Ausgabe Januar 1993

Lebenslänglich für Honecker

Es gibt Strafprozesse, die gelten als "spannend". Dies ist zum Beispiel der Fall, wenn man nicht weiß, ob die Angeklagten den Mord, der ihnen zur Last gelegt wird, wirklich begangen haben. Denken Sie an die Affäre Vera Brühne. Ein andermal - Fall Weimar - mußte das Gericht in freier Beweiswürdigung darüber entscheiden, ob eine Kindstötung vom Vater oder von der Mutter begangen wurde. Selbst wenn die Fakten eindeutig festgestellt sind, bleibt die rechtliche Einordnung oft strittig: Mord, Totschlag oder Notwehr? Gemessen an diesen Beispielen müßte der Prozeß gegen Erich Honecker und seine Genossen sehr langweilig sein. Die Tatsachenerhebung verspricht nichts Neues. Niemand stellt in Frage, daß Menschen beim Überschreiten der Grenze zwischen BRD und DDR zu Tode gekommen sind: durch Minen oder Schüsse. Erich Honecker streitet nicht ab, davon gewußt und als Vorsitzender des Nationalen Verteidigungsrates die politische Verantwortung dafür getragen zu haben. Die Beweise sind lückenlos, Leugnen findet gar nicht erst statt: somit könnte die Beweisaufnahme nur noch eine Formalie sein.

Auch die juristische Würdigung des Tatbestandes müßte, bliebe es beim bisherigen Recht, sehr langweilig ausfallen: ein Freispruch wäre nicht zu vermeiden.

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