hatte in erster Linie mit Ökonomischen Sachverhalten zu tun, mit zunehmendem Aufwand und unzureichender Effizienz. Bei der "Ökonomisierung der Hochschule" etwa ging es um Wirtschaftlichkeit, um Effizienzsteigerung. Das Ziel war Optimierung eines historisch gewachsenen Systems, dessen letzte größere Reform vor über fünfzehn Jahren mit der Verabschiedung des Hochschulrahmengesetzes (1976) abgeschlossen worden war.

Dieses Ziel jedoch unterscheidet sich qualitativ von der Absicht, die mit der gegenwärtig in der ehemaligen DDR ablaufenden Evaluierung verbunden ist: hier geht es nicht um s c h r i t t w e i s e O p t i m i e r u n g, sondern um r a s c h e s t e T r a n s f o r m a t i o n, genauer um die Frage, ob Elemente eines alten Systems in ein neues System übernommen werden können, ob und inwieweit sie paßfähig sind. Eine solche Situation und die mit ihr verbundene Zielsetzung werfen für die Methodik der Bewertung grundlegende Fragen auf, die u.U. die Anwendbarkeit des Verfahrens selbst in Frage stellen. Geht es um eine E x - a n t e - E v a l u a t i o n - die Vorhaben und Pläne beurteilt - oder um eine E x - p o s t - E v a l u at i o n, bei der ein ExpertInnenkonsens über die Qualität bereits erbrachter Leistungen hergestellt wird? Was also ist der Wert dieser Verfahren, wenn es um die Ablösung eines alten Systems durch ein neues System geht? Gelten die alten Leistungen per definitionem nichts mehr? Dann allerdings ist eine Ex-post Evaluation der erbrachten Leistungen unnötig.

Wiegt nur das, was in das neue System paßt, gibt es zwei Möglichkeiten: entweder wird wendige Paßfähigkeit demonstriert (dann macht eine Ex-anteEvaluation beträchtlichen Sinn) oder es kann auch ein systemtranszendierendes bzw. verbindendes D r i t t e s ins Spiel gebracht werden, auf das Bewertungen ex ante wie ex post bezogen werden können - also etwa wissenschaftliche Wahrheit, gesellschaftlicher Nutzen, politische Legitimität, ökonomische Produktivität. Wenn es dieses systemtranszendierende Dritte gibt, das somit gleichsam in beiden Ordnungen zuhause war und ist, dann muß es auch durch ExpertInnen bzw. RepräsentantInnen in beiden Systemen g l e i c h b e r e c h t i g t und k o o p e r at i v mit der g e m e i n s a m e n Sicht auf b e i d e Ordnungen bearbeitet werden können - wovon nicht die Rede sein kann. Zuständig sind die das neue System Repräsentierenden kraft Macht und Modernität. Zudem entsteht die Frage, wer dieses Dritte aushandelt - denn die Wissenschaft, die für die Konstruktion, Aushandlung oder Legitimierung wissenschaftlicher Wahrheit, Neuheit oder Reputation zuständig sein mag, ist bei den letztgenannten Punkten nicht primär verantwortlich. Die gegenwärtige Evaluation ist somit k e i n e s w e g s, wie Minister Riesenhuber formuliert, "ein Verfahren, das bei der Wissenschaft in der Bundesrepublik üblich ist und sich bewährt hat".

Sie ist etwas g r u n d l e g e n d a n d e r e s. Gefragt wird nicht nur, wie es in der alten BRD üblich war, nach Strukturen, sondern auch nach Inhalten. Hier wird auch nicht ein Institut mit ein paar Dutzend Beschäftigten begangen oder, im äußersten Fall, darum gestritten, ob eine Hochschule vor den prüfenden Augen der Deutschen Forschungsgemeinschaft Gnade findet. Hier geht es eben nicht um ein einzelnes Projekt, um einen Sonderforschungsbereich, um eine Universität. Es geht um das Wissenschafts s y s t e m eines Staates. Kurz: die G r ö ß e n o r d n u n g ist e x z e p t i o n e l l, die Z i e l s e t z u n g e x k l us i v und das Verfahren bestenfalls experimentell. Der Vorgang ist nicht "üblich", wie der Minister sagt, sondern unüblich. Auf dem 19. Werkstattgespräch des Instituts für Gesellschaft und Wissenschaft Anfang November in Bonn bestätigte dies der Abteilungsleiter in der Berliner Senatsverwaltung für Wissenschaft und Forschung Jochen Stoehr: es gehe um eine Systemevaluierung- die Meßlatte sei das Wissenschaftssystem der BRD.

Dennoch ist die Ankündigung dieses Verfahrens von vielen WissenschaftlerInnen der ehemaligen DDR aus zwei Gründen zu Recht zunächst positiv als Versprechen auf ein d e m o k r a t i s i e r e nd e s P r o c e d e r e aufgenommen worden: durch die Evaluierung kommen, wie auch immer, wissenschaftliche Expertise und die Normen der scientific community ins Spiel. Ein solches Verfahren ist, in der Sicht der Betroffenen, jedem wissenschaftspolitischen Entscheidungsprozeß vorzuziehen, an dem nur die Politik bzw. die Verwaltung Akteure sind. Die Evaluierung ist zugleich als Chance begriffen worden, an einem zentralen Funktionsmechanismus von Wissenschaft erweitert teilzuhaben denn bei aller Rückkoppelung und Verflechtung mit der Politik ist die Bewertung wissenschaftlicher Leistungen ein der Wissenschaft eigentümliches Verfahren, auf dessen Grundlage Ressourcen verteilt werden. Daß dieses Verfahren zuweilen oder, wie manche meinen, sogar prinzipiell auch gerade anders herum funktioniert (Ressourcen also Reputation begründen), ändert nichts an der Eigentümlichkeit des Verfahrens, das eine Chance zur Wissenschafts a u t o n o m i e begründet.

7. Methodische Probleme der Evaluation

Ziel und Tempo dieses Prozesses haben Folgen für die Art und Weise der Evaluation. Die Evaluierten werden befragt, zunächst mittels eines durchaus breit angelegten und insgesamt soliden Fragebogens. Die "Fragen an die außeruniversitären Forschungseinrichtungen in der Deutschen Demokratischen Republik erfragen unter den bei quantitativen Forschungsbewertungen gängigen b i b l i o m e t r is c h e n Indikatoren nur Publikationsstatistiken; der auf R e p u t a t i o n abzielende Indikator "wissenschaftliche Preise und Auszeichnungen" wird nur anhand des Gutachterwesens angerissen; m a r k t o r i e n t i e r t e Indikatoren kommen im Fragebogen nicht vor, die abgefragten Z e i t r ä u m e, auch das wäre methodischenkritisch anzumerken, variieren aus ungenannten und durchaus unerfindlichen Gründen (1, 3 bzw. 5 Jahre!).

Das übergroße Tempo des gegenwärtig im Osten der Bundesrepublik ablaufenden Unternehmens schließt jedoch die saubere Anwendung f o r m a l e r, z ä hl b a r e r inputoder outputorientierter Kriterien in aller Regel aus, da sie zeitraubende v e r g l e i c h s f ä h i g e Quantifizierungen voraussetzen. Solche Kriterien - sie reichen von der Anzahl der Promotionen bis zu Zitationshäufigkeiten, Nutzflächen oder Auslastungsgraden - ersetzen sicherlich inhaltlich-qualitative Kriterien nicht. Ihre Anwendung ist auch nicht notwendig eine Voraussetzung für den Gebrauch qualitativer Kriterien. Sie macht aber unter den Bedingungen äußerster f i n a n z i e l l e r K n a p p h e i t zweifellos einen gesteigerten Sinn. Die Evaluationsdiskussion der letzten Jahre in der alten Bundesrepublik versucht eben, angesichts der hierzulande nun schon über ein Jahrzehnt real stagnierenden Haushaltsmittel für das Hochschulwesen durch die Elaboration solcher Kriterien die Leistungsfähigkeit der Hochschulen in angespannter finanzieller Situation zu sichern, da sie relativ gut für Kosten-Nutzen-Kalküle geeignet sind. Solche Kalküle werden freilich dann sinnlos, wenn es nicht um die Verbesserung eines Systems geht, sondern mehr oder weniger um seine Beseitigung.

Insofern drückt sich in der faktischen Vernachlässigung quantitativer Kriterien nicht nur die fragwürdige Eile, sondern auch die fragwürdige Zielsetzung des Unterfangens aus. Die Anwendung solcher Kriterien macht aber auch zweitens besonders dann Sinn, wenn Bewertende und Bewertete u n t e rs c h i e d l i c h e n W i s s e n s c h a f t s k u l t ur e n angehören. Da in den inhaltlich-qualitativen Bewertungsprozeß subjektive Urteile eingehen, die in einer solchen Situation von besonderem Gewicht sind, können derartige quantitative Kriterien subjektive Fehlleitungen zwar nicht verhindern, aber doch vielleicht mindern. Ihre Anwendung erzwingt ein präzises Nachdenken darüber, was verglichen und demselben Maßstab unterworfen werden kann und was nicht. Das schließt ein die Frage nach den qualitativen Voraussetzungen, es muß berücksichtigt werden, unter welchen Bedingungen bestimmte quantitative Merkmalsausprägungen zustandekamen.

Intradisziplinäre Vergleiche durch Gegenüberstellung mit anderen gleichartigen oder ähnlichen Einrichtungen sind hier besonders sinnvoll. Es gibt zahlreiche begriffliche Unschärfen und methodologische Probleme. Wie wirkten sich die kognitiven Vorsprünge der Reisekader auf Produktivitäten aus? Werden nur Theorie- und Methodenstandards oder auch hiesige Prioritäten, Organisations- und Kommunikationsmuster evaluiert und transferiert, geht es nicht auch um alte Rechnungen? Welches Demokratiekonzept liegt zum Beispiel der für bundesdeutsche Bewertungsverfahren des Wissenschaftsrates kraß unüblichen Frage 5 des Fragebogens zugrunde ("Wer bestimmt die Schwerpunktsetzung für die wissenschaftlichen Aufgaben des Instituts? In welcher Weise wirken der Direktor, die Mitarbeiter und andere Instanzen bei der Planung, Gestaltung und Bewertung der Arbeit zusammen? Wie sind die Leitungsgremien des Instituts derzeit zusammengesetzt?")? 8. Ziele der Evaluation

Die rabiate Eile, in der die Evaluierung statthat, ist aber noch in weiterer Hinsicht problematisch. Werden, wie es der Fall ist, anstatt quantitativer Kriterien vorrangig inhaltlich-qualitative in Ansatz gebracht, dann ist Klarheit über die Zielsetzungen des Gesamtvorhabens unabdingbar, denn diese Ziele wirken zumindest auf die Auswahl der qualitativen Kriterien zurück. Um welche Zielsetzungen aber geht es eigentlich? Um welche der gesellschaftlichen Funktionen, die wissenschaftliche Einrichtungen ausfüllen, geht es bei der Evaluierung?

Auf welchen I d e a l t y p von Hochschule hin etwa - vorausgesetzt, ein substantieller Teil dieser Einrichtungen soll in Hochschulen inkorporiert werden wird die Bewertung gemacht:

- auf die M u l t i v e r s i t ä t, die Dienstleistungshochschule also, deren Einheit nicht aus der Wissenschaft kommt, sondern von der Kaufkraft der Nachfrager auf dem Wissenschaftsmarkt konstruiert wird?

- Wird das Leistungspotential für eine F o r s c h u n g sh o c h s c h u l e bewertet oder geht es vorrangig um das Profil einer Stätte der L e h r e u n d W e i t e r b i ld u n g?

- Geht es um die r e g i o n a l e Versorgung oder die e ur o p ä i s c h e Weltzugewandtheit?

- Um die Produktion von R i s i k o w i s s e n s c h a f t oder die Befähigung zur R e f l e x i o n s w i s s e ns c h a f t?

- Geht es um O p p o s i t i o n s- oder um L e g i t i m at i o n s w i s s e n s c h a f t?

- Soll eine gesamtdeutsche H o c h s c h u l r e f o r m neu gedacht und ermöglicht - oder soll sie verhindert werden?

- Ist das Maß also die alt-bundesdeutsche G e g e n w a r t oder die neudeutsche und europäische Z u k u n f t,

- Oder zielt die Frage einfach auf e f f e k t i v e s W i r ts c h a f t e n des Betriebes Wissenschaft?

- Sollen P r o d u k t i v i t ä t e n erfaßt werden? Geht es um die Identifizierung von S p i t z e n f o r s c h u n g?

- Gar um die V o r h e r s a g e g u t e r oder l e is t u n g s f ä h i g e r Wissenschaft?

- Soll der wissenschaftspolitische E x i s t e n z r a u m für im neuen Deutschland zulässige Konzeptionen, Theorien oder Schulen bestimmt werden? - Oder soll gar W i s s e n s c h a f t v o n N i c h t W i s s e n s c h a f t unterschieden werden?

- Soll durch Bewertung zentrale Zuteilung von Ressourcen und Reputation legitimiert oder d e m o k r a t i s c h e S e l b s t r e g u l a t i o n der nachdenklich und kompetenter gemachten Betroffenen ermöglicht werden?

Die einfache Antwort auf diese Fragen, daß es - zumal bei einem Unternehmen dieser Größenordnung - mehr oder weniger um alles gehe bzw. es Sache der neuen Bundesländer und ihrer demokratisch gewählten Organe sei, welche Optionen gewählt werden - vertraut zugleich auf die Sinnhaftigkeit und vor allem gesellschaftliche Durchschlagskraft des Verfahrens, nach dem zwischen all den genannten Optionen dann ausgewählt wird: nicht "die Wissenschaft", auch nicht "die Demokratie", sondern M a c h t und M a r k t entscheiden dann darüber, was Bestand und Zukunft haben soll. Die Diffusität bzw. fehlende Kanonisierung der Evaluierungsziele gewährleistet, daß die Ergebnisse im Nachhinein als Rechtfertigung für die unterschiedlichsten politisch entschiedenen Optionen dienen können. Die einzelnen Evaluierungen unterscheiden sich nur dadurch, ob solche nichtexpliziten Entscheidungen bereits gefallen sind oder ob sie noch ausstehen. Anders formuliert: primärer Zweck solcher Evaluation ist Legitimation.

9. Die problematische Geheimhaltung

Auffällig an dem Schnellverfahren ist neben seiner Eile, wissenschaftlichen Brüchigkeit und der Diffusität der Zielsetzungen sein A r k a n c h a r a k t e r. Die Evaluierung hat keine Publizität, schon gar nicht seitens der Evaluierten. Die Zusammensetzung der Kommissionen ist auch auf Nachfrage nicht zu erfahren, die Intransparenz diene "dem Schutz" der Mitglieder (TAZ, 25.10.1990) - da wird nachvollziehbar, weshalb der Wissenschaftsrat auf einer Tagung der wissenschaftspolitischen Hauptakteure jüngst "als wissenschaftliche Selbstschutzorganisation" bezeichnet wurde. Da in den Prozeß offenbar subjektive Erfahrungswerte und Wertvorstellungen eingehen, kommt der Auswahl der Experten besondere Bedeutung zu, doch wer evaluiert, ist unbekannt - und auch die Prinzipien der Auswahl und Bestellung der Evaluateure. Offenbar geht es hier zunächst um die durchaus wissenschaftsfremde Unterscheidung zwischen ost- und westdeutscher Wissenschaft: "Es ist offensichtlich ein schweres psychologisches Handikap", vermerkt Wolf-Michael Catenhusen, Vorsitzender des Ausschusses für Forschung und Technologie am 18.10.1990 vor der Wissenschafts-Pressekonferenz, "daß meist nur westdeutsche Forscher über die Zukunft ostdeutscher Forschergruppen entscheiden, nicht immer mit ausreichender Kenntnis über die besonderen Bedingungen in den ostdeutschen Ländern."

Daß "entschieden Wert darauf gelegt" würde, "daß in den Evaluationsgruppen Wissenschaftler, sowohl aus den alten als auch aus den neuen Ländern Deutschlands arbeiten, und Wissenschaftler aus anderen Ländern Europas" - so BM Riesenhuber - verhindert nachgewiesenermaßen nicht, daß Evaluationen stattfinden, bei denen nur westdeutsche Wissenschaftler ostdeutsche Wissenschaftler bewerten. Bleibt die Frage offen, wer diese Evaluatoren sind. In welcher Hauptrolle treten die Kollegen auf? Prozeßexperten, Produktexperten (Anwender, Umsetzer), Methodenexperten? Konkurrenten? Karrieristen? Antikommunisten? Sozialoder Strukturpolitiker? Experts in Democracy? Outsider? Da die Bewerteten ihre Gutachter zu Gesicht bekommen, geht es nicht um Verhinderung, sondern um Begrenzung von Sichtbarkeit: das Verfahren sei "nach innen offen", nach "außen aber geschlossen" hieß es gegenüber Betroffenen. Limitierte Sichtbarkeit macht allerdings wissenschaftspolitisch doppelt Sinn.

Evaluierungen vermitteln die A r b e i t s m a r k t k o nk u r r e n z in der Wissenschaft, wodurch im Falle der Systemevaluation eine besondere Problematik entsteht: da die Chance der eigenen Akzeptanz durch die Ausgrenzung des anderen erhöht wird, bestehen zusätzliche Einflußmöglichkeiten auf das eigene Schicksal dieser Logik zufolge dann darin, die Chancen der jeweils anderen zu mindern, indem man ihnen ihre höhere Verflochtenheit in das alte System anlastet. Auf diese Weise schafft man sich nicht nur unliebsame Konkurrenten vom Hals, sondern zugleich psychische Entlastung, indem man die jeweils "Höherstehenden" für die Unterwerfung, für die man jetzt zur Rechenschaft gezogen wird, verantwortlich macht. Das Muster der Arbeitsmarktkonkurrenz, zumal bei Systemwechsel, läuft am Besten bei parzellierter Öffentlichkeit. Der halböffentliche Charakter des Unternehmens soll darüber hinaus, läßt sich vermuten, wohl vor allem sichern, daß die Maßlosigkeit des Vorgangs keiner g r ö ß e r e n Öffentlichkeit bewußt wird. Wo Gerücht und Quasiöffentlichkeit, also für die ehemalige DDR vertraute Formen der Kommunikation herrschen, wird die Herausbildung solidarischer Gemeinsamkeit erschwert: "Jeder stirbt für sich allein" bilanzierte ein Wissenschaftler eines Akademieinstituts auf der BdWi-Veranstaltung Ende November an der Humboldt-Universität zur "Evaluation der Evaluation".

10. Forderungen zur Evaluierung

Die Evaluierung ist undemokratisch. Sie kann am einfachsten gemacht werden, indem sie als b ü r o k r a t i s c h e r N o rm a l v o l l z u g w i s s e n s c h a f t l i c h e r S t a n d a r d s und damit als "seit langem praktiziertes" (Wissenschaftsrat) unpolitisches Verfahren inszeniert wird. Die Beteiligten, voran das BMFT und der Wissenschaftsrat sind bemüht, die N o r m a l i t ä t der Evaluierung zu demonstrieren. Zumal sie - anders als auf den ersten Blick vergleichbare Unternehmungen großräumiger Intervention in die Wissenschaft (nämlich Entnazifizierung und Arisierung) - zumindest explizit nicht darauf aus ist, s c h l e c h t e Politik in der Wissenschaft dingfest zu machen, sondern bloß g u t e und s c h l e c h t e Wissenschaft voneinander trennen will, also so tut, als ob es hier der von der Politik eingesetzten Wissenschaft(-sratskommission) nur um Wissenschaft ginge. Agiert wird dabei allerdings in einem wissenschaftspolitischen Klima, das zuhauf von dezidierten Leistungsurteilen lebt. Der Präsident der FU Berlin Heckelmann qualifiziert störrische HochschullehrerInnen an ostdeutschen Einrichtungen als "Sensibelchen" (FR, 1.11.1990). Rechtskonservative Printmedien wie die "Welt" ("Forschungswüste", 3.10.1990) oder die "FAZ", aber auch - kaum überraschend - der "Spiegel" publizieren seit Monaten in extrem diffamierender, häufig unwahrer und durchgängig inkompetenter Weise über die Situation in Wissenschaft und Hochschule der ehemaligen DDR.

Tatsächlich gilt: wer als wissenschaftlich leistungsfähig qualifiziert wird, hat politische Legitimität. Im Evaluationsverfahren werden wissenschaftliche und politische Legitimierung erneut zur Deckung gebracht, fallen zusammen, nachdem ihre Differenzierung in der ehemaligen DDR eben politisch erkämpft und wissenschaftlich erarbeitet worden war. Wer die Evaluierung nicht übersteht, ist gescheitert - wer besteht, dessen Moral und Wissenschaft wird nicht selten beschädigt sein.

Doch er hat womöglich gelernt, zu denken und zu reden wie die BewerberInnen auf dem brutalisierten Wissenschaftsmarkt des Westens; wem die individuelle Handbabung der neuen Verhältnisse gelingt, wird mit dem Bonus gegenüber früherer Zeit weitreichender individueller und partiell auch korporativer Handlungs- und damit Lehr- und Forschungsfreiheit honoriert. Opportunismus ist da die beste Anpassungs- und Überlegungsstrategie, Geschichtsbewußtsein stört, Würde ist hier keine "hilfreiche Eigenschaft" (Wessel).

11. Hochschulpolitik: der Kontext

Auch bei den H o c h s c h u l e n geht es, wie Mitte Oktober 1990 der stellv. Hauptgeschäftsführer des Verbandes der Chemischen Industrie B. Ording erklärte, um "eine weitgehende Orientierung an westdeutschen Gegebenheiten", an Verhältnisse also, wo "die Hochschule als Träger der Grundlagenforschung und Erkenntnisvermittler für die marktorientierte angewandte Forschung der Industrie auftritt". Die Rückverlagerung des Monopols auf wissenschaftliche Abschlüsse und die mit Sicherheit expandierende Lehre werden den Stellenwert der Hochschulen erhöhen - nach der Lösung der Ordinarienfrage, die gegenwärtig im Mittelpunkt steht, gibt dies dem Mittelbau, der quantitativ ein weit größeres Problem darstellt z.B. gibt es 8000 Lehrer im Hochschuldienst (!), in der BRD nur ca. 2000 immerhin befristet gewisse Beschäftigungsaussichten. Im Augenblick freilich müsse er "ausgedünnt werden" (D. Simon). Von den Studierenden ist im wesentlichen im Zusammenhang damit die Rede, daß die Studienzeiten der alten Republik "von Anfang an vermieden werden" sollten (H. Krupp, Oktober 1990) und die Chance "zu einem verschulteren und verkürzten Studium" (D. Simon, TAZ, 10.10.1990) ergriffen werden müsse. Für die Hochschulen der DDR wurde relativ weniger ausgegeben (DDR: 1,07% des BiP, BRD: 1,17% des BiP in 1988), doch die Beschäftigtenquote war höher (1,17% gegenüber 0,86%). Das wissenschaftliche Personal umfaßte 31 000 Personen (BRD: 82 500), die Zahl der Studierenden pro Lehrkraft - das "Betreuungsverhältnis" - lag in der DDR bei 1:5, in der BRD bei 1:18, weshalb natürlich versucht wird, die laufende Anpassung an die westliche Überlast mit Personalabbau zu koppeln.

Andererseits müssen nicht nur angesichts der absehbaren Verdoppelung der Studiernachfrage insbesondere die Geistes- und Sozialwissenschaften ausgebaut und generell das Hochschulforschungspotential gestärkt werden: legt man die Maßstäbe der BRD an - und das sind miserable Maßstäbe -, müßte die Anzahl der in der Hochschulforschung Beschäftigten um rund 1000 gesteigert werden. An den Hochschulen der ehemaligen DDR gehen daher nach dem Anschluß Entpolitisierung und parteipolitische Vermachtung ineinander über: während fast überall mit massiver Unterstützung der Wissenschaftsadministration konservative, zum Teil sogar extrem rechte Positionen unter der HochschullehrerInnenschaft Einfluß gewinnen - gekoppelt an politische Gefälligkeitsarrangements wie etwa der Berufung des DDR-Exministers Krause als Honorarprofessor in Wismar oder des verrenteten Hans Apel, SPD, als Lehrbeauftragter für wissenschaftliche Politik in Rostock -, gibt es auch (wenngleich wenige) Beispiele dafür, daß an den Hochschulen und Forschungseinrichtungen kritische, einer demokratischen und humanistischen Wissenschaftspraxis verpflichtete WissenschaftlerInnen arbeiten können.

Die Anpassung der Hochschulen an die Hochschulverfassung lt. HRG wird gegenwärtig verzögert und modifiziert durch die Bemühungen, den Personalbestand an den Hochschulen auszutauschen - Festlegungen des Einigungsvertrages stellen dafür Zeitfonds und eine Fülle abgestuft wirksamer Selektionsverfahren bereit, da die Veränderung der Hochschullandschaft von oben eine Konsolidierung der Länderadministrationen voraussetzt. Die Politik der Systemabsorption konzentriert sich im Kern vor allem auf das Arrangement dessen, was Mitte Oktober 1990 auf der Veranstaltung des "Stifterverbandes für die deutsche Wissenschaft" der Vorsitzende des Wissenschaftsrates Prof. Dieter Simon mit so feinem historischem Wortempfinden "Purgierung" nannte.

12. Die Purgierung

Zwischen 1.1.1990 und 18.8.1990 wurden 1504 Hochschullehrer in der DDR entlassen, "nur" 506 von ihnen kamen aus dem M/L-Bereich, weitere aus dem SED-eigenen bzw. -nahen (!) Wissenschaftsapparat. Der Wissenschaftsrat hat in seinen 12 Empfehlungen vom Juli 1990 bereits betont, daß man mit der Entlassung der Professoren für Marxismus-Leninismus, Wissenschaftlichen Sozialismus/Kommunismus sowie Politische Ökonomie nicht auskommen werde - kurz: es geht um die "ideologiegeschädigten Fächer" (Prof. Helmut Altner aus Regensburg auf dem Villa-Hügel-Gespräch des SV), darum, daß "Altlasten erfaßt - und entsorgt - werden". ("Welt", 5.11.1990) Der völlig gerechtfertigten Auflösung des ML-Grundlagenstudiums folgte die fragwürdige Kündigung von 506 dort beschäftigten HochschullehrerInnen aufgrund eines zentralen Ukas. Ausschlaggebend vor jeder wissenschaftlichen und persönlichen Einzelbewertung war a l l e i n die formale Zugehörigkeit zur alten ML-Sektion. Keine Rolle spielte, ob andere Fakultäten zur Übernahme bereit waren.

Dabei waren in dieser keineswegs ausschließlich, wie suggeriert wird, stumpfsinnige, Parteiideologen beschäftigt. Häufig entschied ein organisatorischer Zufall inneruniversitärer Stellenplanung darüber, ob disziplinär qualifizierte Geistes- oder SozialwissenschaftlerInnen formal der ML-Sektion, oder der Ökonomie, Geschichte, Philosophie o.ä. zugeordnet wurden. Die Dehnbarkeit solcher Bewertungsmaßstäbe in den gesamten Geistes- und Sozialwissenschaften, deren Institute ohne zulässigen Rückschluß auf wissenschaftliches Niveau häufig das Adjektiv "marxistischleninistisch" trugen, schaffen für diese als vermeintlich besonders ideologieverhaftete Bereiche ein Klima permanenter Bedrohung. Die Ideologie, die dabei wieder auflebt, ist die von den positiv gegenübergestellten - angeblich ideologiefernen und entsprechend interessenneutralen Natur- und Technikwissenschaften, die Parteibuch hin oder her - sich "von der Metaphysik freihalten (konnten)" (Dieter Simon). Die bisherige Technikgläubigkeit in der DDR läßt sich so nahtlos in Späthsche High-tech Rhetorik umbauen.

Die wissenschaftshistorisch einmalige Dimension des nun anstehenden, über diesen relativ leicht identifizier- und legitimierbaren M/L-Bereich weit hinausreichenden Zugriffs auf Spurenreste als SED-marxistisch etikettierter Denkformen deutet wenigstens milde die "FAZ" vom 29.9.1990 an, in der es heißt: "Es sind fast 40 000 Personen, die sich während ihres bisherigen beruflichen Lebens mehr oder weniger ausschließlich mit Wissenschaft und Technologie befaßt haben, auf ihre menschliche und fachliche Eignung für das bundesrepublikanische Wissenschaftssystem zu überprüfen - eine Art Neuauflage des 'Radikalenerlasses' mit anderen Mitteln. Jeder, der damit vertraut ist, wie hierzulande solche Eignungsprüfungen vor sich gehen, weiß, welch ungeheurer Berg von Arbeit und welche Verantwortung damit auf die entsprechenden Gremien aus der Bundesrepublik zukommt." Daß die bundesdeutschen wissenschaftlichen Gesellschaften der Historiker oder Erziehungswissenschaftler (die männliche Form ist hier angebracht), zweifellos in Putativnotwehr auf ihren jüngsten Zunfttreffen geschäftig das Instrumentarium der Aufnahmesperre, des Kandidatenstatus oder der verbalen Abschreckung variierten, ist ein besonders trauriges Kapitel der großen deutschen Wissenschaftsüberprüfung.

Ins Spiel gebracht werden dabei exzeptionelle Positionen wie die des Leiters der Hochschulabteilung beim BMBW Hans Rainer Friedrich: "Sofern ein Hochschullehrer die Werte des neuen Systems akzeptiere, also die soziale Marktwirtschaft (Hervorh. d. V.) und die freiheitlich demokratische Grundordnung, und sich herausstelle, daß er nicht SED-Aktivist gewesen sei, bestehe kein Anlaß, seine Anstellung in Frage zu stellen." (DUZ 19/1990, S. 4) Wenige Monate später finden solche Positionen sich etwa in der Pressemitteilung des neuen sächsischen Staatsministeriums für Wissenschaft zur Abwicklung vom 12.12.1990 wieder: die neue Wissenschaft habe "den Anforderungen" zu genügen, "die eine freiheitliche Gesellschaft, ein demokratischer Rechtsstaat und eine soziale Marktwirtschaft" stelle. Das Propagieren solcher Kriterien, deren Willkür ("Aktivisten") und Reichweite (Verpflichtung auf die "soziale Marktwirtschaft") nicht nur die forschesten bayerischen Berufsverbotspraktiken weit hinter sich läßt, sondern schlichtweg grundgesetzwidrig ist, ist mittlerweile allerdings kaum noch notwendig, da nunmehr die formellen Voraussetzungen zur Kleinarbeitung des Problems geschaffen sind.

Erster Höhepunkt administrativ-technokratischer Wissenschaftsfusion war die faktische Einführung des bundesdeutschen Hochschulrahmengesetzes - zudem in der restriktivsten Auslegung, die der Spielraum dieses Gesetzeswerkes ermöglicht - auf dem reinen Verordnungsweg durch Ex-DDR-Bildungsminister Meyer. Kein Parlament oder auch nur ein parlamentarischer Ausschuß haben diese Verordnungen vor Inkrafttreten je erörtert, geschweige denn irgendein Hochschulgremium. Die Hochschulverordnung, die knapp eine Woche vor der Ratifizierung des Einigungsvertrages vom BMBW-Staatssekretär der KMK präsentiert wurde und die nichts anderes als ein Hochschulgesetz für das DDR-Gebiet war, hatte weder der Volkskammer noch dem Bundestag vorgelegen. Vier Tage später bekamen die Chefs der Staatskanzleien ein entsprechendes Papier, weitere zwei Tage später fanden die Bundestagsabgeordneten in Bonn das MeyerMöllemann-Paket in ihrem Drucksachen-Fach. Der Bildungsausschuß des Bonner Parlaments macht sich denn auch gar nicht erst die Mühe, das mehr als 100 Seiten starke Ergänzungspapier zu beraten.

Man habe lediglich das Verfahren "zur Kenntnis" genommen, sich aber aus Zeitgründen außerstande gesehen, die Verordnungen inhaltlich zu beurteilen, erklärte die SPD-Politikerin Odendahl. Nicht einmal die minimalen Standards der Verbände-, Anhörungsund Stellungnahmendemokratie der BRD, so alibihaft wie auch immer praktiziert, fanden Anwendung. Dieser hochschulpolitische Oktroi richtet sich vor allem gegen Reformspielräume, wie sie nicht zuletzt vor zwei Jahren vor allem im Ergebnis der schon fast vergessenen Streiks der Studierenden erneut eröffnet wurden und sich u.a. in HRG-Novellierungsinitiativen zeigen. Am 18.9.1990 wurde die Vorläufige Hochschulordnung der DDR erlassen, bereits am 26.10.1990 beriet die Arbeitsgemeinschaft "Einigungsvertrag" der Ständigen Konferenz der Kultusminister darüber, wie man wesentliche Teile dieser Ordnung wieder aus der Welt schaffen könnte. Eine "Änderung der Verordnung (sei) dringend geboten", da es "die Verhältnisse in den Hochschulen der neuen Bundesländer nicht zulassen, bereits jetzt einen HRG-konformen Rechtszustand herzustellen". Um den "für strukturelle Entscheidungen notwendigen Spielraum" durch "eine nennenswerte quantitative Reduzierung" des Hochschulpersonals zu erreichen, sei "von der Abwicklungsalternative vorsorglich Gebrauch zu machen".

Denn wird eine Einrichtung nicht abgewickelt sondern erst einmal "überführt", werden Massenentlassungen erschwert: dann wird nur noch "in Einzelfällen eine Verringerung des Personalbestandes erreicht werden können, die Beweislast für alle maßgeblichen Umstände liegt allerdings beim Land.

Ob eine nennenswerte quantitative Reduzierung auf diese Weise erreicht werden kann, ist ungewiß ..." (KMK-Empfehlung 8./9.11.1990 bzw. Entwurf lt. Protokoll, vgl. TAZ v. 12.1.1991). Die Auflage u.a. des Paragr. 52 der Hochschulordnung, jeden einzelnen Fall von Kündigung zu begründen mit fehlender Qualifikation oder persönlicher Eignung, "einer grundsätzlichen Veränderung des wissenschaftlichen Inhalts des zu vertretenden Gebietes" bzw. dem Verstoß gegen die Grundsätze der Menschlichkeit oder Rechtsstaatlichkeit oder der Arbeit für das frühere Amt für Staatssicherheit und damit auch das bundesdeutsche Kündigungsschutzrecht zu berücksichtigen, kann so durch die "Abwicklung" umgangen werden.

Die zum 1.1.1991 "abgewickelten" MitarbeiterInnen gehen in ein bis zum 30.6.1991 ruhendes Arbeitsverhältnis ("Warteschleife") und dann unmittelbar ohne Kündigungsschutz (z.B. für schwangere, ältere oder behinderte WissenschaftlerInnen) in die Arbeitslosigkeit über. Nach dem Einigungsvertrag ist allerdings auch die "Abwicklung" nur möglich, wenn die Aufgaben der entsprechenden Institution wegfallen. Als im Dezember 1990 deutlich wurde, daß sich die neuen Landesregierungen dazu entschlossen hatten, "das gesamte von der DDR übernommene Universitätssystem wegzuwerfen und statt dessen ein neues aufzubauen" (SZ v. 28.12.1990), wurde freilich sogar diese Festlegung des Einigungsvertrages über Bord geworfen: in einer Reihe von Fällen wurden Institute und Fachbereiche "abgewickelt", das Personal entlassen, die Wissenschaftsbereiche selbst jedoch beibehalten. Dem entlassenen Lehrpersonal wurden Zeitverträge angeboten, um übergangsweise die Fortsetzung der Lehre zu sichern. Das ganze Verfahren widerspricht der Rechtsschutzgarantie des Artikel 19 Abs. 4 GG. Kurz vor Jahresende 1990 ging die g r o ß e d e u ts c h e W i s s e n s c h a f t s s ä u b e r u n g dann so richtig los: eine d r e i s t e l l i g e Zahl von Bildungsund Wissenschaftseinrichtungen, Hochschulen, Fakultäten und Instituten wurde per Abwicklung geschlossen, davon etwa nur in Sachsen über 40 "unbeschadet erfolgter nichtgenehmigter Umbenennungen und Strukturänderungen" (so der sächsische Staatsminister am 12.12.1990).

Beseitigt wurden im Kern die sozial-, wirtschafts-, rechts- und geisteswissenschaftlichen Fachbereiche bzw. Institute - vor jeder Evaluation. Die Entlassungen summieren sich auf eine f ü n f s t e l l i g e Ziffer; allein in Leipzig wurden 800 und an der Humboldt-Universität 600 WissenschaftlerInnen (darunter 86 Mitglieder des 500köpfigen Konzils und 2 Mitglieder des Akademischen Senats) entlassen. Wie immer kaum bemerkt, trifft es am brutalsten den wissenschaftlichen Mittelbau. Gefragt wurde eigentlich niemand: Der Präsident der Humboldt-Universität erfuhr "den tatsächlichen Inhalt" der Teilabwicklung seiner Universität "erstmals in einer Pressekonferenz nach der Entscheidung". Die Klage der Humboldt-Universität vom 29.12.1990 gegen das Land Berlin vermerkt: "In keinem Augenblick des Verfahrens bestand ein Interesse der zuständigen Senatsverwaltung, die Meinung der Universität auch nur zu hören, geschweige denn bei ihren Entscheidungsprozessen zu berücksichtigen." Wer nicht entlassen wurde, wird durch eine Kommission ü b e r p r ü f t, sondern vielleicht ü b e r g e l e i t e t, schließlich nach erneuter Begutachtung womöglich ü b e r n o m m e n. Im Kern geht es um eine flächendeckende Überprüfung und Neuberufung. Bei der Überprüfung ist, so D. Simon Mitte Oktober 1990 beim Stifterverband für die die Deutsche Wissenschaft, "zwischen politischer Belastung und fachlicher Mangelqualität zu differenzieren. Beides fällt manchmal, aber längst nicht immer zusammen.

Die politische Belastung muß durch Personalausschüsse der künftig zuständigen Ministerien geprüft und politisch entschieden werden. Diese Ausschüsse können sich auch gegebenenfalls dazu äußern, ob trotz politischer Belastung ein exzellenter Fachmann angestellt werden soll oder nicht... Die fachliche Qualität jedes Einzelnen kann schon mangels verfügbarer Begutachtungsressouroen nicht diskutiert werden... In anderen Bereichen müssen... zusätzliche, gut ausgestattete Stellen ausgebracht werden, auf die sich alte (Hausberufungen) und neue Lehrkräfte bewerben können. Auf diese Weise wird eine Purgierung möglich."

Als erstes Kultusministerium kündigte schon Ende November 1990 das Kultusministerium von Mecklenburg-Vorpommern eine Totalüberprüfung aller Lehrkräfte der Hochschulen des Bundeslandes an. Ziemlich komisch ist, wie handlich die Überleitungskommissionen ihre Bewertungskriterien zuschneiden: "Bei den Prüfungen werde die Bewertung der fachlichen gegenüber der politischen Eignung mit 70:30% überwiegen." (FAZ, 30.11.1990) Ernennungen zu Beamten erfolgen nur auf Probe auf drei Jahre, in Ausnahmefällen auf zwei Jahre. Die Probezeit dient der Bewährung, nach Ablauf der Probezeit entscheidet die oberste Dienstbehörde des Bundeslands über die Ernennung zum Beamten auf Lebenszeit. Dieses stufenweise beamtenrechtliche Verfahren gewährleistet wissenschaftliche und politische Selektion im Laufe der gegenwärtigen Legislaturperiode. Hochschulstrukturkommissionen auf Länderebene und Überleitungskommissionen an den Hochschulen sollen diesen Prozeß steuern, in dem - soweit bereits ersichtlich - Angehörige des universitären Mittelbaus, Studierende und Frauen nicht vorkommen bzw. kaum eine Rolle spielen. Die notwendige Erneuerung der Hochschullandschaft soll nicht durch d e m o k r a t is c h e Veränderung des HRG, sondern z e n t r a l is t i s c h geschehen.

Während z.B. der ehemalige Minister für Bildung und Wissenschaft der DDR, Hans Joachim Meyer, Mitte Oktober 1990 den Grad der Detailliertheit der Regelungen des HRG kritisierte und ein "höheres Maß an Gestaltungsmöglichkeiten" einforderte, plädierte der Wissenschaftsrat am 6.11.1990 in seinen "Empfehlungen zur Bildung von Hochschulstrukturkommissionen und zur Berufungspolitik an den Hochschulen in den neuen Ländern und in Berlin" konsequent für die Beseitigung der mit dem HRG eben eingeführten Möglichkeit einer begrenzten Einflußnahme der Hochschule auf ihre Personalrekrutierung. Die Empfehlungen votieren für den Oktroi: "In einer Übergangszeit sollen grundsätzlich alle Berufungskommissionen vom zuständigen Landesminister im Benehmen mit der Hochschulstrukturkommission eingesetzt werden." In der Regel solle das Hausberufungsverbot gelten. Da die derzeitige Rechtslage (Verordnung über Hochschulen, insbes. 2. Abschnitt, Paragr. 06, Abs. 4) derlei Oktroi nicht zuläßt, empfiehlt der Wissenschaftsrat eine Novellierung der eben verabschiedeten Hochschulverordnung. Der undemokratischzentralistischen Option assistierte die Kultusministerkonferenz: über "die nach dem HRG vorgesehenen Aufsichtsmöglichkeiten hinaus" seien "die Initiativ- und Einwirkungsrechte der zuständigen Landesminister zu erweitern" (KMK-Papier).

In den zufriedenen Worten des Herrn Professors Hartmut Schiedermair, der als Präsident des Deutschen Hochschulverbandes in Rostock jüngst über die "Erneuerung des Geistes als Fundament des geeinten Deutschlands" ausholte: "Diese Seilschaften nützen nicht viel, weil sie ... ob kurz oder lang, nämlich bei der Frage der Übernahme in das Beamtenverhältnis auf Lebenszeit, aufgedeckt werden." (MittHV, 5/1990, S. 259) Zur Gewinnung von Ersatzpersonal werden Stipendienprogramme aufgelegt, Westberufungen ausgesprochen und externe Berufskommissionen zur "Durchmischung" des Personals eingesetzt. Angesichts der Ergebnisse der Landtagswahlen in den neuen Bundesländern wird es in den nächsten Monaten darum gehen, die angestrebte Verengung von Entwicklungsoptionen und damit die vollständige, administrative Durchsetzung eines s c h w a r z e n P l u r a l i s m u s in der Hochschullandschaft zu verhindern. Statt dessen geht es um die Herstellung einer wissenschaftlichen und politischen P l u r a l i t ä t, um regionale V i e lf a l t und a u t o n o m e Entwicklungsmöglichkeiten. Das schließt die Aufarbeitung der kollektiven und individuellen Vergangenheit ein. Der an der Humboldt-Universität ausgearbeitete Modus ("Ehrenausschuß") ist dafür eine gute Grundlage. Verhindert werden muß, daß freiwerdende Stellen in größerem Umfang mit "Nachwuchskräften" oder Wissenschaftspensionären aus den westlichen Bundesländern besetzt werden.

Andererseits kann nur die rasche Installierung eines selbstkritikfähigen Wissenschaftssystems von unten einen dauerhaften Verbleib wissenschaftlich nicht qualifizierter Personengruppen an den Hochschulen verhindern.

13. Die Industrieforschung

In der I n d u s t r i e - die mit 86 000 Personen nach dem Maßstab der alten BRD um rund 10 000 Beschäftigte "überbesetzt" ist - geschieht der Beschäftigungsabbau zwar rascher als in anderen Bereichen der Wissenschaft bzw. Industrie. Der einst erwartete drastische und schnelle Kahlschlag in der Industrieforschung ist jedoch noch nicht eingetreten - einfach deshalb, weil die Betriebe versuchen, über die Kurzarbeiterregelung ("Null-Kurzarbeit") die FuE-Beschäftigten zu halten. Wie nach dem Auslaufen der Kurzarbeiterregelung nach dem 31.7.1991 nennenswerte Teile der Industrieforschung gerettet werden sollen, ist offen. Mitte Oktober 1990 hatte allein SEL 600 im FuE-Bereich beschäftigte Personen übernommen (RFT-SEL). Eine im Auftrag des BMFT u.a. von Prognos und der HfÖ durchgeführte Studie zur Industrieforschung geht davon aus, daß das industrielle Forschungspotential von gegenwärtig bestenfalls 74 000 Ende 1991 a u f d i e H ä l f t e r e d u z i e r t sein wird. Kommunale und mittelständische Betriebe, die in den nächsten Jahren naheliegender Fluchtpunkt der FuE-Gruppen sein könnten, existieren kaum und werden durch die Politik der Bundesregierung völlig unzureichend gefördert. Die früheren Wissenschaftsmärkte in den östlichen Ländern sind zusammengebrochen. Viele Betriebe werden nach dem Auseinanderreißen ihrer Forschungslabors tatsächlich nur verlängerte Werkbank alter BRD-Konzerne werden oder überhaupt keine Perspektive mehr haben, da das dort angesiedelte Potential häufig die einzige Chance für die Sicherung der übrigen Arbeitsplätze ist.

14. Finanzierung: open end

Vor jeder demokratischen Diskussion und kompetenten Beurteilung der vorhandenen wissenschaftlichen Einrichtungen und ihrer Arbeit bzw. einer Bemessung des zukünftigen Wissenschaftsbedarfs hat die konservative Restauration zu Entlassungen, Stellenstreichungen und Institutsschließungen geführt, wofür der Skandal um das Zentralinstitut für Jugendforschung nur ein Beispiel ist. Dabei wird mit f i n a n z i e l l e r Not argumentiert.

In der Tat ist bislang völlig unklar, woher die geschätzten mehreren Milliarden DM Zusatzkosten für den Bildungs- und Wissenschaftsbereich der ehemaligen DDR kommen sollen. Diese Unklarheit ist nicht völlig unbeabsichtigt - sie ermöglicht wissenschaftspolitische Weichenstellungen. Auf dem Villa-Hügel-Gespräch 1990 mußte der SEL-Vorstandsvorsitzende Gerhard Zeidler konzedieren, daß zumindest mittelfristig "eine atypisch hohe Grundfinanzierung seitens der staatlichen Stellen für die gesamte außerindustrielle Forschung erforderlich sein wird". Die Länder werden nur mit starken Kreditaufnahmen neben den Zuweisungen aus dem Fonds Deutscher Einheit und Finanzierungen durch den Bund die geringen investiven Ausgaben tätigen können, die sie für den Wissenschafts- und Hochschulbereich ausgeben werden. Die prominent repräsentierten Zusatzausgaben etwa der FhG, der MPG oder der DFG für ihre Ostwissenschaftspolitik verschleiern kaum, daß bereits 1991 diese Aufwendungen nur durch Personalabbau und Kürzungen der Forschungsmittel in Wissenschaftseinrichtungen der alten BRD erbracht werden können. Der Staat muß angesichts der schlechten Finanzlage der Länder, der Wirtschaftskrise und der weitgehend ausbleibenden Aktivitäten der Industrie "auf Zeit eine Pionierrolle übernehmen" (Catenhusen, 18.10.1990).

15. Optionen der Wissenschaftspolitik

Die schiere Fortschreibung der reformbedürftigen bundesdeutschen Wissenschaftsstruktur wird gegenwärtig als Rezeptur für wissenschaftliche Z u k u n f t s f ä h i g k e i t inszeniert. Diese eindimensionale und alternativlose Zementierung der Alt-BRD-Wissenschaftsentwicklung als Königsweg unterschlägt deren immer prominentere Rolle als risikoverursachende und legitimierende Instanz, die immer unbedenklicher nach der Pfeife der wirtschaftlich Herrschenden tanzt - ihr Kapitalbias ist schon lange notorisch. Wie schroff und scharf sich diese Ordnung gegenüber wissenschaftlichen und politischen Minoritäten abschottet, wie dürftig ihre Fähigkeit ist, Fragestellungen, Projekte, Organisationsformen und gesellschaftliche Transferbeziehungen entwickeln zu können, die sich produktiv und angemessen auf die existentiellen gesellschaftlichen Probleme und globalen Gefährdungspotentiale beziehen, wie sehr sie sich auf dem Weg in ein blindes Dienstleistungsunternehmen befindet - das alles spielt keine Rolle im Anschlußdiskurs.

Bei der neuerlichen Zurichtung der Wissenschaft gilt sie nicht als Organ gesellschaftlicher Intelligenz und soziokultureller Innovation, sondern als Machtressource, als Forschungskapital und als Vehikel wissenschaftskultureller Hegemoniebildung - zweifellos keine günstigen Voraussetzungen für die Überwindung der verbreiteten Intelligenz- und Wissenschaftsfeindlichkeit. Neue, kritische Wissenschaftsprojekte, die oft in enger thematischer und politischer Kooperation mit vergleichbaren Ansätzen in der alten BRD noch in der DDR schon vor 1989 in nuce aufgebaut wurden (z.B. Friedensforschung, Frauenforschung, kritische Soziologie und Politikwissenschaft, sozialorientierte Informatik), überleben die gegenwärtige "Erneuerung" nicht.

Dagegen wäre in der Ex-DDR spezielles Modernisierungs- und Orientierungswissen notwendig; F ö d e r a l i s i e r u n g und D e z e n t r a l i s i e r u n g statt vom westlichen Wissenschaftszentrum abhängige Entwicklung wären notwendig. Informations- und Kommunikationssysteme müssen vorrangig gefördert werden und die dazugehörige Ausbildung. Das gilt natürlich für die gesamte Forschungstechnik, Geräteausstattung und Infrastruktur die Verbesserung der m a t e r i e l l e n Bedingungen wissenschaftlicher Arbeit ist dringend notwendig. Es gibt in der Ex-DDR s p e z i f i s c h e B e d a r f e, die eine simple Extension der Programme/Prioritäten verbieten: z.B. die Ausdehnung der Weltraumforschung, Militärforschung oder Luftfahrtforschung. Es wäre Unsinn, wenn dem katastrophalen Mythos "I-Megabit-Chip" die noch weit folgenreicheren Mythen "Columbus", "Sänger" und "Hermes" der bemannten Raumfahrt folgten.

Das N o r d S ü d - G e f ä l l e müßte abgebaut, nicht befestigt werden. Es geht darum, in den einzelnen Ländern und Regionen sowie Universitäten s o z i a l s t a a t l i c h - ö k o l o g is c h e, d e m o k r a t i s c h e E n t w i c k l u n g su n d S t r u k t u r v a r i a n t e n durchzusetzen. Durch ökonomische, soziale und politische Koppelungen an solche Bedarfe kann ein Wiederaufbau der ökonomisch wie politisch diskreditierten Wissenschaft l e g i t i m i e r t werden. Gesellschaftliche Basisinteressen an der Wissenschaft kulminieren in den Themen G e s u n d h e i t, A r b e i t und U m w e l t, deren Reflektion über den Markt allerdings zunächst nur nachsorgend aus dem jeweiligen Gegenteil - Krankheit, Rationalisierung und Freisetzung, Umweltzerstörung - erfolgt. Der Übergang von der n a c h s o r g e n d e n zur v o r s o r g e n d e n Forschungs- und Technologiepolitik ist daher eine entscheidende Zielsetzung. Da - zumal unter den aktuellen Bedingungen - hierbei der öffentlichen Hand eine substantielle Rolle zukommt, ist die breite Praktizierung traditioneller und neu entstandener Verfahren demokratischer Willensbildung auf diesem Politikfeld essentiell, soll es nicht zu einer Neuauflage bürokratisch-zentralistischer Forschungssteuerung kommen.

16. Demokratische Hochschulpolitik

Zugunsten auch in der Ex-BRD gültiger demokratischer Minimalstandards muß mit der bisherigen administrativen Verordnungspolitik Schluß gemacht werden, zumal der rigorose Stil der neuen Wissenschaftspolitik auch mit dem aufzuräumen droht, was an demokratischen Verfahren, politischer Kultur, Balance und wenigstens semiautonomer Handlungschance seit 1968 in der Wissenschaft der alten Bundesrepublik durchgesetzt werden konnte. Den WissenschaftlerInnen in den neuen Bundesländern, den Hochschulen dort, muß noch vor dem Auslaufen der Hochschulerlasse spätestens bis zum 30.6.1991 ein Spielraum geschaffen werden, um autonom ihre Geschichtsaufarbeitung mit der Wahrnehmung ihrer gesellschaftlichen Verantwortung in der Entwicklung neuer Zielsetzungen zu verbinden. Alle weiteren Entscheidungen über materielle Grundausstattung, Personalbestand und zukünftige Eingliederung ganzer Wissenschaftszweige müssen im Zusammenhang mit genauen Wissenschaftsbedarfsfeststellungen und Strukturentwicklungskonzepten öffentlich begründet und diskutierbar gemacht werden. Dies muß sich insbesondere in der breiten Erörterung der neu zu schaffenden Länder-Hochschulgesetze durch alle Betroffenen, insbesondere die Hochschulen selbst, niederschlagen. Ein solcher Prozeß hätte nur dann Chancen, wenn er von einer gesamtdeutschen Debatte zur Novellierung des HRG ergänzt wird. Das kann kein legalistisches Feilschen um Paragraphen und Absätze sein.

Im Kern geht es vielmehr um die überfällige konzeptionelle Neubestimmung der Aufgabenkataloge und Funktionen von Wissenschaft und Hochschule in Deutschland, die an einem demokratischen, sozialstaatlich-ökologischen Paradigma gemessen werden müssen. Rahmenbedingungen dafür sind - Erweiterung demokratischer Entscheidungsfindung durch Aufwertung nicht-professoraler Statusgruppen in der Selbstverwaltung bis hin zur Viertelparität (ggfs. in Vorschaltkommissionen) - größerer institutionalisierter Einfluß nicht-privilegierter gesellschaftlicher Interessen und ihrer Träger auf die Profilentwicklung der Hochschulen und Forschungseinrichtungen über Kuratorien, Beiräte, genossenschaftlich verwaltete Drittmittel in Verbindung mit alternativer Forschungsförderung und Projektorientierung - größere Befugnisse (Vetorecht und Gestaltungsmacht) der Frauenbeauftragten bei verbindlichen Quotierungsregeln für Stellenbesetzungen und wissenschaftliche Nachwuchsförderung - Reduzierung der staatlichen Regelungsdichte bei größerer Autonomie der Hochschulen in Haushaltsfragen (Globalhaushalt) oder in Studien- und Prüfungsangelegenheiten (dabei gilt es insbesondere für die neuen Bundesländer einphasige Ausbildungsgänge etwa von LehrerInnen und JuristInnen zu erhalten) und bei der Personalrekrutierung, was die entschiedene Ablehnung des in den Empfehlungen des Wissenschaftsrats zur zukünftigen Berufungspolitik ausgesprochenen neuen Staatsoktroi einschließt. - Relativierung beamtenrechtlicher Regelungen bei Ausdehnung der Arbeitsplatzsicherung.

Diese und andere Reformperspektiven waren bereits in der Neufassung des Berliner Hochschulgesetzes in der Diskussion. Sie sind von dort aus in Überlegungen zur Novellierung des HRG eingeflossen. Selbst ungünstigere politische Kräfteverhältnisse nach den Landtagswahlen am 14.10.1990 sollten derartige Projekte nicht wieder in die Schubladen verbannen. Wichtig ist, die für demokratische Experimente und Entscheidungen offene Berliner Hochschullandschaft mit den entwickeltsten partizipatorischen Strukturen, eingeschlossen die Humboldt-Universität mit ihrer vom "Runden Tisch" ausgearbeiteten herausragenden Grundordnung, zu erhalten und schließlich daran anknüpfend von allen nicht-konservativ regierten Ländern aus konkrete HRG-Novellierungsinitiativen voranzutreiben.

Literaturverweise
BMFT: Perspektiven der Forschung und Entwicklung im geeinten Deutschland. - 8-Punkte-Programm für die neuen Bundesländer, 11.10.1990, Bonn. Wissenschaftsrat: Perspektiven für Wissenschaft und Forschung auf dem Weg zur deutschen Einheit. Zwölf Empfehlungen, Köln 1990. Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft: Wege zu einer deutschen Wissenschaftslandschaft - Konzepte und Perspektiven. VillaHügel-Gespräch 1990. Wolf-Michael Catenhusen: Hintergrundpapier "Gesamtdeutsche Forschungspolitik". Wissenschaftspressekonferenz v. 18.10.1990, Bonn. Eckart Förtsch: Auf dem Weg zur Wissenschaftsunion, in: "Deutschland-Archiv", 11/1990, S. 1100-1116. Rudolf Horst Brocke: Rückblick auf das FuE-Potential der DDR, seine Probleme und Perspektiven im Vereinigungsprozeß, in: "IGWReport", 3/1990, S. 29-48. Dorothee Hackenberg: Da waren's nur noch... Die Austreibung der Geistes- und Gesellschaftswissenschaftler an der Humboldt-Universität,in: "TAZ", 13.9.1990. Wolf Lepenies: Wir sind kein besiegtes Land, in: "Die Zeit", 23.11.1990. Y. Michael Bodemann : Wider die akademische Amtsstubenhaftigkeit, in: "Frankfurter Rundschau", 1.11.1990. Nico Stehr: Die Verdoppelung der Misere, in: "Die Zeit", 23.11.1990. "Im Mittelmaß Weltspitze", in: "Der Spiegel", 30/1990, S. 136-141 und dazu Fritz Klein: An die Redaktion "Der Spiegel", in: "akademie intern", 2/1990, S. 1 f. Max Schubert: Mit neuen Besen wider den roten Beelzebub. Die Sanierung der Geisteswissenschaften an der Karl-Marx-Universität Leipzig gleicht einem Kahlschlag, in: "Neues Deutschland", 23.11.1990. Fred David: Von Wendehälsen und fliegenden Professoren, in: "Süddeutsche Zeitung", 20./21.10.1990.

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