Karlsruhe orakelte schon wieder, diesmal allerdings über mehr als einfache Menschenrechte wie z.B. das (nicht gewährte) Recht deutscher Frauen, frei über den eigenen Körper zu entscheiden. Nein, am 12. Oktober 1993 ging es um die in letzter Instanz des deutschen Rechtsstaats ausführlich begründeten Richtlinien für die Gestaltung der politischen Zukunft Europas. Das Theatralische an dem „Ja, aber"-Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Maastricht-Vertrag wurde neben allen ehrfurchtgebietenden Ritualen - erhabene Eminenzen in roten Roben auf erhöhter Bühne - dadurch verstärkt, daß es das letzte von mehreren nationalstaatlich bedingten Hindernissen beseitigte, die der Ratifizierung des Vertrags in den Weg gelegt worden waren; es gab zwei Referenden in Dänemark, eins in Frankreich und ein taktisch verschobenes parlamentarisches Verfahren in London. Das oberste deutsche Verfassungsgericht, Sinnbild der Gründlichkeit und oft von verfassungslosen Republikanern in Großbritannien mit Neid betrachtet, öffnet den Völkern der EG die letzte Pforte zur heiß ersehnten gemeinschaftlichen Zukunft.
In der September-Ausgabe plädiert Lea Ypi für eine Migrationsdebatte im Sinne der Aufklärungsphilosophie. Cinzia Sciuto fordert, der zunehmenden Aushöhlung des Völkerrechts mit einer entschiedenen Verteidigung desselben zu begegnen – und nicht mit Resignation und falschem Realismus. Für Georg Diez markieren die Kriegsverbrechen in Gaza und die fehlenden Reaktionen darauf einen Epochenbruch; sie stünden für nicht weniger als den Verrat des Westens an der Humanität. Herfried Münkler analysiert, wie Kriege historisch endeten und Friedenszeiten begannen und was das mit Blick auf den Ukrainekrieg bedeutet. Simone Schlindwein deckt auf, wie Russland junge Afrikanerinnen mit falschen Versprechen für die Kriegswirtschaft rekrutiert. Warum die grüne Digitalisierung ein Mythos ist und was der KI-Boom den Globalen Süden kostet, erläutern Ingo Dachwitz und Sven Hilbig. Und Eva-Maria Klinkisch sowie Markus Rieger-Ladich zeigen auf, wie Long Covid-Betroffene von der Gesellschaft und dem Gesundheitssystem systematisch ignoriert werden – und was dagegen zu tun ist.