Ausgabe Mai 1992

Die baldige Angleichung der Lebensverhältnisse ist weder erreichbar noch sinnvoll

Rede des sächsischen Ministerpräsidenten Kurt Biedenkopf auf dem Forum Deutschland in Berlin am 18. März 1992 (Auszüge)

(...) Die von uns selbst vorangetriebene europäische Entwicklung bringt nicht nur Europa der Einheit näher, ohne die es seiner neuen Verantwortung nicht entsprechen kann. Sie verändert auch die Strukturen im inneren unserer Republik, Europäische Währung bedeutet für unsere Bürger vor allem die Europäisierung ihrer Währung. Für viele ist dies gleichbedeutend mit der Europäisierung eines tragenden Elements westdeutschen - inzwischen zunehmend gesamtdeutschen Selbstverständnisses. Selbst wenn damit keine wirklichen Identitätsverluste verbunden sind: mit dem Stolz über die wirtschaftliche Stärke und die Stabilität unserer Ordnung paart sich auch hier die Sorge vor dem Unbekannten. In der politischen Ordnung geht es um die Frage nach der Zukunft des Bundesstaates: wie werden zwischen Bund und Ländern die Kosten der Einheit und die Souveränitätsverluste verteilt, die mit der Politischen Union Europas verbunden sind?

Die Länder sind entschlossen, ihren Bestand und ihre Selbständigkeit auch im geeinten Europa zu sichern - und wie ich meine zu Recht. Sie machen ihre Zustimmung zu den Verträgen von Maastricht deshalb von einer entsprechenden Änderung der Verfassung abhängig. Diese wird weit mehr erfassen als nur die Beteiligung der Länder an Entscheidungen, die ihre Souveränität berühren. Sieht man diese Veränderungen zusammen mit jenen, die sich aus den Folgen der inneren Einheit selbst ergeben - wie die Neuordnung der Finanzverfassung -, so erledigt sich der Streit von 1990 um den Umfang einer Verfassungsreform aus Anlaß des Einigungsprozesses von selbst. Unsere gelebte Verfassung wird sich nachhaltig verändern. Die Republik Deutschland, die aus der Integration beider Teile Deutschlands entsteht, wird etwas anderes sein als eine vergrößerte alte Bundesrepublik. (...)

Der Lebensstandard Westdeutschlands ist ein unerreichbares Ziel

Zu den Voraussetzungen eines erfolgreichen Einigungsprozesses gehört, daß es gelingt, einen Konsens über die Ziele herzustellen, die wir gemeinsam verfolgen wollen. Nur wenn die Ziele gesellschaftlicher Anstrengung jedenfalls grundsätzlich geteilt werden, ist eine vor allem auf Zusammenarbeit beruhende Organisation der Gesellschaft möglich. Bisher wurde als selbstverständlich angenommen, daß die Ostdeutschen die politischen und gesellschaftlichen Zielvorstellungen der Westdeutschen uneingeschränkt teilen.

Obwohl es nicht an Indizien dafür fehlt, daß von einem weitgehenden Zielkonsens nicht ohne weiteres ausgegangen werden kann, wird er von der praktischen Politik unterstellt. Dies gilt insbesondere für die Ziele Wachstum Wohlstandsmehrung, soziale Sicherheit und Leistungsgesellschaft. Ebenso selbstverständlich wird angenommen, daß die ostdeutsche Bevölkerung entschlossen ist, den westdeutschen Lebensstandard möglichst bald zu erreichen, durch den in Westdeutschland Lebensqualität definiert wird. Man geht, mit anderen Worten, davon aus, daß die Ostdeutschen die Ziele westdeutscher Politik nicht nur übernehmen, sondern in einer beispiellosen "Aufholjagd" darüber hinaus den westdeutschen Lebensstandard möglichst schnell einholen wollen. Daß auch Ostdeutschland wieder ein blühendes Land werden möge: diese politische Zielvorgabe wird eindeutig dahin verstanden, daß es möglichst bald den westdeutschen Lebensstandard erreicht haben möge. Politische Zielvorgaben sind nur sinnvoll, wenn sie realistisch sind. Unerreichbare Ziele sind keine realistischen Ziele. Ist das Ziel, möglichst bald den Lebensstandard Westdeutschlands zu erreichen, ein realistisches Ziel? Zweifel sind angebracht. (...)

Diese "Aufholjagd", zu der Ostdeutschland ermutigt wird, ist jedoch in den bisher diskutierten zeitlichen Dimensionen kaum aussichtsreich. Unterstellt, in den 90er Jahren liegt das reale ProKopf-Wachstum in Westdeutschland nur bei durchschnittlich 1,5% jährlich, dann müßte das Pro-Kopf-Wachstum in Ostdeutschland jährlich 16% betragen, wenn das ostdeutsche Bruttosozialprodukt das westdeutsche bis zum Jahre 2000 erreichen soll. Ein solches Wachstumstempo ist völlig unwahrscheinlich. (... )

Soll die Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost- und Westdeutschland nicht innerhalb einer, sondern innerhalb zweier Dekaden erreicht werden, müßte sich bis zum Jahre 2010 das Pro- KopfBSP in Ostdeutschland mehr als vervierfachen oder jährlich um reichlich 8% zunehmen. Es ist offensichtlich, daß sich Wachstumsraten von jährlich 8% über einen Zeitraum von neunzehn Jahren kaum aufrecht erhalten lassen. (...)

Die Modellrechnungen zeigen, daß eine baldige Angleichung der ökonomisch definierten Lebensverhältnisse in Ost- und Westdeutschland objektiv nicht erreichbar ist. Der Versuch wäre aber auch nicht sinnvoll. Es ist völlig unbekannt, wie eine Bevölkerung reagiert, die innerhalb von knapp einer Dekade eine wirtschaftliche Entwicklung durchlaufen soll, für die der westliche Teil Deutschlands 30 bis 40 Jahre Zeit hatte. Sicher ist, daß eine derartige wirtschaftliche Anstrengung tiefgreifende Veränderungen aller Lebensbereiche erfordert und bewirkt. Eine Gesellschaft, die gezwungen ist, sich wirtschaftlich derartig dynamisch zu entwickeln, verliert in gewisser Weise ihre bisherige Identität. Selbst wenn es möglich wäre, über einen längeren Zeitraum einen derartig hohen Zuwachs des BSP zu erwirtschaften, müßte dies mit einer Konzentration aller politischen und gesellschaftlichen Kräfte auf dieses Ziel erkauft werden. Für andere wesentliche gesellschaftliche Aufgaben, für Kultur und Kunst, allgemeiner: für die "immateriellen Werte" des Lebens bleiben kaum Ressourcen und Energien übrig. Dies würde nicht nur eine Verarmung des politischen und gesellschaftlichen Lebens bedeuten. Die einseitige Konzentration auf im wesentlichen ökonomisch definierte Ziele beeinträchtigt auch die Fähigkeit der Gesellschaft, den einmal erreichten wirtschaftlichen Standard zu sichern.

Denn diese Fähigkeit beruht zu einem wesentlichen Teil auf den immateriellen Grundlagen, die durch eine einseitige Konzentration auf das ökonomische Ziel vernachlässigt würden. Viele Menschen in Ostdeutschland spüren diese Gefahr. Das erklärt, warum sie zunehmend einen Widerspruch empfinden, den sie nicht auflösen können: den Widerspruch zwischen ihrem Wunsch, wie im Westen zu leben, und dem Wunsch, ihre Identität zu bewahren. Nicht ohne Grund stellt sich ihnen deshalb die Frage nach dem eigentlichen Sinn ihrer Anstrengungen, Entbehrungen und Opfer.

Ostdeutschland muß neue Wege gehen

Was heißt dies für unsere politischen Zielbestimmungen? Zum ersten müssen wir die Bedeutung des Zieles relativieren, den Westen schnell wirtschaftlich einzuholen. Die Zeiträume, in denen dies möglich ist, müssen realistischer definiert werden. Zum zweiten müssen wir Vorstellungen davon entwickeln, wie ein anderer "Mix" von ökonomischen und nichtökonomischen Zielvorgaben für Politik und Gesellschaft aussehen kann. Dazu gehört, daß die Förderung des wirtschaftlichen Aufschwungs im Osten nicht nur kraftvoll, sondern zugleich sensibel und zukunftsorientiert erfolgt. Im Osten Deutschlands sollten tragfähige Strukturen erhalten und nach Möglichkeit ausgebaut werden. Beispiele sind gewachsene Städte, Verkehrssysteme, namentlich Nahverkehrssysteme; vor allem aber familiäre und nachbarschaftliche, also kleine Lebenskreise, die Bereiche personaler Solidarität. Wir dürfen sie nicht einer überhasteten wirtschaftlichen Entwicklung opfern. Soziale Marktwirtschaft kann auch in diesem Sinne verstanden werden. (...)

Wenn jedoch das umfassende Sozialsystem zur Vereinheitlichung zwingt, dann ist es angesichts seiner Bedeutung für die große Mehrheit der Bürger - kaum möglich, im übrigen regional stark unterschiedliche Lebensstile und -entwürfe zu verwirklichen. Eine von Westdeutschland jedenfalls vorübergehend abweichende Zielvorgabe läßt sich deshalb nur entwickeln und politisch umsetzen, wenn alle wesentlichen gesellschaftlichen Strukturen regionalisiert werden. Da wir in Ostdeutschland aus den genannten Gründen andere politische Zielvorgaben entwickeln müssen, um unser politisches und gesellschaftliches Handeln an realistischen Zielen ausrichten zu können, und dies wiederum nur möglich ist, wenn die von den bestehenden sozialen Strukturen ausgehenden Vereinheitlichungszwänge verringert werden, ist die dafür notwendige Regionalisierung eine Bedingung des deutschen Einigungsprozesses. Kommt es zu Zielbestimmungen, die von den westlichen - jedenfalls auf Zeit - abweichen, so hat dies Folgen für die Brauchbarkeit westlicher Erfahrungen im östlichen Aufbauprozeß. Sie sind nur bedingt auf die Verhältnisse im Osten übertragbar. (...)

Weil westdeutsche Erfahrungen und Methoden nur begrenzt übertragbar sind, ist es notwendig, Alternativen zu entwickeln, die den besonderen Bedingungen der neuen Bundesländer besser entsprechen. Dazu ist man nur in der Lage, wenn man sich von bisher gewohnten Verfahrensweisen lösen und sich für neue Wege offenhalten kann. (...)

Zum einen muß sich die ostdeutsche Wirtschaft von einer Beschäftigungswirtschaft zu einer Leistungswirtschaft wandeln. Dies ist mit einem dramatischen Abbau der Beschäftigungsquote verbunden. In der DDR waren gut 90% der erwerbsfähigen Bevölkerung beschäftigt. In der westdeutschen Wirtschaft beträgt die Beschäftigungsquote einschließlich der Arbeitslosen weniger als 780%. In der DDR waren 89% der erwerbsfähigen Frauen beschäftigt; in der westdeutschen Wirtschaft sind es 55%. Mit dem Wandel von der Beschäftigungs- zur Leistungswirtschaft wird auch die Erwerbsquote in den ostdeutschen Bundesländern sinken. Von den rund zehn Millionen erwerbsfähigen Bürgerinnen und Bürgern werden nach Beendigung der Umstrukturierung etwa noch 6,5 Millionen in Beschäftigungsverhältnissen arbeiten. Die damit verbundenen Veränderungen gehen weit über den Arbeitsmarkt hinaus.

Sie erfassen die gesamte Sozialstruktur der Gesellschaft, Arbeitslosigkeit West ist deshalb mit Arbeitslosigkeit Ost nicht vergleichbar. Neue Arbeitsplätze müssen wettbewerbsfähige Arbeitsplätze sein. Ihre Einrichtung oder Erneuerung erfordert umfangreiche Investitionen. Bei unseren mittelfristigen Überlegungen gehen wir davon aus, daß in den ostdeutschen Bundesländern etwa 2,5 Millionen Arbeitsplätze geschaffen und etwa 4 bis 4,5 Millionen Arbeitsplätze saniert oder erneuert werden müssen. Rechnet man für den neuen Arbeitsplatz eine durchschnittliche Kapitalausstattung von rund 200 000 Mark und für die Modernisierung bestehender Arbeitsplätze eine durchschnittliche Investition von rund 100 000 Mark, so ergibt dies eine Gesamtinvestition von 900 bis 950 Milliarden Mark. Der Investitionsaufwand in der westdeutschen Wirtschaft betrug im Jahre 1991 pro Beschäftigten rund 20 000 Mark, die Investitionsquote etwa 23%, das Investitionsvolumen rund 600 Milliarden. Überträgt man die Investition pro Beschäftigten auf die ostdeutschen Bundesländer, so müßten im Jahr rund 130 Milliarden Mark investiert werden.

Tatsächlich rechnet man im Jahre 1992 mit einem Investitionsvolumen von insgesamt rund 80 Milliarden Mark. Alle Erfahrungen sprechen dafür, daß sich die Investitionsquote einer Volkswirtschaft nicht beliebig steigern läßt. Geht man davon aus, daß die ostdeutsche Volkswirtschaft allenfalls eine Investitionsquote von 30% verkraften kann, dann lassen sich die insgesamt notwendigen Investitionen nicht unter fünfzehn bis zwanzig Jahren durchführen. (...)

Größere Ungleichheiten in der föderalen Struktur sind unvermeidbar

In jedem Fall sollten wir uns jedoch auf eine längere finanzielle Unterstützung der ostdeutschen Bundesländer einrichten. Dies hat erhebliche Konsequenzen für die Neuordnung des horizontalen Finanzausgleichs. Diese Neuordnung ist notwendig, weil die neuen Bundesländer 1992 nicht in den gegenwärtigen horizontalen Finanzausgleich einbezogen werden können - wie der Einigungsvertrag dies vorsieht -, ohne daß dies eine Verfassungskrise auslöst. Selbst wenn man bereit wäre, die Haushalte der neuen Bundesländer real nicht wesentlich über das Niveau von 1991 ansteigen zu lassen, was bereits angesichts der in Aussicht genommenen Anhebung der Gehälter im öffentlichen Dienst auf westliches Niveau bis Ende 1994 mit erheblichen Schwierigkeiten verbunden wäre, müßten im Rahmen des horizontalen Finanzausgleichs 1995 an die ostdeutschen Bundesländer rund 26 Milliarden Mark gezahlt werden. Allein auf ein Land wie NRW würden davon etwa sieben Milliarden Mark oder rund 10% seines heutigen Landeshaushaltes entfallen. Die Länder werden sich außerstande sehen, aus ihren ohnehin angespannten Haushalten derartige Beträge zur Verfügung zu stellen. Hinzu kommt, daß alle westdeutschen Länder zahlende Länder würden, also auch diejenigen, die heute Empfängerländer sind. (...)

Will man nicht den Bund für die zusätzlichen Leistungen in Anspruch nehmen und damit zugleich seine Stellung im föderalen System wesentlich stärken, dann muß ein Weg gefunden werden, wie sich ein Finanzausgleich durchführen läßt, der die Altbundesländer nicht überfordert. Ein solcher Weg kann nur gefunden werden, wenn wir bereit sind, mehr Ungleichheit unter den Ländern zu akzeptieren. Nicht gleiche Lebensbedingungen zu sichern, kann dann das verfassungsrechtlich vorgegebene Ziel sein, sondern die Gewährleistung vergleichbarer Lebensverhältnisse. Was vergleichbar ist, muß entsprechend der akzeptierten größeren Ungleichheit bestimmt werden. Größere Ungleichheiten innerhalb der föderalen Struktur wiederum sind politisch nur akzeptabel, wenn die Einheiten, die sich unterscheiden, eine gewisse Selbständigkeit aufweisen. Sie müssen eine betonte Identität besitzen; eine Identität, die die Vergleichbarkeit der Regionen reduziert und es damit leichter macht, Ungleichheiten zu akzeptieren. Eine betonte Regionalisierung ist damit Voraussetzung für eine größere Ungleichheit unter den Ländern als Folge einer Neuordnung der Finanzverfassung, insbesondere des horizontalen Finanzausgleichs. (...)

Soll sich der innere Ausgleich zum wesentlichen Teil auf Länderebene vollziehen, stellt sich die Frage nach der Leistungskraft der Länder. Sie ist nicht ohne Diskussion über eine Neugliederung der Länder zu beantworten. Eine Neugliederung wird auf Dauer notwendig sein, wenn Deutschland auch in Zukunft ein wirklicher Bundesstaat bleiben soll - was im deutschen wie im europäischen Interesse liegt. Als ersten Schritt könnten wir im Zuge der Neuordnung des Finanzausgleichs Regionen bilden unter Aufrechterhaltung der Länder in denen ein regionaler Finanzausgleich erfolgt. Sie sollten sich um die urbanen Zentren gruppieren, soweit die bestehenden Länder nicht bereits ausreichend leistungsstark sind. Der bundesweite Finanzausgleich könnte sich dann auf den Ausgleich unter den Regionen beschränken. Der Bund wäre im übrigen für den europäischen Finanzausgleich zuständig.

Gleichheit oder Vergleichbarkeit der Lebensverhältnisse?

Die bisherigen Feststellungen führen uns erneut zu der Frage, was das Gebot unserer Verfassung, gleiche Lebensverhältnisse zu verwirklichen, für den Einigungsprozeß praktisch bedeutet. Daß es sich dabei nicht nur um die Sicherung des gleichen BSP pro Kopf der Bevölkerung handeln kann, ist eine nicht nur für den deutschen, sondern auch für den europäischen Einigungsprozeß wichtige Einsicht. Welches sind jedoch die Kriterien, die neben dem meßbaren BSP Berücksichtigung finden können? Wie lassen sie sich zum Zwecke der Vergleichbarkeit objektivieren? Zumal dann, wenn es sich um subjektive Befindlichkeiten handelt, deren Verschiedenheit in kulturellen oder sozialen Wertvorstellungen begründet ist. Offenbar sind solche Verschiedenheiten weder quantifizierbar noch mit bürokratischen Mitteln zu erfassen. Auch hier zeigt sich wieder: praktisch läßt sich das Problem nur lösen, wenn man in größeren regionalen Differenzen im Bruttosozialprodukt auch den Ausdruck unterschiedlicher soziokultureller Befindlichkeiten sieht und sie deshalb als gleichwertige Bedingungen akzeptiert. Welche Unterschiede im Sinne von regionalen Andersartigkeiten akzeptabel erscheinen, ist eine politische Frage. Sie ist wiederum um so einfacher zu entscheiden, je deutlicher die Regionen sich selbst tragen können, also auf Unterstützung von außen nicht angewiesen sind; je deutlicher die Regionen auch mit feststellbaren unterschiedlichen Vorstellungen von Lebensqualitäten übereinstimmen. (...)

Mit der Berücksichtigung immaterieller Kriterien bei der Bewertung der Vergleichbarkeit der Lebensverhältnisse würden wir zugleich zur Überwindung der "Ökonomisierung" der Lebensqualität beitragen, die in Westdeutschland in den zurückliegenden Jahren ständig zugenommen hat. Bei aller Freude am steigenden Lebensstandard wird diese "Ökonomisierung", das heißt die Konzentration auf im wesentlichen meßbare wirtschaftliche Fortschritte von den Menschen in den östlichen Bundesländern als ein Phänomen empfunden, mit dem sie sich nur schwer vertraut machen können. Seine "Rationalität", die westliche Politik vielfach als die Antwort auf "Sachzwänge" erscheinen läßt, wo es doch um Folgen politischer Entscheidungen geht, ist ihnen nur bedingt zugänglich.

Alternativkonzepte für Ostdeutschland

Neue Ziele vorgeben, die Begrenzungen der gegenwärtigen Situation im Osten Deutschlands akzeptieren, eigene Verfahren und Methoden entwickeln: das heißt in vieler Hinsicht, aus der Not eine Tugend machen. (...) Allerdings setzt dies voraus, daß uns im Rahmen der gemeinsamen Rechtsordnung der notwendige Handlungsspielraum gewährt wird. Die Rechtsordnung, die jetzt für alle Deutschen gilt, darf nicht dazu mißbraucht werden, in Westdeutschland entstandene und mit Blick auf den westdeutschen Wohlstand tragbare Besitzstände vor Verändeung oder "Bedrohung" durch Alternativen zu schützen. Ein Beispiel ist die Organisation der Hochschulen in Deutschland. Sie wird entscheidend durch das Hochschulrahmengesetz bestimmt. (...)

Regionalisierungen werden auch im Bereich der Tarifpolitik notwendig werden.

Obwohl Tarifverträge nach weit verbreiteter Praxis auf Länder- oder Tarifbezirksebene abgeschlossen werden, hat sich eine weitgehende Zentralisierung der Tarifabschlüsse entwickelt. Die Vereinheitlichung wird auch mit dem Grundsatz "Gleicher Lohn für gleiche Arbeit" begründet. In den ostdeutschen Bundesländern ist dieser Grundsatz auf absehbare Zeit nur um den Preis hoher Arbeitslosigkeit zu verwirklichen. Ein solcher Preis ist nicht akzeptabel.

Andererseits besteht ein berechtigtes Interesse daran, die Einkommen der arbeitenden Bevölkerung anzunähern und so der Tatsache Rechnung zu tragen, daß sich in Deutschland für viele Tätigkeiten ein einheitlicher Arbeitsmarkt entwickelt hat oder entstehen wird. Eine stärkere Regionalisierung ist deshalb bei den Monats- oder Jahreseinkommen der Arbeitnehmer nur in Grenzen möglich.

Dagegen lassen sich größere Differenzierungen im Bereich der Arbeitszeit denken, in der das jeweilige Einkommen erarbeitet wird. Voraussetzung ist dafür, daß die Tarifparteien im Osten auch für Arbeiter Monats- oder Jahreseinkommen vereinbaren. Der Unterschied zwischen West- und Ostdeutschland, mit dem auch der unterschiedlichen Produktivität Rechnung getragen würde, bestünde dann weniger im Monatseinkommen als in der Zeit, in der es erarbeitet wird. (...)

Von den Unterschiedlichkeiten, die sich - jedenfalls auf Zeit als eine notwendige Folge des Einigungsprozesses ergeben, kann auch das Sozialsystem nicht ausgenommen werden. Hier kommt es vor allem auf die Möglichkeit an, das Verhältnis von Solidaritätsund Subsidiaritätsprinzip abweichend von westlicher Praxis zugunsten des letzteren zu verändern. (...) Regionale Verschiedenheiten kann das Sozialsystem nur berücksichtigen, wenn es darauf verzichtet, die Gesamtleistungen zentral zu regeln. Es muß statt dessen Möglichkeiten eröffnen, die es erlauben, regionalen Unterschiedlichkeiten zu entsprechen. In diesem Rahmen besteht dann die Möglichkeit, unterschiedliche Verhältnisse von kollektiver und subsidiärer privater Vorsorge festzulegen - je nach den sozialen und gesellschaftlichen Vorstellungen der Region. Zu den wichtigsten Aufgaben einer Reform gehört die Neugestaltung des Krankenhauswesens. (...)

Keine alles umfassende nationale Identität

Eine nationale Sehnsucht ohne die Substanz realer historischer Erfahrung ist nicht besonders belastbar. Im Falle der Deutschen kommt hinzu, daß die bisherigen Versuche ihrer nationalstaatlichen Verwirklichung beide Male zu nationalen Katastrophen geführt haben. Deshalb können wir kaum davon ausgehen, daß die erneute Möglichkeit, nationale Einheit zu verwirklichen, in der Bevölkerung besondere Kräfte freisetzen wird.

Zwar haben die Menschen die gewonnene Einheit freudig begrüßt - und niemand wird diese Freude geringschätzen wollen. Aber Gefühle dieser Art bieten für sich genommen keine stabile Grundlage für langfristige politische und wirtschaftliche Belastungen. Diese Grundlage muß vielmehr erst noch gelegt werden. Dies ist die wahrscheinlich schwierigste politische Aufgabe im Vollzug der deutschen Einheit. Mit ihrer Bewältigung haben wir kaum begonnen. (... )

Deutschland war immer ein Land der regionalen Vielfalt. Seine unterschiedlichen Strukturen lassen sich nicht unter eine alles umfassende nationale Identität zwingen. Zum einen wehren sich die Regionen gegen den Verlust ihrer eigenen Identität. Zum anderen fehlt es an der nationalstaatlichen Tradition Deutschlands. (...)

Voraussetzung für eine historisch und politisch verträgliche Einordnung Deutschlands in Europa ist deshalb einmal der Verzicht auf eine Nationalstaatlichkeit im Sinne Frankreichs oder Großbritanniens. Zum anderen müssen die deutschen Regionen Kontakt nach außen haben können. Sie müssen ihre Nachbarn unmittelbar erleben können. Die Regionen und ihre Nachbarn müssen sich in grenzüberschreitender Weise gegenseitig kulturell, wirtschaftlich und geistig befruchten können.

Damit "vernetzen" die Regionen zugleich Deutschland mit seinen Nachbarn und tragen so zur Stabilität der binnen-europäischen Strukturen bei. Jede Region muß deshalb, soweit sie zugleich Grenzregion ist, sowohl Binnen- wie Außenbindungen unterhalten können. Die Republik Deutschland als ein föderativer Bundesstaat besitzt dafür gute Voraussetzungen. Durch den Prozeß der politischen Einigung Europas werden sie zusätzlich gestärkt. Einmal wird ein erheblicher Teil der bisher national verwalteten Souveränitätsrechte auf das politische Europa übergehen. Zum anderen werden wichtige Regierungsfunktionen im Zuge der Dezentralisation an die Regionen zurückfallen. Sie werden zahlreiche Fragen selbst regeln können, die im Zuge zunehmender Zentralisation in Deutschland während der letzten Jahrzehnte von der Bundesregierung wahrgenommen wurden. Eine entsprechende Neuordnung der Zuständigkeitsverteilungen zwischen Bund und Ländern gehört zu den wichtigsten Aufgaben der anstehenden Verfassungsreform. Die Reformkommission des Bundesrates hat dafür bereits wertvolle Vorarbeiten geleistet. (...)

Viel wird dabei davon abhängen, wie sehr Westdeutschland auf die Westausrichtung festgelegt ist und wie weit es bereit sein wird, diese Orientierung zugunsten einer stärkeren gesamtdeutschen Ausrichtung zu verändern. Anpassungszwänge werden sich aus dem europäischen wie aus dem deutschen Einigungsprozeß ebenso ergeben wie zusätzliche Kosten und neue Herausforderungen. (...)

Nach 40 Jahren praktisch ungestörter Entwicklung der alten Bundesrepublik bietet uns die Einheit die Möglichkeit, das ganze Land in den Revolutionsprozeß einzubeziehen, den die Ostdeutschen in ihrem Teil Deutschlands mit der Überwindung des SED-Regimes ausgelöst haben und der in größerem Zusammenhang ganz Europa verändert hat. Diese Revolution - im Sinne tiefgreifender Veränderungen, vor allem unseres Denkens - muß ganz Deutschland erfassen. (...)

Aktuelle Ausgabe September 2025

In der September-Ausgabe plädiert Lea Ypi für eine Migrationsdebatte im Sinne der Aufklärungsphilosophie. Cinzia Sciuto fordert, der zunehmenden Aushöhlung des Völkerrechts mit einer entschiedenen Verteidigung desselben zu begegnen – und nicht mit Resignation und falschem Realismus. Für Georg Diez markieren die Kriegsverbrechen in Gaza und die fehlenden Reaktionen darauf einen Epochenbruch; sie stünden für nicht weniger als den Verrat des Westens an der Humanität. Herfried Münkler analysiert, wie Kriege historisch endeten und Friedenszeiten begannen und was das mit Blick auf den Ukrainekrieg bedeutet. Simone Schlindwein deckt auf, wie Russland junge Afrikanerinnen mit falschen Versprechen für die Kriegswirtschaft rekrutiert. Warum die grüne Digitalisierung ein Mythos ist und was der KI-Boom den Globalen Süden kostet, erläutern Ingo Dachwitz und Sven Hilbig. Und Eva-Maria Klinkisch sowie Markus Rieger-Ladich zeigen auf, wie Long Covid-Betroffene von der Gesellschaft und dem Gesundheitssystem systematisch ignoriert werden – und was dagegen zu tun ist. 

Zur Ausgabe Probeabo

Weitere Artikel zum Thema

Flucht vor der Verantwortung: Lieferkettengesetze am Ende?

von Merle Groneweg

Der 11. September erinnert nicht nur an den Einsturz des World Trade Centers in New York, sondern auch an eine der schwersten Katastrophen in der Textilindustrie: den Brand in der Fabrik Ali Enterprises in Karatschi, Pakistan.

Ohne EU-Mindestlohn kein soziales Europa

von Roland Erne

Nach Jahren antisozialer Politik infolge der Finanzkrise von 2008 standen soziale Fragen in der vergangenen Legislatur der EU wieder weiter oben auf der Agenda. Zwischen 2022 und 2024 verabschiedeten das EU-Parlament und der Rat seit langem wieder mehrere soziale EU-Gesetze, darunter die Richtlinie über „angemessene Mindestlöhne in der Europäischen Union“.

Drei Millionen ohne Abschluss: Was tun?

von Maike Rademaker

Die Zahl war lediglich einen Tag lang einige Schlagzeilen wert: Rund 2,9 Millionen junge Menschen zwischen 20 und 34 Jahren hierzulande haben keinen Berufsabschluss. Maike Rademaker analysiert Gründe und Lösungsansätze.