Ausgabe April 1994

Arbeit teilen! Positionen des Tarifpolitischen Ausschusses des Deutschen Gewerkschaftsbundes vom 8. Februar 1994 (Wortlaut)

Der dramatische Anstieg der Massenarbeitslosigkeit erfordert neue und außergewöhnliche Anstrengungen aller beteiligten Kräfte: eine gesellschaftliche Initiative für mehr Beschäftigung. Mit rasch wirksamen, auch unkonventionellen Maßnahmen müssen Arbeitsplätze gesichert und geschaffen werden. Die Verkürzung der Arbeitszeit in verschiedenen Formen spielt dabei eine wesentliche Rolle. Die neue Welle steigender Arbeitslosigkeit ist weitgehend Folge einer internationalen Konjunkturkrise, die von der Nachfrageschwäche auf dem Weltmarkt hervorgerufen wird und alle wichtigen Industrieländer betrifft. Diese Konjunkturkrise verschärft vorhandene Strukturprobleme. Im Gegensatz zu manchen Behauptungen der Arbeitgeber und marktradikaler Politiker handelt es sich nicht um eine Kostenkrise des Standortes Deutschland.

Die hohe Arbeitsproduktivität verschafft der deutschen Industrie nach wie vor einen hervorragenden Platz bei den wettbewerbsrelevanten Lohnstückkosten. Die Arbeitgeber wälzen die krisenbedingten Einbußen nach zehn Jahren satter Steigerung ihrer Gewinne einseitig auf die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ab - durch Massenentlassungen und Reallohnsenkung. Sie nutzen die gewachsenen Ängste vor dem Arbeitsplatzverlust aus, um Tarifverträge auszuhöhlen und das Tarifvertragssystem zu schwächen. Die Politik der Bundesregierung verschärft die wirtschaftliche Krise durch Sozialabbau und Einschränkungen der Arbeitsmarktpolitik. Von ihrer lähmenden Tatenlosigkeit in der Wirtschaftspolitik versucht sie durch Vorwürfe an die Gewerkschaften abzulenken, statt der Krise durch eine wirksame Konjunkturpolitik zu begegnen.

Die Verlängerung der Arbeitszeit für Beamte in einigen Bundesländern ist ein nicht hinnehmbarer Schlag gegen alle Bemühungen um die nachweislich mögliche Sicherung und Schaffung von Arbeitsplätzen durch Arbeitszeitverkürzung. Es ist höchste Zeit, das Ruder herumzuwerfen, die wirtschaftlichsoziale Krisenspirale durch eine gesellschaftliche Beschäftigungsinitiative zu beenden. Dringend notwendig sind nachhaltige Maßnahmen zur Belebung der Konjunktur, zur Steigerung der Investitionen und zur gerechteren Verteilung der vorhandenen Arbeit. Dazu ist in erster Linie eine beschäftigungspolitische Kehrtwende der Bundesregierung erforderlich: Nachfragebelebung, Investitionsförderung und Beschäftigungsprogramme sind der notwendige Beitrag des Staates. Die Gewerkschaften leisten ihren Beitrag, indem sie sich für den Erhalt der Massenkaufkraft, für Arbeitszeitverkürzungen und andere beschäftigungswirksame Maßnahmen der Tarifparteien einsetzen. Der Beitrag der Tarifparteien: Beschäftigungswirksame Arbeitszeitpolitik.

Unser Vorschlag, unsere Forderungen, unser Angebot

In Anbetracht der alarmierend hohen Arbeitslosigkeit und der durch die Wirtschaftskrise bedrohten Arbeitsplätze erklären die Gewerkschaften des DGB die Sicherung und Schaffung von Beschäftigung zum vorrangigen Ziel der kommenden Tarifrunden! Lohnverzicht wäre der sicherste Weg für eine Beschleunigung der konjunkturellen Abwärtsspirale. Deshalb müssen Nachfrage und Beschäftigung auch durch stabile und steigende Arbeitnehmereinkommen gesichert werden. Zur Beschäftigungssicherung fordern die Gewerkschaften Vereinbarungen zur Verkürzung der Arbeitszeit und äußerste Anstrengungen zur Vermeidung betriebsbedingter Entlassungen. Der DGB und die Gewerkschaften rufen die Arbeitgeber dazu auf, sich an einer gemeinsamen gesellschaftlichen Initiative für mehr Beschäftigung zu beteiligen. Die Gewerkschaften sind ihrerseits bereit, nachweislich kostenwirksame beschäftigungspolitische Maßnahmen lohnpolitisch zu berücksichtigen. Je nach der konkreten Situation des Tarifbereiches kommen verschiedene Formen allgemeiner, betriebsbezogener, gruppenspezifischer und individueller Verkürzung der Arbeitszeit in Frage. Regelungen zur flexiblen Arbeitszeitgestaltung müssen gewährleisten, daß die Zeitbedürfnisse der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer vorrangig berücksichtigt werden.

1. Beschleunigte Einführung der 35-Stunden-Woche

Dabei soll auch das Vorziehen von bereits vereinbarten Stufen bzw. die vorfristige Vereinbarung möglichst großer Stufen der Arbeitszeitverkürzung auf 35 Stunden pro Woche angestrebt werden. Durch ihren Einsatz für tarifvertragliche Arbeitszeitverkürzungen haben die Gewerkschaften bereits Mitte der 80er Jahre mit einer Umverteilung der gesellschaftlichen Arbeitszeiten begonnen. Dadurch haben bis heute rund 700 000 Frauen und Männer einen Arbeitsplatz bekommen. Mit einer weiteren Verkürzung der Wochenarbeitszeit auf 35 Stunden in allen Wirtschaftsbereichen könnten rund 1,5 Mio. Beschäftigungsverhältnisse erhalten bzw. neu geschaffen werden.

2. Außerordentliche Arbeitszeitverkürzung für Unternehmen in besonderen Krisensituationen, verbunden mit einer Beschäftigungsgarantie

Durch außerordentliche Verkürzungen der Arbeitszeit in einzelnen Unternehmen und Betrieben auf 32, 30 Stunden oder weniger kann die gegenwärtige Entlassungswelle gebremst und könnten hunderttausende Beschäftigungsverhältnisse gerettet werden. Bekannte Beispiele für derartige außerordentliche Maßnahmen sind die befristete Einführung der 4-Tage-Woche bei VW sowie die vergleichbare Einführung von 30 zusätzlichen Freischichten im Steinkohlebergbau. Zweifellos sind diese zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern vereinbarten Maßnahmen situationsspezifisch und können nicht oder nicht umstandslos auf andere Unternehmen und Branchen übertragen werden. Mit dieser Vereinbarung wurde auch von Arbeitgeberseite anerkannt, daß durch die Verkürzung der Arbeitszeit (und nicht etwa durch ihre Verlängerung) Arbeitsplätze gesichert werden können. Zugleich wird damit gesellschaftspolitisch signalisiert, daß das gemeinsame Ziel der DGB-Gewerkschaften- die 35Stunden-Woche für alle Beschäftigten - zwar eine wichtige Etappe, aber sicher nicht der Endpunkt aller Arbeitszeitpolitik sein wird.

3. Freizeitausgleich statt Geldzuschläge

Schichtarbeit und Nachtarbeit sowie Arbeit am Wochenende gelten zu Recht als gesundheitliche Belastung bzw. soziale Beeinträchtigung. Die Einführung von Schichtfreizeiten und Kurzpausen hat in der Vergangenheit zu deutlichen Beschäftigungseffekten geführt. Für Nachtarbeit und Sonntagsarbeit werden heute in der Regel Geldzuschläge gezahlt, die rein rechnerisch der Bezahlung eines Arbeitsvolumens von 700000 Beschäftigten entsprechen. Die Umwandlung von Geldzuschlägen in Freizeit kann also ebenfalls beschäftigungspolitisch genutzt werden. Positive Beschäftigungswirkungen können auch durch den Abbau der Überstunden erzielt werden. Zur Zeit werden übers Jahr durchschnittlich 57 Überstunden je Beschäftigten in Westdeutschland und 43 in Ostdeutschland geleistet. Eine Halbierung dieser Mehrarbeit entspricht rechnerisch einem Arbeitsvolumen von 500000 Beschäftigten.

4. Individuelle Verkürzung und Gestaltung der Arbeitszeiten

Die Ausweitung von Teilzeitarbeit hat in Westdeutschland zwischen 1983 und 1992 zu etwa 300000 neuen Beschäftigungsverhältnissen geführt. Die Möglichkeiten der Teilzeitarbeit und anderer Formen individuell reduzierter Arbeitszeit, zum Beispiel Blockfreizeiten oder befristete Freistellungen (sogenannte Sabbaticals), sind bei weitem nicht ausgeschöpft. Die Tarifparteien sollen dazu beitragen, die Rahmenbedingungen für individuell verkürzte Arbeitszeiten zu verbessern, so daß diese für eine größere Zahl von Interessenten attraktiv wird. Dazu gehört das grundsätzliche Recht für alle Beschäftigten, die Arbeitszeit auf eigenen Wunsch durch Teilzeitbeschäftigung oder befristete Freistellung zu reduzieren; die Rückkehrmöglichkeit zur Vollbeschäftigung sowie eine ergänzende staatliche Förderung der Teilzeitarbeit würde es den daran interessierten Beschäftigten erleichtern, die individuelle Arbeitszeitverkürzung (mit entsprechender Minderung des Bruttoentgeltes) in Anspruch zu nehmen.

5. Gleitender Ruhestand

Es liegt im Interesse aller Beschäftigten, Dauer und Lage der Arbeitszeit an die jeweiligen Lebensverhältnisse anpassen zu können. Im besonderen Maße gilt dies für ältere Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Angebote zur Altersteilzeitarbeit bzw. Altersfreizeit sind geeignet, einerseits die Arbeitsbelastung zu verringern, andererseits die weitere Teilnahme am Erwerbsleben zu ermöglichen. Zur flexiblen Regelung eines gleitenden Ruhestandes gehört außerdem die Möglichkeit, in selbstbestimmter Weise vorzeitig aus dem Erwerbsleben ausscheiden zu können, etwa durch neue Vorruhestandsregelungen. Tarifvertragliche Regelungen sind durch geeignete Leistungen der staatlichen Sozialpolitik zu unterstützen.

6. Weitere tarifvertragliche Maßnahmen zur Beschäftigungssicherung

Ergänzend zu den Arbeitszeitverkürzungen verschiedener Art sind weitere Maßnahmen der Beschäftigungssicherung erforderlich. Dazu gehören beispielsweise - Sicherung der Lebensperspektiven und Qualifikation junger Menschen durch Übernahme von Auszubildenden nach Abschluß der Ausbildung (mindestens für einen begrenzten Zeitraum), - Qualifizierungsmaßnahmen auch während Kurzarbeit (im Baugewerbe Schlechtwetterzeit) - Verpflichtung der Unternehmen zu Auffangmaßnahmen bei trotz allem nicht verhinderbaren betriebsbedingten Kündigungen, etwa durch externe Qualifikationsmaßnahmen mit Wiedereinstellungszusagen, Gründung bzw. Beteiligung an Beschäftigungsgesellschaften usw. Notwendiger Beitrag des Staates: Nachfragebelebung, Investitionsförderung Beschäftigungsprogramme

Arbeitszeitverkürzungen und andere beschäftigungssichernde Maßnahmen der Tarifparteien sind wichtige Beiträge im Kampf gegen die Massenarbeitslosigkeit. Sie können aber nicht die Lücke von sechs Millionen Arbeitsplätzen schließen, die Konjunktur ankurbeln und die Mängel der Wirtschafts- und Strukturpolitik ausgleichen. Überhaupt darf Tarifpolitik nicht zum Ausfallbürgen für staatliche Politikdefizite gemacht werden - sie kann diese Rolle auch gar nicht spielen. Wir fordern die Bundesregierung auf ihrer beschäftigungspolitisch Gesamtverantwortung für Ost- wie für Westdeutschland endlich gerecht zu werden! An die Stelle konjunkturbremsender Sparmaßnahmen auf Kosten der finanziell Schwachen muß ein Impulsprogramm zur Ankurbelung der Konjunktur treten. Durch eine Investitionszulage müssen Anstöße gegeben werden, damit möglichst viele Unternehmensinvestitionen in das laufende Jahr vorgezogen werden.

Eine konjunkturelle Initialzündung in 1994 ist Voraussetzung für eine dauerhafte wirtschaftliche Verbesserung. Nicht der Abbau, sondern ein Ausbau der staatlichen Beschäftigungspolitik ist das Gebot der Stunde! Von Bund, Ländern und Bundesanstalt für Arbeit erwarten wir eine arbeitsmarktpolitische Gemeinschaftsaktion. Die bewährten individuellen Überbrückungsmaßnahmen dürfen nicht der Ausblutung anheim gegeben, sondern müssen entsprechend dem Anwachsen der Arbeitslosigkeit verstärkt ausgebaut werden. Dazu gehören Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, Lohnkostenzuschüsse, Fortbildung und Schulung sowie Einarbeitungszuschüsse, Kurzarbeitergeld und die ursprünglichen Regelungen zum Schlechtwettergeld. Sowohl in Ostdeutschland wie in Westdeutschland müssen weitere Möglichkeiten öffentlich geförderter Beschäftigung in brachliegenden Feldern des privaten und öffentlichen Bereiches geschaffen werden. Dabei muß es sich grundsätzlich um zusätzliche Arbeiten handeln, die nicht dem Ersatz regulärer Beschäftigungsverhältnisse dienen. Mit der öffentlichen Förderung dieser Beschäftigung darf keine arbeits-, sozial- oder tarifrechtliche Diskriminierung eines "zweitklassigen" Arbeitsmarktes verbunden sein. Ausgehend von den regionalen Problemen vor Ort müssen Beschäftigungsprojekte für sonst nicht erfüllte sinnvolle und nützliche Aufgaben entwickelt werden. Als Beschäftigungsfelder bieten sich insbesondere die wirtschaftsnahe Infrastruktur, Wohnumfeldverbesserungen, Innovationen im Entsorgungs- und Energiebereich, soziale Dienste und ökologische Sanierungsaufgaben an.

Darüber hinaus fordern wir von der staatlichen Gesetzgebung und Politik die Flankierung der beschäftigungswirksamen Tarifpolitik, beispielsweise durch die Förderung von freiwilliger Teilzeitarbeit und die gesetzliche Begrenzung von Überstunden!

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